Die Präsidentschaftswahlen in Venezuela

Adiós chavismo

Nach dem knappen Ausgang der Präsidentschaftswahl ficht die Opposition das Ergebnis an, die Regierung reagiert auf ihren Stimmenverlust mit Repression und Diffamierungen.

Die »Bolivarische Revolution« hat sich gerade noch einmal ins Ziel gerettet. Hugo Chávez’ Protegé Nicolás Maduro wurde von der venezolanischen Wahlbehörde CNE in der Nacht des 14. April mit 50,66 Prozent der Stimmen zum Wahlsieger erklärt, der Oppositionskandidat Henrique Capriles unterlag mit 49,07 Prozent der Stimmen. »Irreversibel« sei das Ergebnis, so die Präsidentin des CNE, Tibisay Lucena. Die Stimmen der restlichen Präsidentschaftskandidaten wurden nicht bekanntgegeben, ebenso wenig die Zahl der ungültigen Stimmen, und auch die Aufschlüsselung der Resultate aus den 23 Bundesstaaten blieb die Wahlbehörde in der Wahlnacht schuldig, die Stimmen der im Ausland lebenden Venezola­nerinnen und Venezolaner, die zu 95 Prozent die Opposition unterstützen, wurden nicht mitgerechnet.
Das Oppositionsbündnis »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) verwies auf Unregelmäßigkeiten, sprach von einem »illegitimen« Sieg und erkennt das Resultat vorerst nicht an. Der CNE verweigerte die komplette Neuauszählung der Stimmen, tolerierte aber letztlich eine Überprüfung der Wahlmaschinen und Stimmzettel, um wenige Stunden nach der Bekanntgabe festzustellen, dass das Wahlergebnis nicht geändert werde, was auch immer die Auswertung der Wahldokumente ergebe. Unklar ist, was die Wahlbehörde zu untersuchen erlaubt. Die Opposition verlangte die Überprüfung der Wählerlisten, der Protokolle der Datenübertragung und der Papierbelege sowie einen Abgleich der Fingerabdrücke, um Mehrfachwähler entdecken zu können. Fest steht, dass internationale Wahlbeobachter in diesem Untersuchungsverfahren nicht zugelassen sind.

Capriles’ Wahlleitung »Comando Simón Bolívar« meint, dass fünf Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner ihre Stimme nicht »frei und geheim« hätten abgeben können. Die Vorwürfe reichen von illegaler »unterstützter Stimmabgabe«, der Verletzung der geheimen Abstimmung, über Bedrohung von Wählern und Wahlzeugen durch bewaffnete Gruppen bis hin zur mehrfachen Stimmabgabe mittels duplizierter Personalausweise.
Im kürzesten Wahlkampf der Geschichte des Landes hatte der von Chávez auserwählte Nachfolger auf Altbekanntes gesetzt: Beschimpfungen, Demütigungen und Drohgebärden. So bezeichnete Maduro seinen Konkurrenten Capriles, einen Nachkommen von Shoa-Überlebenden, als »Hitlers parasitären Erben«, als »Marico« (eine abwertende Bezeichnung für Homosexuelle) und als Agent des »Imperiums«, der USA. Der mexika­nische Historiker Enrique Krauze erkennt darin den »blanken Hass« von ideologischem Fanatismus und zeigt sich erstaunt, dass dieser noch nicht in politische Gewalt ausgeartet sei. Maduro imitierte nicht nur den Übervater, er verschärfte die Rhetorik des Hasses gegen Kritikerinnen und Kritiker der Regierung. Er bediente sich, wie zuvor Chávez, des gesamten Staatsapparats, einschließlich der Mittel der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA und der fast ausschließlich dem Chavismus dienenden staatlichen Medien für seinen Wahlkampf und die »Ausweitung der Revolution«.
Die privaten Medien unterstützten hingegen größtenteils die Opposition. Sie besteht aus über 20 Parteien und Bewegungen aus allen politischen Lagern, die nicht dem oficialismo der Regierung angehören. Selbst Gründungsmitglieder der »Bewegung der fünften Republik«, der einst von Chávez gegründeten Partei, sind wenige Tage vor der Wahl in die Opposition gewechselt: »Wir wollten Marx und Bolívar und bekamen Fidel, Che und weiss der Teufel was noch«. Es gibt »Chavistas für Capriles«, »Sozialisten für Capriles« und »Kommunisten für Capriles«, dessen Partei »Gerechtigkeit zuerst« selbst rechtskonservativ ist.
Capriles bemühte sich im Wahlkampf um versöhnliche Worte: »Wir alle sind Venezuela.« Er versprach, keinem öffentlich Bediensteten eine »politische Farbe« aufzuzwingen. Wer weiterhin in den roten T-Shirts der Revolution arbeiten wolle, werde dies tun können, ohne um den Arbeitsplatz bangen zu müssen. Auch für die Inanspruchnahme von Sozialleistungen müsse niemand mehr die Mitgliedschaft einer bestimmten Partei vorweisen.

