Die Proteste in der Türkei gehen weiter

Stillstehen ist kein Stillstand

Die Protestierenden in der Türkei bedienen sich neuer Aktionsformen, die Regierungspolitiker sorgen sich um ihre schwindende Popularität.

Im Yoğhurtcu-Park in Kadıköy ist jeden Abend am meisten los. Hunderte, manchmal an die 1 000 Menschen treffen sich ab acht Uhr in der großzügigen Grünanlage des Istanbuler Stadtteils auf der asiatischen Seite, der wegen seiner traditionell von der Republikanischen Volkspartei (CHP) geleiteten Stadtverwaltung als besonders kritisch gegenüber der Politik der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) gilt. Doch auch in Beşıktaş, Cihangir, Maçka und selbst im religiösen Fatih diskutieren die mit der Politik der AKP Unzufriedenen jeden Abend in Foren, wie die Proteste aufrechterhalten werden können und wie weiter vorgegangen werden soll.
Nach der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks am 16. Juni haben die Demonstranten sich erst einmal von dort zurückgezogen. Hundertschaften der Polizei bewachen seitdem einen Trupp Gärtner der Stadtverwaltung Istanbuls, die dort Bäume, Sträucher und Blumen pflanzen. Man fragt sich, warum sie das jetzt plötzlich tun. Vor allem angesichts der Tatsache, dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan verkündet, die Gerichte würden jetzt über das Schicksal des Gezi-Parks entscheiden. Kommt das Oberverwaltungsgericht Istanbul also zu dem Schluss, ein Einkaufszentrum oder ein Stadtmuseum diene dem öffentlichen Interesse besser als der Park, werden die neuen Anpflanzungen wieder beseitigt. Allein die Geste zählt.
»Schaut, sie haben den Park verwüstet, wir bauen ihn wieder auf«, ist eine der Suggestionen, mit denen der türkische Ministerpräsident derzeit nur diejenigen überzeugen kann, die ohne ihn nicht können. Nur noch 35 Prozent der Türkinnen und Türken würden ihn derzeit wählen, stellte ein konservatives Meinungsforschungsinstitut vergangene Woche fest. Das sind angesichts der jüngsten, von ihm persönlich abgesegneten Gewalttätigkeiten gegen Protestierende in weiten Teilen des Landes, am schlimmsten in Istanbul und Ankara, immer noch viele, aber die Mehrheit ist es schon seit einiger Zeit nicht mehr.

Umso nervöser wird langsam die Parteiführung, doch sie tappt in die gleiche Falle wie der Ministerpräsident, sie setzen mehr auf Posen als auf Problemlösungen. Jeden Tag gibt es eine neue peinliche Panne. Der Minister für Europa-Fragen, Eğemen Bağış, drohte der deutschen Regierung vergangene Woche mit einem bösen Ende, wenn sie sich gegen die Türkei stelle. Erdoğan hatte bereits zuvor erklärt, es interessiere ihn nicht, was die EU zum Umgang mit den Protesten sage. Außenminister Ahmet Davutoğlu stellte der EU sogar ein Ultimatum. Wenn diese nicht in den komenden zwei Wochen die Beitrittsverhandlungen fortsetze, könne die Türkei auf weitere Gespräche verzichten. Vor dem türkischen Unternehmerverband sagte er am Sonntag, die Türkei strebe eine Demokratie nach europäischen Standards und ein Wirtschaftswachstum nach chinesischem Vorbild an. Der Minister weiß, dass die Regierung weiter an Popularität verlieren wird, wenn erst einmal die Großkonzerne öffentlich Kritik üben sollten, die Auslandsinvestitionen ausbleiben und das bereits von acht auf dreieinhalb Prozent gefallene Wirtschaftswachstum noch schwächer wird.
Derweil warten die Demonstrierenden auf weitere Fehler der politischen Führung. Auf dem Taksim-Platz und dem angrenzenden İstiklal-Boule­vard finden sich täglich ab etwa 17 Uhr Menschen zu einer Steh-Performance ein. Nachdem am 17. Juni ein stadtweites Demonstrationsverbot erlassen worden war, begann der Künstler Erdem Gündüz damit, stundenlang auf dem Taksim-Platz zu stehen und das vom Abriss bedrohte Atatürk-Kulturzentrum anzustarren. Mittlerweile stehen Menschen in der gesamten Türkei auf öffentlichen Plätzen, starren in die Gegend, lesen stehend oder meditieren friedlich. Eine Art des passiven Widerstands, die zunächst niemand ernst genommen hatte.

