Deutsche TV-Kommissare

Der Kommissar geht um

Auch ohne seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS wäre Horst Tappert für »Derrick« prädestiniert gewesen. Doch im Vergleich mit heutigen Sozpäd-Polizisten waren Stephan und Harry Verkörperungen der Vernunft. Eine Physiognomik deutscher TV-Ermittler.

Die Deutschen sind das Volk, das ohne Hausmeister nicht leben kann. Im Land der totalen Basisdemokratie kommt kein Wohnviertel ohne Kiezbeauftragten, keine WG ohne Putzplanwächter und kein Team ohne Supervisor aus. Die Hausmeisterherrschaft ist von anderer Qualität als die der Staatsbeamten oder Vorgesetzten, sie gründet weder in Sachautorität noch in formeller Hierarchie, sondern in der missgünstigen Kumpanei einer sich neidisch belauernden Nachbarschaft. Der Erste unter Gleichen, der dem Kollektiv einander verachtender Verächtlicher zeigt, wo es langgeht, zeichnet sich weder durch besondere Intelligenz noch durch hohe Anpassungsfähigkeit aus, sondern durch eine optimale Mischung aus Stumpfheit, Eigeninitiative und Gespür für die niedrigsten Instinkte der Mitinsassen. Das Recht, das er durchsetzt, ist stets das Recht der eigenen Gruppe, diejenigen, auf deren Kosten er ihm Geltung verschafft, sind immer Einzelne. Eine Instanz, die das Recht der Einzelnen gegen die Eigengruppe vertritt, duldet die von ihm zusammengehaltene Gemeinschaft nicht. Deshalb braucht sie im Grunde keine Exekutive: Die Reihenhaussiedlung sorgt ohne Polizeischutz für den Ausschluss von Schmutzfinken und Päderasten, und die linke Politgruppe muss sich auf nichts als das Beharrungsvermögen der eigenen Idiotie verlassen, um denkende Menschen von sich fernzuhalten.
Wohl wegen der organisch-basisdemokratischen Verfasstheit ihres Gemeinwesens, das Gewaltenteilung nur als Trick und Individualrechte nur als Anmaßungen kennt, unterhalten die Deutschen zur Gattung des Krimis ein feindseliges Verhältnis. Denn der Krimi ist in allen seinen Varianten ein Ergebnis der entfalteten, auch im Alltag durchgesetzten Gewaltenteilung. Die britische Detektivgeschichte, deren Form auch in den Vereinigten Staaten Tradition hat, erzählt von Privatleuten, die das Recht des Einzelnen gegenüber dem als problematisch erkannten Common Sense und den Primat der Logik gegenüber dem Vorurteil geltend machen. Der Polizeikrimi, eine vor allem amerikanische Gattung, schildert teils etatistisch, teils staatskritisch den Selbstwiderspruch der Exekutive, die ihre Aufgabe nur erfüllen kann, wenn sie verhindert, dass sie zu ihrem ihr selbst innewohnenden Gegenteil, zur Bande wird. Der Gerichtskrimi beschreibt, aus Sicht des Einzelnen oder der Staatsmacht, den Widerspruch zwischen Judikative und Exekutive beim Verfolgen ihres formell identischen Ziels. Der Psychothriller schließlich, bereits eine Zerfallsform des Krimis, demonstriert, wie die falsche Gesellschaft das an sich selbst verzweifelnde Individuum als ihr Anderes und zugleich Entsprechendes hervorbringt.
Alle diese Genres sind jedoch auf ein Prinzip verpflichtet, das der deutschen Bevölkerung so verdächtig wie einst die alliierte Besatzungsmacht ist: immanente Logik und, als deren ästhetisches Komplement, erzählerische Konsequenz. Diese vertritt gegenüber der Verkehrtheit der Verhältnisse das richtige Allgemeine. Die hierzulande gern beklagte Realitätsfremdheit des britischen Detektivromans weist negativ auf die Irrationalität der Wirklichkeit hin, die ausgeblendet werden muss, um der Logik zum Recht zu verhelfen; wo im Whodunit das Räderwerk der Deduktionen nicht mehr funktioniert und die Realität in Form von Zufall oder Affekt einbricht, zerfällt seine ästhetische Form. Umgekehrt müssen aber auch Polizei- und Psychokrimi um den Preis ihrer Glaubwürdigkeit noch bei der drastischsten Darstellung von gesellschaftlichem und individuellem Wahn die Regeln erzählerischer Stringenz beachten. Daher gibt es keine Gattung der Trivialliteratur, die der autonomen Kunst näher wäre als der Krimi. Eben diese ästhetische Autonomie zugunsten praktischer Ethik zu exorzieren, das Recht durchs Ressentiment und die Logik durch den gesunden Menschenverstand zu ersetzen, ist von Beginn an das Projekt des deutschen Krimis, dessen einziges Ziel darin besteht, die Form, in die er schlüpft, restlos zu korrumpieren.
