War auf dem Sónar-Festival in Barcelona

Das ultimative Offline-Erlebnis

Philipp Rhensius war auf dem Sónar-Festival in Barcelona.

Auf der Leinwand erscheinen in Großaufnahme die Hände des DJ, die über den Mixer gleiten. Auf der Tanzfläche bewegt sich das selbstvergessene Publikum synchron zum Techno-Track und verströmt den Geruch von Haschisch, Schweiß, Bier und Ekstase. Plötzlich setzt der Beat aus, die Hand des DJ schiebt langsam den Regler einer entwaffnend harmonischen, Beta-Endorphine freisetzenden Klangfläche nach oben. Inmitten der tanzenden Körper erscheinen Menschen in grüner Kleidung, die Schneisen ins Publikum schlagen. Emsig lesen sie Plastikbecher, Papierreste und Kippen auf, um sie einer Tonne mit der Aufschrift »Recycling Revolution« zuzuführen. Da ist er: Der Riss in der subjektiven Wirklichkeit, die auf einem Festival wie dem Sónar in Barcelona auch an diesem Donnerstagnachmittag eigentlich den Alltag transzendieren müsste. Doch zwischen glückseliger Sorglosigkeit und der Erkenntnis, dass man doch nur Teil der banalen Realität ist, liegen oft nur wenige Sekunden.
Gut, dass ich nicht zum Feiern hier bin, sondern ständig zwischen Teilnahme und Beobachtung wechsele. Dass die Stimmung auf der Village-Bühne verhalten ist, liegt vermutlich nicht nur an den professionellen Abfallentfernern, die jegliche Konsumreste unmittelbar nach ihrer Müllwerdung auflesen, sondern auch daran, dass man in Barcelona bereits an die immer strengeren Verbote gewöhnt ist, die den Bewohnern die alltäglichen Genüsse in der Öffentlichkeit unmöglich machen, um die Stadt dem vermeintlichen Ordnungsbedürfnis der Touristen anzupassen. Dennoch scheint das die meisten Besucher nicht zu stören. Und das ist gut so, denn aufgrund des kontrastreichen Line-up, das einerseits aus Massen-Magneten wie Pet Shop Boys, Kraftwerk und Skrillex, andererseits mit Anstam, Dinos Chapman und dem Free-Jazz-Core-Duo ZA! auch aus Künstlern unterhalb des Mainstream-Radars besteht, ist das Sónar-Festival auch nach 20 Jahren immer noch ein wichtiger Trendsetter für elektronische Musik und digitale Kunst.
Der diesjährige Rekord von 122 000 Besuchern zeigt außerdem, dass solche Festivals in Zeiten der Vereinzelung durch die alltägliche Mensch-Smartphone-Symbiose vor allem eine soziale Bedeutung haben, da sie in einer durchflexibilisierten Welt zumindest temporär die Möglichkeit einer idealen Gemeinschaft bieten. Geboten wird, wie es Georgia Taglietti vom Organisationssteam formuliert, »ein ultimatives Offline-Erlebnis«. Die klinische Atmosphäre der an der Placa Espanya gelegenen Veranstaltungsorts Sonarbyday im städtischen Messekomplex erinnert dann aber eher an eine Verkaufsveranstaltung als an eine Erlebniswelt. Der Anblick der zentralen Halle ist ernüchternd: Vertreter hipper Musiksoftwarefirmen stehen halbmotiviert an ihren Ständen, hier und da stellen verirrte Festivalbesucher mitleidig Fragen und auf einer Bühne preist ein Mitarbeiter eines Musiktechnikunternehmens ständig die neuesten DJ-und Producing-Tools. Dass die gequälten Präsentationen ständig durch halbherzige Demo-Tracks unterbrochen werden, macht die Sache nicht gerade interessanter. Wer also keine Lust auf Insider-Getue hat, muss sich an die vier Musikhallen halten.
Im SÓnar-Dome, einem Kinosaal mit Sitzpflicht, verbreitet Francesco Tristano zunächst andächtige Atmosphäre. Als der stetig zwischen Synthesizer und Konzertflügel wechselnde Pianist dann aber seine jazzigen Akkordimprovisationen mit immer härteren Techno-Bassdrums unterlegt, entfaltet sich eine immense kinetische Wirkung. Nach wenigen Minuten erheben sich einige aus ihrer Sitzlethargie und beginnen zu tanzen. Der Jubel wird immer lauter, plötzlich springen alle auf und verwandeln das Konzert in einen handfesten Rave. Endlich Anarchie.