Eine Gruppe junger AKP-Mitglieder tauchte einmal auf dem Taksim-Platz zu einer Gegendemonstration auf. Sie stellten sich mit dem Rücken zum Atatürk-Kulturzentrum und starrten die Demonstranten an. Dazu trugen sie frisch produzierte T-Shirts mit der Aufschrift »Stehende Männer stehen gegen den stehenden Mann«. Keine sehr überzeugende Darbietung, denn niemand von den konservativen AKP-Mitgliedern hatte staatliche Sanktionen zu fürchten. Es ging darum, Präsenz zu zeigen, doch auf dem Taksim-Platz, dem Zentrum der Proteste, gelang selbst das nicht eindrucksvoll.
Kurz darauf berichteten selbst islamisch-konservative Medien darüber, dass Gündüz, der Erfinder der Steh-Performance, bereits 2004 als Student zu symbolischen Aktionen neigte, und zwar damals schon im Namen der Ausgegrenzten. An der laizistischen Yıldız-Universität in Istanbul waren damals Studentinnen mit Kopftuch nicht zugelassen. Gündüz erregte mit einer Gruppe von Kommilitonen Aufsehen, weil die Kunststudenten in der Akademie demonstrativ ein Kopftuch trugen.
Schon längst stehen auch Frauen mit Kopftuch abends auf dem Taksim-Platz oder in den Parks, um die Protestbewegung zu unterstützen. Denn die Folgen der Wochen des Protestes sind hart und erfordern kluge politische und auch juristische Gegenwehr. Es existieren Fotos von Polizisten, die gezielt mit ihren Druckluftgewehren Reizgaskartuschen auf Demonstranten feuern. Festgenommene berichten von Misshandlungen in Haft. Alle diese Indizien werden derzeit von einem Team der Istanbuler Anwaltskammer gesammelt, das die Menschenrechtsverletzungen rund um die Proteste im Gezi-Park untersucht.

Dazu gehört auch die Festnahme von Anwälten und Ärzten während der Proteste. Der Präsident der türkischen Anwaltskammer, Metin Feyzioğlu, erklärte nach der Festnahme von 50 Anwältinnen und Anwälten, die am 11. Juni vor dem Istanbuler Justizpalast friedlich gegen die willkürliche Festnahme und Misshandlung von Demonstrierenden protestiert hatten: »Hier werden nicht nur die Rechte unserer Kollegen, sondern hier werden die Grundlagen der türkischen Justiz mit Füßen getreten.« Der Gesundheits- und der Innenminister hatten verkündet, Ärzte und Anwälte machten sich strafbar, wenn sie sich an den Protesten beteiligen, indem sie Demonstrierenden beistehen – eine rechtswidrige Überschreitung der Grenzen staatlichen Handelns.
Nur ist dies auch Ausdruck eines Gefühls der Allmacht türkischer Regierungsvertreter. Die Ärztekammer zog nach 20 Protesttagen eine fürchterliche Bilanz: 7 833 Verletzte im ganzen Land, vier tote Demonstranten und ein toter Polizist, 13 Menschen haben ihr Augenlicht durch Gasgranaten verloren, vier Verletzte sind noch auf der Intensivstation. Es gibt Berichte über schwere Misshandlungen und sexuelle Übergriffe durch Beamte und Zivilpolizisten.
Samstags will die Protestbewegung weiterhin auf dem Taksim-Platz demonstrieren. Die stehenden Männer wurden vergangenen Samstag innerhalb von zehn Minuten durch Hunderte Demonstrierende verstärkt, die die Regierung zum Rücktritt aufforderten. Die Polizei wartete eine Stunde, bis sie eingriff. Erneut mit Wasserwerfern und Tränengas, allerdings im Vergleich zu den vorherigen Einsätzen viel weniger heftig. Türkische und internationale Medien berichten mittlerweile bei jedem kollektiven Husten live vom Taksim-Platz. Auch wenn die türkische Regierung die Nutzung sozialer Medien für »Propaganda« kriminalisieren will und Sanktionen gegen inländische und ausländische »Provokateure« androht, lässt sich bislang kaum jemand einschüchtern. Eines ist jetzt schon klar: Es wird ein langer, heißer Sommer für die Türkei werden.