Der deutsche Fernsehkrimi, der das Genre hierzulande erst massentauglich gemacht hat, kennt kaum Detektive und fast nur Polizisten. Doch selbst die sind keine Staatsbeamten, deren private Interessen und individuelle Regungen mit ihrem Beruf in Widerspruch treten können, sondern Hausmeister im Zivilstaatsdienst. Ihr Beruf ist ihre Berufung, ihre Identifikation mit ihrer gesellschaftlichen Rolle ist ebenso freiwillig wie total. Dass der bekannteste deutsche Fernsehermittler, der 1974 die Bühne betretende Stephan Derrick, mit Horst Tappert von jemandem verkörpert wurde, der, wie nun herauskam, einst im »Totenkopf«-Regiment der Waffen-SS gedient hat, sollte daher auch Genre­abstinente nicht überraschen. Vielmehr gleicht Tapperts Biographie der vieler damaliger Krimikollegen: Joachim Fuchsberger, der söhnchenhafte Inspektor deutscher Edgar-Wallace-Verschnitte, war Mitglied der Hitlerjugend; Markenzeichen von Alfred Vohrer, dem Regisseur von gefühlten 100 Wallace-Filmen, »Derrick«- und »Der Alte«-Folgen, war seine kriegseinsatzbedingte Einarmigkeit; Herbert Reinecker, ohne dessen Drehbuchausstoß der deutsche Fernsehkrimi nicht hätte entstehen können, verdiente sich seine Sporen als Redakteur der NS-Zeitschriften Unsere Fahne und Jungvolk, arbeitete als Kriegsberichterstatter für die Waffen-SS und als Hauptschriftleiter der HJ-Zeitschriften Der Pimpf und Junge Welt. Für den 1944 entstandenen Propagandastreifen »Junge Adler«, einen der spätesten NS-Filme, schrieb er das Drehbuch, Regie führte Alfred Weidenmann, unter dessen Leitung später ebenfalls Dutzende Episoden von »Der Kommissar«, »Derrick« und »Der Alte« entstanden. Die Dreharbeiten deutscher TV-Krimis müssen bis in die achtziger Jahre einem einzigen HJ- und SS-Veteranentreffen geähnelt haben.
Doch solche gern als postfaschistisch bezeichnete Kontinuität darf über die Wandlung nicht hinwegtäuschen, die das Genre in den vergangenen 60 Jahren durchgemacht hat. Die frühesten deutschen Fernsehermittler waren »echte« Polizisten, die »reale« Fälle bearbeiteten. Experte für die Regie dieser pseudodokumentarischen Krimis war Jürgen Roland (ehemals als Jürgen Schellack Mitglied der Waffen-SS und der Wehrmacht), die inzwischen vergessene erste Serie dieser Art entstand ab 1953 und hieß »Der Polizeibericht meldet«. Beerbt wurde sie 1958 von der heute noch durch ihre effekthascherische Titelmelodie bekannten Serie »Stahlnetz«. Die Drehbücher vieler Folgen beider Formate schrieb der auf dokumentarische Krimis abonnierte Wolfgang Menge, der als Kind jüdischer Eltern, dessen Angehörige von den Nazis ermordet worden waren, eine Ausnahme im deutschen Fernsehkrimi war. Seine Kooperation mit Roland kann als frühes Beispiel authentischer deutsch-jüdischer Versöhnungsarbeit gelten. Die frühen Serien ähneln in ihrem Anspruch, das »Volk« über Kriminalität aufzuklären, der 1968 ins Leben gerufenen Zivilgesellschaftshetzjagd »Aktenzeichen XY … ungelöst«, die der als »Ganoven-Ede« populär gewordene Eduard Zimmermann moderierte. Als Bürger, Detektiv und Vertreter der vierten Gewalt in Personalunion verkörperte er den organischen Gesamtordnungshüter, dessen Nachrichten aus dem Sumpf von Unsittlichkeit und Gewalt die Bevölkerung schaudernd herbeisehnte. Zimmermann selbst ist übrigens weit interessanter