Vorermittlungen gegen ehemalige Auschwitz-Aufseher

Ermitteln bis zum Tod

Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen hat Vorermittlungen gegen 50 ehemalige Aufseher des Vernichtungslagers Auschwitz eingeleitet. Das bedeutet jedoch nicht, dass es tatsächlich zu Anklageerhebungen und Prozessen kommt.

Eine Behörde ärgert sich. Auf der Internetseite der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen prangt eine Pressemitteilung. Nicht zu der aufsehenerregenden Liste von 50 ehemaligen Wachleuten des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und den geplanten Vorermittlungen, sondern zu diesem Satz, der in der zwölften Sendeminute der »Tagesthemen« vom 31. Januar fiel: »Die meisten Verantwortlichen der Nazi-Verbrechen sind inzwischen verstorben. Selbst die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen glaubt nicht mehr daran, dass noch Täter vor Gericht gebracht werden können.« Das sei »unzutreffend«, schreibt der leitende Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm erbost, seine Mitarbeiter und er selbst glaubten »sehr wohl an eine noch mögliche Verfolgung von NS-Tätern«.

Nun hat Schrimm angekündigt, Vorermittlungen gegen ehemalige Aufseher des Vernichtungslagers einzuleiten. Die Zentrale Stelle hat nach eigenen Angaben eine Liste sämtlicher Aufseher überprüft und festgestellt, wie viele von ihnen noch am Leben sind: genau 50. Alle dürften um die 90 Jahre alt sein, alle sollen in Deutschland leben. Namen und Adressen liegen der Zentralen Stelle vor. Der Vorwurf lautet auf Beihilfe zum Mord. Ob es tatsächlich noch einmal Prozesse gegen NS-Verbrecher geben wird, ist fraglich. Die Zentrale Stelle kann nicht selbst Anklage erheben, sie leitet nur Vorermittlungen und übergibt die Sache dann an die jeweils zuständige Staatsanwaltschaft – je nach Wohnsitz des mutmaßlichen Täters.
Zuvor soll geklärt werden, ob die auf der Liste verzeichneten Männer noch strafrechtlich verfolgt werden können. Wenn sie für ihre Taten bereits vor Gericht standen, können sie nicht mehr belangt werden. Außerdem prüft die Zentrale Stelle, wann die Aufseher jeweils in Auschwitz eingesetzt wurden, zu welcher Diensteinheit sie gehörten und wie viele Menschen in diesem Zeitraum dort ermordet wurden. »Natürlich könnten wir auch sofort an die Staatsanwaltschaften abgeben«, sagt Schrimm der Jungle World, »aber das machen wir normalerweise nicht, einfach, weil wir die größere Erfahrung mit Ermittlungen in diesem Gebiet haben«. 50 Verfahren bereiten der Zentralen Stelle, die über nicht einmal mehr 20 Mitarbeiter verfügt, jedenfalls einen hohen Arbeitsaufwand. Nach den Auschwitz-Prozessen in den späten sechziger Jahren waren einmal 121 Mitarbeiter beschäftigt. In drei bis vier Monaten könnten nun die ersten Verfahren abgegeben werden, schätzt Schrimm, in einem Jahr die letzten. Dann müssen die zuständigen Staatsanwaltschaften entscheiden, ob sie Anklage erheben.
Der letzte Fall, den die Zentrale Stelle erfolgreich vor Gericht brachte, war der des ukrainischen Hilfspolizisten John Demjanjuk. Das Landgericht München hatte ihn im Jahr 2011 wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28 060 Juden im Vernichtungslager Sobibór zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde nie rechtskräftig, Demjanjuk rief den Bundesgerichtshof an, starb jedoch, bevor es zu einer Entscheidung kam. Im juristischen Sinne gilt er als unschuldig. Dennoch erklärt Schrimm die neue Welle an Vorermittlungen vor allem mit dem Verfahren gegen Demjanjuk. Das Landgericht München stützte sich in seinem Urteil insbesondere auf einen Dienstausweis, der Demjanjuks Einsatz als »fremdvölkischer Hilfswilliger« in Sobibór belegte. Und anders als in bisherigen Verfahren bestand das Gericht nicht darauf, die Beteiligung an den Massenmorden im Einzelnen nachzuweisen. Jeder Aufseher habe sich an dem Vernichtungssystem beteiligt, befanden die Richter. Allein die Tatsache, dass Demjanjuk als Aufseher in Sobibór eingesetzt worden war, genügte für eine Verurteilung. Und auch wenn es nie zu einer höchstrichterlichen Entscheidung kam, geht Schrimm davon aus, dass sich die Staatsanwaltschaften künftig auf diese Argumentation stützen können. Damit könnten auch einfache Aufseher verurteilt werden, wie diejenigen, die nun auf der Liste der Zentralen Stelle stehen – wenn sie nicht vorher sterben.