Die Opposition versprach eine »nationale Aussöhnung«. Fast eine Million Wählerinnen und Wähler, die vergangenen Oktober noch für Chávez gestimmt hatten, wechselten die Seiten und gaben ihre Stimme nun der »vaterlandslosen Bourgeoisie«, wie Chávez seine Kontrahenten zu diffamieren pflegte. Viele haben genug von der Kriegsrhetorik. Sie leiden am Mangel an Sicherheit, Wohnraum, Strom und in den vergangenen Wochen auch Lebensmitteln. »Plünderungen wegen Mangels abgesagt«, wurde nach Bekanntgabe des Todes von Chávez über die sozialen Netzwerke verbreitet.
16 000 Morde wurden 2012 gezählt, 5 000 seit dem 9. Dezember 2012, als Maduro die Regierungsgeschäfte als stellvertretender Präsident für den kranken Chávez übernahm. Unter der katas­trophalen Sicherheitslage und der höchsten Mord­rate Südamerikas leiden vor allem die Einwohnerinnen und Einwohner der barrios, der ärmeren Viertel. »Neulich nachts haben sie vor meiner Haustüre sieben Menschen erschossen, wir müssen tagtäglich mit der Gewalt leben«, sagt Luis Jóse aus Petare, einem Vorort von Caracas. »Ich bin Chavista, aber diesmal ging ich nicht zur Wahl. So einen wie Chávez gibt es nicht noch einmal. Die anderen taugen alle nichts.«
»Wir haben gewonnen, ja, aber ich glaube, es war der erste Sieg mit einem bösen und authentischen Geschmack der Niederlage«, so die Reak­tion von überzeugten Chavistas, wenige Stunden nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses in Apporea, dem »Vordenkermedium« der Revolution. Auch Parlamentspräsident Diosdado Cabello gab sich in einer ersten Reaktion kleinlaut und wollte die Verluste analysieren. Cabello verbot dann aber Mitte vergangener Woche den Abgeordneten des MUD in der Parlamentssitzung das Wort, weil diese sich weigerten, Maduro als legitimen Präsidenten anzuerkennen. Julio Borges und William Dávila, Abgeordnete des Oppositionsbündnisses, waren zuvor am Dienstag vergangener Woche während einer Parlamentssitzung von Abgeordneten des Regierungsbündnisses angegriffen worden. »Sie schlugen mir ins Gesicht, und Dávila schlugen sie mit einem harten Gegenstand auf den Kopf, er verlor beinahe ein Auge bei diesem Angriff«, sagte Borges dem Sender Noticias 24 Radio. Er sieht in dem Gewaltexzess den Versuch der Regierung, die Wahlniederlage zu kaschieren. Parlamentspräsident Cabello forderte hingegen, Capriles und andere Anführer der Opposition wegen »Aufruhr und Anstiftung zur Gewalt« festnehmen zu lassen. Eine Abgeordnete des MUD, María Corina, kommentierte dies am Tag des Angriffs im Parlament: »Wenn sie Capriles verhaften, wird ein anderer von uns seine Stelle einnehmen. Die Regierung wird wohl anfangen müssen, Gefängnisse für Millionen von Venezolanern zu bauen, für all jene, die mit diesem Regime nicht einverstanden sind.«