als die von ihm dargestellte Figur des Sparkassenblockwarts. Nach einer Kindheit in Armut jobbte er nach dem Krieg als Zeltarbeiter im Zirkus Hagenbeck, danach wurde er Dieb und Schwarzmarkthändler. Nachdem er eine Haftstrafe in einer Jugendvollzugsanstalt verbüßt hatte, ging er mit gefälschten Papieren und Diplomen nach Schweden, wo er sich eine Hochstaplerexistenz als Ingenieur aufbaute. Dann kehrte er nach Deutschland zurück, wurde Anfang der Fünfziger wegen Verdachts der Spionage festgenommen und erneut inhaftiert. Als lebenden Beweis dafür, »dass man von der schiefen Bahn wieder runterkommt«, empfahl er sich später auf dem Höhepunkt der Studentenproteste dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen als seriöser Voll­kasko-Schupo. Der Anschein des Schmierenkomödianten und die unfreiwillige Komik, die seinen steifen Auftritten ebenso wie ein halbes Jahrzehnt später der Rolle Tapperts als Derrick und dann Siegfried Lowitz’ als Hauptkommissar Köster anhaften, hatten in diesem Fall also einen realgeschichtlichen Gehalt.
Dass der Erste, dem es gelang, die Fernsehbürger zu ehrenamtlichen Ermittlern in der als Räuberpistole zu sich selbst kommenden Wirklichkeit zu machen, ein resozialisierter Krimineller war, ist symptomatisch für den deutschen Fernsehkrimi insgesamt. Dessen Kommissare und Inspektoren, in deren Titeln nicht von ungefähr das bürgernahe Gebell des Kasernenhofs nachklingt, waren Verbrechern meist ähnlicher als ihre Gegner. Erik Ode, der in der ersten rein fiktionalen Krimiserie, »Der Kommissar«, ab 1968 den Kommissar Keller gab, glich mit seinem bürokratenhaften Gebaren und seinem sachlich-brutalen Kommandoton noch zu sehr den gesichtslosen Vollzugsbeamten der frühen pseudodokumentarischen Serien, um nachhaltigen Erfolg zu haben. Zwar konfrontierte man ihn mit Hippie-Mädchen, Haschrebellen, Vagabunden und anderem Gesocks, die er als exekutiver Onkel auf den rechten Weg führen sollte, doch er war zu barsch, um sich in die Herzen des Publikums zu schmeicheln.
Dieses hatte bei Mama und Papa gelernt, dass die Nazis eiskalte Bürokraten waren, und fühlte sich bei den Büroschergen, die in »Der Kommissar« mit Handschellen und Karteikarten drohten, ungut an das erinnert, was es für die eigene Vergangenheit hielt. Stephan Derrick und der 1976 sein Debüt gebende Erwin Köster waren eher nach dem Geschmack eines Volkes, das bereits damals glaubte, das Umerziehungsabitur erfolgreich absolviert zu haben. Kösters leitmotivisch gekeifter Erkennungssatz »Die lügen, Gerd, die lügen alle« erinnerte auf behagliche Weise an das senile Gekläff des eigenen Opas, doch ansonsten war der »Alte« zu seinem Sohnematz Gerd Heymann (bis zum Ergrauen gespielt vom Ex-Kinderstar Michael Ande) so langmütig, wie man es sich von den eigenen Alten eine Jugend lang vergeblich gewünscht hatte. Kösters eher gentleman- als großvaterhaftes Gegenstück war Derrick, der wie sein Kollege Harry Klein (Fritz Wepper) einen anglophonen Namen hatte und Trenchcoat trug wie ein auf Bogart gebürsteter Lübke. In Derricks verständnisbesoffenen Triefaugen, seiner komatösen Einsilbigkeit und der erholsam plotfreien Handlung erkannten die Deutschen jene Mischung aus Stumpfsinn, Stagnation und tiefem Gefühl, die sie seit jeher für Menschlichkeit halten.