Die Ermittler aus Ludwigsburg wollen sich keine Untätigkeit vorwerfen lassen und hoffen, dass die Staatsanwaltschaften ebenso entschlossen sind. »Wir versuchen grundsätzlich, die Verfahren so zu bearbeiten, dass nach unserer Auffassung Anklage erhoben werden kann«, sagt Schrimm. Doch er hat auch Verständnis für mögliche Zweifel seiner Kollegen bei den zuständigen Staatsanwaltschaften: »Die Kollegen müssen die Anklage erheben, sie müssen ihre Unterschrift darunter setzen – wenn sie sagen, das reicht mir noch nicht, dann müssen sie eben weiter ermitteln.«
Und das tun sie auch. Die Staatsanwaltschaft Weiden in der Oberpfalz ermittelt seit einem dreiviertel Jahr gegen den Aufseher Johann Breyer. Er soll an der Rampe im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau eingesetzt worden sein, wo allein zwischen Mai und Juli 1944 mehr als 433 000 ungarische Juden ankamen, von denen mindestens 344 000 sofort in den Gaskammern ermordet wurden. Die Zentrale Stelle gab den Fall bereits Mitte 2012 weiter. Breyer ist 87 Jahre alt und lebt in den USA. Die US-Behörden täten nichts lieber, als Breyer auszuliefern, doch bislang liegt kein Auslieferungsersuchen vor. Der Berliner Zeitung zufolge suchte ein Vertreter des US-Justizministeriums im Dezember die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) auf, um auf ein schnelleres Vorgehen zu drängen – ohne Erfolg. Der Anwalt Thomas Walther, der mehrere Nebenkläger in dem Fall vertritt, hat bereits mehrfach öffentlich kritisiert, die Weidener Staatsanwälte bedienten sich einer Verzögerungstaktik. Ein ähnlicher Fall liegt der Staatsanwaltschaft München vor. Sie ermittelt bereits seit 2010 gegen den US-Bürger Iwan Kalymon, der 1942 als Hilfspolizist an Massenerschießungen bei der Räumung des Ghettos Lemberg teilgenommen haben soll. Die USA wären dazu bereit, den 91jährigen auszuliefern. Doch wie aus der Berliner Zeitung hervorgeht, ist die Münchener Staatsanwaltschaft immer noch damit beschäftigt, die Ergebnisse der Vorermittlungen zu prüfen. Doch selbst wenn es in den Fällen der 50 Aufseher zu Anklagen kommen sollte, wäre es noch ein langer Weg bis zu einem Urteil. So muss zunächst festgestellt werden, ob der Gesundheitszustand der Angeklagten einen Prozess zulässt, und die Gerichtsverfahren selbst ziehen sich häufig in die Länge. Schrimm weiß: »Die Chancen auf ein Urteil sinken in diesen Fällen nicht von Jahr zu Jahr, sondern von Monat zu Monat. Ich glaube nicht, dass noch viele dieser 50 Männer vor Gericht stehen werden, es werden wahrscheinlich sehr wenige sein.« Er schließe aber auch nicht aus, dass es noch zu Verurteilungen kommen wird.

Die Zentrale Stelle hat weitere Pläne. Die Ermittler durchsuchen Archive in Osteuropa, sie hoffen, auch für andere deutsche Vernichtungslager entsprechende Listen vorlegen zu können. Zudem werden die Akten von Einwanderern in Brasilien, Chile und Argentinien durchsucht, viele NS-Verbrecher sind dorthin geflüchtet. Wie lange die Zentrale Stelle noch Ermittlungen führen kann, ist offen. Solange noch Täter lebten, sei ihre Aufgabe jedenfalls nicht erledigt, sagt Schrimm: »Es gibt noch sehr, sehr viel zu tun.«