Capriles mahnte seine Anhänger zu Ruhe und Vernunft. »Wer Gewalt ausübt, ist nicht mit mir und unserem Projekt des Fortschrittes«, sagte der Oppositionsführer. »Wir werden Venezuela und der Welt beweisen, dass wir die Wahl gewonnen haben.« Die Regierung behauptete am Montagabend nach der Wahl, dass bei Protesten der Opposition sieben Menschen gestorben seien. Am nächsten Tag waren es nur noch fünf, Capriles bestritt den Zusammenhang, aber es laufen Untersuchungen gegen ihn. Tatsache ist, dass auf der Abschlusswahlveranstaltung von Maduro, mitten in den Menschenmassen, fünf Personen umgebracht wurden, wie Fotos beweisen. Zu diesen Toten gab es keine Silbe des Bedauerns seitens der Regierung. Am Freitag vergangener Woche wurde über einen weiteren Todesfall berichtet, für den die Opposition verantwortlich gemacht wurde. Die Witwe des Ermordeten stellte jedoch in sozialen Netzwerken klar, dass ihr Mann schlicht von Dieben umgebracht worden war, weil er sein Auto nicht hergeben wollte.
Die für Mittwoch vergangener Woche angekündigten landesweiten Großdemonstrationen sagte Capriles ab, mit dem Hinweis, die Regierung habe geplant, Provokateure in Kundgebungen der Opposition zu platzieren, um einen Ausnahmezustand zu schaffen. Zuvor hatte Maduro angekündigt, eine Demonstration in Caracas außer für den Stadtteil Altamira zu verbieten. Capriles forderte seine Anhänger schließlich auf, vor ihrer Haustür mit cacerolazos zu protestieren, dem traditionsreichen Schlagen auf Kochtöpfe, was auch landesweit befolgt wurde.
Die staatlichen Fernseh- und Radiostationen berichten praktisch rund um die Uhr von Anschlägen und Brandstiftungen auf Gesundheitseinrichtungen des Staates durch die »faschistische Opposition«, die die »katastrophale Wahlniederlage« nicht wahrhaben wolle. An den vermeintlichen Tatorten fand sich jedoch nichts dergleichen. Dessen ungeachtet berichten die Sta­tionen weiter von angeblichen Übergriffen der »Vaterlandsverräter«.
Delsa Solórzano, die Koordinatorin der Menschenrechtskommission der MUD, kündigte an, Staatsangestellte zu unterstützen, die politisch verfolgt werden. Seit dem 15. April versuche die Regierung im Zuge der »Operation Sauberkeit« herauszufinden, ob Staatsangestellte für die Opposition gestimmt haben. Dies geschehe mittels der Überwachung von SMS, wie die Gewerkschaft der Telekommunikationsarbeiter Fetratel bestätigte. Diese verzweifelte Suche nach Abtrünnigen beweist zumindest, dass die Wahl tatsächlich geheim stattgefunden hat. Allein im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Zulia sollen seit Antritt der neuen Verwaltung bislang 9 200 Beschäftigte entlassen worden sein, behauptet Juan Pablo Guanipa, Vorsitzender der Oppositionspartei »Gerechtigkeit zuerst« in Zulia und Stadtverordneter. Manuel Cova, der Präsident der Konföderation der Arbeiter Venezuelas, sowie Kardinal Jorge Urosa Savino fordern von Präsident Maduro, die Meinung Andersdenkender zu respektieren und die politische Verfolgung sofort einzustellen.
»Ich habe für Maduro gestimmt, aber nicht weil ich ihn mag, sondern als Respektsbezeugung für den Comandante. Hätte ich gewusst, was für ein Desaster das wird, hätte ich Capriles gewählt. Ich will Ruhe und keinen Bürgerkrieg«, sagt Juanita, eine Straßenverkäuferin in Caracas. Hernán, ein Autoverkäufer, sieht auch Vorteile durch die gesellschaftliche Polarisierung. »Wir, die Oppo­sition, sind das erste Mal seit der Machtübernahme Chávez’ geeint, wir sind keine Minderheit mehr und haben einen starken Anführer«, sagt er. »Wenn Capriles sagt, bleibt zu Hause und verhaltet euch friedlich, halte ich mich daran. Wer aber glaubt, dass diese Diktatur mittels Wahlen zu besiegen sei, irrt sich gewaltig.«