Wo Köster mitunter wie ein mühsam zivilisierter Mafiaboss wirkte, war Derrick der erste Psycho-Coach des deutschen Fernsehkrimis, ein Sozialarbeiter fürs Münchener Großbürgertum. Seine Empathie kannte keinen Unterschied zwischen Mörder und Opfer, in sein weites Herz passten gefallene Mädchen ebenso wie Unternehmer mit Seelenknacks. Weil er wusste, dass wir alle keine Engel sind, machte er sich aber auch nicht, wie heutige »Tatort«- und »Polizei­ruf«-Ermittler, schamlos mit Rachelust und Ressentiment gemein, sondern erinnerte die Bürger stets daran, dass alle ein Recht auf Leben hätten, weil ja alle irgendwie Menschen seien.
Als das Pfaffenhafte an Derrick, seine unengagierte Drögheit und biedere Respektabilität, den Deutschen endgültig zu bürgerlich war, wurde er durch den Typus des zivilgesellschaftlichen Aktivisten abgelöst, der die Wahrheit in Eigeninitiative zurechtbiegt, als Polizist den Polizeiapparat bekämpft und das Recht beugt, um Gerechtigkeit durchzusetzen. Dessen erste Personifikation war 1981 der von Götz George gespielte »Tatort«-Kommissar Horst Schimanski, der als Anarchobulle wahrgenommen wurde, weil er mit Ganoven statt mit Kollegen kooperierte, Parka statt Zweireiher trug, prügelte, statt Protokoll zu führen, und damit die Teilung der Gewalten, die in »Derrick« und »Der Alte« den mühsamen Handlungsfluss zusätzlich gebremst hatte, ad acta legte. Eine andere Variante des gleichen Formats bot die ebenfalls 1981 begonnene Serie »Ein Fall für zwei«, in der ein Rechtsanwalt (zuerst: Günter Strack) als Hüter der bürgerlichen Fassade bei der Durchsetzung wahrer Gerechtigkeit mit einem halbkriminellen Detektivganoven (bis zuletzt: Claus Theo Gärtner) zusammenarbeitete. Die diversen »Tat­ort«-Kommissare seit den neunziger Jahren sind zumeist Spielarten dieses Typus, inzwischen vor allem in Form weiblicher Charaktermasken wie dem genderkorrekten Schimanski-Zwilling Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und der abscheulichen Sozialkundelehrerin Inga Lürsen (Sabine Postel), die in Bremen umgeht. Logik und erzählerische Konsistenz gehen in dieser neudeutschen Form des Fernsehkrimis aus anderen Gründen vor die Hunde als in »Derrick« und »Der Alte«. Dort führte die berechtigte Furcht, dass Handlungslogik und kriminalistische Spannung die organische Einheit von Verbrechen, Ordnung und gesundem Menschenverstand stören könnten, zu einer 60 Minuten auf Stunden dehnenden Ereignislosigkeit, die mitunter, etwa in den auf ihre Art grandiosen »Derrick«- und »Der Alte«-Episoden des in der Tschechoslowakei geborenen Experimentalfilmers Zbyněk Brynych, geradezu zen-buddhistische Dimensionen annahm, wenn, begleitet von zielsicher deplatzierter Popmusik, von Anfang bis Ende buchstäblich nichts geschah. Der neue deutsche TV-Krimi dagegen strotzt vor Action und Einsatzbereitschaft, alle rennen und brüllen ständig durcheinander, doch der unbedingte Wille zur gerechten Tathandlung besiegt stets die Vernunft, weil jeder Anklang erzählerischer Autonomie die Ethik, um deren blindwütige Exekution es alleine geht, bedrohen würde. Wenn ein solches Fernsehen, wie nun angekündigt, mit Tapperts SS-Uniform auch Derricks Trenchcoat im Giftschrank verschwinden lassen will, erscheinen die in dezentem Kotbeige gehaltenen Interieurs von »Derrick« und »Der Alte« als Widerhall einer längst vergangenen, aber besseren Zeit.