Im Gespräch über die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses

»Wir haben in Abgründe geschaut«

Fast gleichzeitig mit dem Prozessauftakt gegen Beate Zschäpe beginnt der NSU-­Untersuchungsausschuss mit der Arbeit an seinem Abschlussbericht. Petra Pau ist Vizepräsidentin des Bundestags und Obfrau der »Linken« im Untersuchungsausschuss.

Der NSU-Untersuchungsausschuss wurde vor knapp 15 Monaten eingerichtet, wird schon am Abschlussbericht gearbeitet?
Nein, aber die Obleute der Fraktion werden noch im April in Klausur gehen und dort die letzte Etappe des Ausschusses planen, denn wir müssen bis zum Sommer fertig werden. Am 3. September wird es dann im Bundestag eine Plenardebatte über den Abschlussbericht geben.
Ist der Aufklärungsauftrag des Ausschusses in der knappen noch verbleibenden Zeit überhaupt zu erfüllen?
Wir wollen möglichst viel davon bis zum Sommer fertigbekommen. Allerdings sind seit Januar 2012 weitere Untersuchungsgegenstände hinzugekommen, die damals noch nicht absehbar waren. So sind beim Bundesamt für Verfassungsschutz, aber auch beim Bundesinnenministerium zum Teil bis vergangenen Sommer noch Akten vernichtet worden. Auch in einzelnen Bundesländern haben Aktenvernichtungen stattgefunden. Zudem gab es sowohl vom Bund als auch aus den Ländern eine sehr schleppende Belieferung mit Akten. Ein weiterer Punkt ist, dass es zwar in Thüringen, Sachsen und Bayern Untersuchungsausschüsse auf Landesebene gibt, nicht aber in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und in Baden-Württemberg, wo ebenfalls gemordet wurde, wo es Bombenanschläge gab und ganz offensichtlich ebenfalls ein Behördenversagen vorliegt. Wenn das in den jeweiligen Ländern untersucht würde, könnten wir uns im Bundestag auf die Bundesangelegenheiten konzentrieren und wären wahrscheinlich schon einen Riesenschritt weiter. Es kann deshalb sein, dass wir dem Bundestag empfehlen, bestimmte Bereiche auch in der nächsten Legislaturperiode weiter zu bearbeiten.
Wie schätzen Sie die Ergebnisse ein?
Zuerst muss man sich klarmachen, worum es überhaupt geht. Dass ein Trio über zehn Jahre lang unerkannt und unbehelligt mordend durchs Land ziehen konnte, dass die Sicherheitsbehörden vollständig versagt haben – das ist kaum im Fokus der Öffentlichkeit. Wie übrigens auch nicht das fortgesetzte Leid der Angehörigen der Opfer. Warum wurde das gesellschaftliche Problem des mörderischen Rechtsextremismus so lange unterschätzt und warum ist das bis heute so? Ein Wort, das in der Innenpolitik kaum eine Rolle spielt und das man meidet wie der Teufel das Weihwasser, ist in den Sprachschatz des Ausschusses eingegangen: das Wort Rassismus. Die polizeilichen Ermittlungen damals hatten rassistische Züge. Die Debatten über ein NPD-Verbot sind da jetzt eher eine Ersatzhandlung. Erstaunlich und für mich erfreulich ist, dass sich im Untersuchungsausschuss von CDU/CSU bis zur »Linken« tatsächlich alle dem Problem Rechtsextremismus und der Frage, warum er so tödlich unterschätzt wurde, zugewandt haben. Von daher denke ich, dass wir bei den Feststellungen darüber, was war, eng beieinander sind.
Aber auch bei der Einschätzung, dass von den Sicherheitsbehörden die Gefahren völlig unterschätzt wurden. Beispielsweise gab es immer wieder Bomben- und Waffenfunde bei Neonazis. Wir, auch die Kollegen von der CDU/CSU, haben die ranghohen Zeugen aus dem Bundeskriminalamt und den Verfassungsschutzämtern gefragt: Was haben Sie denn geglaubt, was diese Leute mit solchen großen Mengen an Sprengstoff und Waffen vorhaben? Die wollen doch damit nicht ihren Vorgarten umgraben. Darauf bekommen wir bis heute noch Antworten wie die von einem Staatsekretär im Bundesinnenministerium, der sagt: Die Leute sind halt waffenaffin. Es gab also schon damals in den entsprechenden Behördenberichten Angaben zu solchen Funden, und dennoch kam man dort zu der Schlussfolgerung: Es gibt keine rechtsterroristische Gefahr.
Sind Begriffe wie »Behördenversagen« und »Staatsversagen« überhaupt treffend? In linken Kreisen werden angesichts der dubiosen Rolle der Sicherheitsbehörden zum Teil regelrechte Verschwörungen vermutet, Stichworte: »tiefer Staat« und »Gladio«, also eine bewusste, außergesetzliche Zusammenarbeit von Behörden und Neonazis.
Natürlich muss man historische Fakten berücksichtigen – »Gladio« etwa hat es gegeben. Wir haben aber im Moment keine Belege, dass so etwas wie ein »tiefer Staat«, wie man ihn von früher aus der Türkei kennt, hinter dem NSU stand. Aber jede verschwundene oder verzögert vorgelegte Akte, jede Zeugenaussage, die Widersprüche hervorruft, nährt natürlich Verschwörungstheorien. Eines steht fest: Der Staat, in Gestalt des Verfassungsschutzes, aber auch der anderen Nachrichtendienste, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in Kumpanei mit schlimmsten rechtsextremen Mördern geübt. Insofern müssen wir, wenn wir über Versagen sprechen, auch über die Strukturen reden. Aus Sicht der »Linken« ist der Verfassungsschutz als Nachrichtendienst vollständig abzulösen. Der erste Schritt dahin wäre die Abschaffung des V-Mann-Wesens. Es ist bisher nicht geklärt, inwieweit Behörden versucht haben, einen aus dem Trio als V-Person anzuwerben. Zumindest wurde deutlich, dass es ein sehr enges Netzwerk um den NSU gab und darin mehr als nur eine Handvoll V-Leute des Staates unterwegs waren. Es stellt sich natürlich auch die Frage, inwieweit die überhaupt brauchbare Informationen geliefert haben oder nicht eher umgekehrt mit dem Staat gespielt haben.