Dass elektronische Musik stets auch die Idee eines gleichberechtigten Miteinanders beinhaltet, demonstriert dann das Barcelona Laptop Orchestra unter der Leitung von Josep Comajuncosas. So erzählt der Dozent für Computermusik an der Música de Catalunya später im Interview: »Wir sind ein horizontales Kollektiv und damit das Gegenteil eines traditionellen, hierarchisch aufgebauten Orchesters mit klassischem Dirigenten. Unser Ansatz ist eher von den Ideen der kalifornischen Computermusik­pioniere beeinflusst. Jeder kann seine eigenen Vorschläge einbringen, was für uns als klassisch ausgebildete Musiker immer noch ungewöhnlich ist.« Dass das Ideal einer auf Hedonismus und Egalitarismus basierenden Gesellschaft, das in den neunziger Jahren auf die Clubmusik übertragen wurde, nicht zuletzt durch die Finanzkrise seinen Glanz verloren hat, bringt zurzeit vielleicht niemand besser zum Ausdruck als das Londoner Duo Raime, das das Programm »SÓnar by Night« in dem drei Kilometer westlich gelegenen Fira-Europa-Hallen eröffnet. Es dauert nur wenige Minuten, bis der von Laptops und Controllern gesteuerte Sound des Duos die Euphorie des Tages in eine diffuse Stimmung aus Melancholie und düsterer Anspannung verwandelt. Mit ihren entschleunigten Rhythmen, Subbässen und Drones liefern die beiden Briten den passenden Soundtrack zur krisenhaften Gegenwart. »We must hunt under the wreckage of many systems«, heißt einer ihrer Tracks, der dem Kulturtheoretiker Kodwo Eshun zufolge die Interpretation eines vom Marktfundamentalismus zerstörten Systems ist.
Direkt im Anschluss verwandeln Kraftwerk mit ihrer überdimensionierten 3D-Show das noch leicht betäubte Publikum in eine frenetische Masse. »This is fucking weird«, brüllt ein Brite, während ich versuche, mich in das Spektakel zu vertiefen, bevor ich bemerke, dass ich in einem Gefängnis aus fast 60 000 Körpern eingeschlossen bin. Doch vermutlich zeigt sich hier, beim Massenrausch, dem Gäste aus 92 Nationen verfallen, noch am ehesten das integrative Potential von Popmusik. So lässt sich ein Melting Pot der Stile bewundern, bei dem Zebra-Leggins-Hipsterinnen auf Achselshirt tragende Muskelmänner und minimalistische Jutebeutel-Soldiers auf farbenfrohe Dreadlock-Hippies treffen. Trotzdem flüchte ich lieber zu DJ Oneman, der in seinen hyperschnell gemixten Sets zwischen Dubstep, House und UK Garage alle Trümpfe britischer Clubmusik ausspielt.
Es ist dann die Erinnerung an dieses Set, die die Show von Major Lazer erträglich macht. Denn der chauvinistische Egotrip des Amerikaners strapaziert meine Nerven noch stärker als die Musik von Skrillex, den ich trotz ethnologischen Interesses aufgrund eines sich anbahnenden Erschöpfungskomas verpasse. Nach drei Stunden Schlaf und geweckt von einer für die Belange eines übernächtigten Musikjournalisten unsensiblen Hostelmitarbeiterin, erlöst mich am Samstagnachmittag die kathartische Wirkung des Dinos-Chapman-Konzerts vom Hangover. Der Sound des britischen Konzeptkünstlers, der bereits für den Turner-Preis nominiert wurde, changiert angenehm zwischen technoiden Beats und Ambient und wird dabei von einem Film aus Horror-Samples begleitet. Um für die Nacht abgehärtet zu sein, lasse ich mich kurz von den überdrehten Trap- und Dubstep-Beats von TNGHT aufputschen.
Später überzeugt die Liveshow des Berliners Anstam auch ohne die im Backstage dankend abgelehnten Kokain-Zigaretten, bevor Skream dann ein unerwartet gutes House-Set spielt und die letzte Energie aus den müden Beinmuskeln zieht.
Am Sonntagabend dann zombieskes Schlurfen zum Museum für Moderne Kunst im Stadtzentrum, in dessen beeindruckendem Foyer die von Nebel und Lasern unterstützte Soundinstallation des italienischen Techno-Dekons­truktivisten Lorenzo Senni erklingt. Und während ich, eingehüllt von der Klangwolke, in eine angenehme Melancholie verfalle, erinnere ich mich an den ersten Tag des Festivals und bin wieder mitten auf der Tanzfläche, und die Hoffnung ist noch nicht verloren.