Im Ausschuss haben Sie von Nachrichtendienstlern zu hören bekommen, Quellenschutz gehe vor Strafverfolgung.
Das ist nicht bloß ein Irrtum bei der Auslegung des Gesetzes, sondern da haben sich die Nachrichtendienste vollständig verselbständigt und agieren außerhalb von Recht und Gesetz. Auch für Nachrichtendienste gilt das Legalitätsprinzip, das heißt, wenn sie von schweren Straftaten oder deren Vorbereitung erfahren, haben sie die Pflicht, das geeignet anzuzeigen. Das ist nicht geschehen. Mit dem Grundsatz »Quellenschutz geht vor Strafverfolgung« wird der Rechtsstaat ad absurdum geführt. Wir haben da bei den Anhörungen manchmal in Abgründe geschaut.
Welche politischen Schlüsse aus den Erkenntnissen des Ausschusses ziehen Sie?
Vorweg: Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hat sich bisher vor allem durch Aktionismus hervorgetan und nicht durch substantielle Arbeit. Erst hat er ein verfassungsrechtlich bedenkliches Zentrum gegen Rechtsextremismus gegründet, aber inzwischen wandelt er dieses ja schon wieder um in ein Zentrum gegen alle möglichen Extremismen. Das zeigt den Grundfehler der Bundesregierung: Wenn man keinen genauen Befund hat, kann man auch nicht die passenden Mittel entwickeln. Das gilt auch für die Prävention. Da sind wir dann bei dem nächsten Versagen, dem von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder. Von ihr hat man seit dem NSU-Desaster eigentlich nur gehört, sie sei für Prävention zuständig und nicht für Strafverfolgung. Die Prävention verwandelt sie allerdings in eine Veranstaltung des vormundschaftlichen Staates – Stichwort »Extremismusklausel«. Derzeit verhindert sie die finanzielle Absicherung zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich für Demokratie und Bürgerrechte und gegen Rechtsextremismus und Rassismus einsetzen. Dort wird jetzt den Mitarbeitern gekündigt, weil die Initiativen nicht wissen, ob sie 2014 noch Geld für ihre Arbeit bekommen. Was nun die politischen Schlussfolgerungen angeht: Ich gehe davon aus, dass der Vorschlag meiner Partei, den Verfassungsschutz als Nachrichtendienst abzulösen, sich nicht durchsetzen lässt. Trotzdem bleibt es eine Illusion, zu glauben, dass man Nachrichtendienste parlamentarisch kontrollieren kann. Das liegt in der Logik des Geheimen solcher Dienste. Ich halte es allerdings nicht für ausgeschlossen, dass wir beim Thema Förderung von zivilgesellschaftlichen Projekten, beispielsweise Opferberatungsstellen, im Ausschuss zu gemeinsamen Empfehlungen kommen werden. Etwa in Form einer Stiftung mit einem klaren Auftrag – das heißt, weg von den politischen Konjunkturen, von den wechselnden Ministerinnen und Ministern, weg von der Projekteritis, hin zu einer dauerhaften Finanzierung solcher Einrichtungen.
Am 17. April beginnt der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte, schon bei der Vorbereitung gab es diverse Merkwürdigkeiten. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Ich halte es für höchst ungeschickt und unsensibel und auch für eine Belastung des Verfahrens, den Prozess so vorzubereiten, wie es das Münchner Oberlandesgericht getan hat. Das beginnt bei der Auswahl des Saales und den baulichen Gegebenheiten und endet bei der Akkreditierungspraxis für die Medien und den Einschränkungen für die Nebenkläger. Man hätte wissen können, wie viele Nebenkläger es gibt und dass der Prozess national wie international auf ein großes mediales Interesse stößt. Ein weiteres Problem, nämlich dass das Gericht den NSU für aufgelöst erklärt hat, ist bereits beim Generalbundesanwalt entstanden, der die Anklageschrift für den Prozess erstellt hat. Dabei standen Generalbundesanwalt und Polizeibehörden unter hohem zeitlichen Druck. Ich gehe davon aus, dass es noch weitere Anklagen geben wird. Generalbundesanwalt und BKA haben dem Ausschuss mitgeteilt, dass sie noch zwei Jahre für weitere Ermittlungen veranschlagen. Jedenfalls frage ich mich, wie man sich sicher sein kann, dass nicht noch weitere Neonazis im Untergrund schwerste Straftaten vorbereiten oder auch schon begangen haben. Jüngsten Zahlen zufolge soll ja nach bis zu 200 Neonazis gefahndet werden, die derzeit nicht auffindbar sind – zumindest nicht von der Polizei.
Trotz der relativ eng umrissenen Aufgabe des Gerichts – hegen Sie die Hoffnung, dass im Zuge des Prozesses wichtige neue Erkenntnisse zum NSU-Komplex ans Licht kommen?
Ich schaue gespannt nach München. Immerhin hat sich Beate Zschäpe damals mit der Ankündigung gestellt, sie wolle reden. Bislang hat sie nicht geredet. Es kann ja sein, dass sie oder andere Beschuldigte das im Prozess tun und damit neue Ermittlungen nötig und möglich machen.