Fußball und Proteste in Brasilien

»Brasilien + Fifa = Volk in der Scheiße«

Solidarische Fußballer und stadionkompatible Demonstranten – ein Fazit nach zwei Wochen »Copa das Manifestações«.

Ob Bastian Schweinsteiger schon einmal auf einer Demonstration war, weiß man nicht. Sein Trikot jedenfalls wurde am Mittwochabend voriger Woche im Zentrum von Belo Horizonte auf einer gesichtet, zwischen Dutzenden grün-gelber Shirts von Ronaldinho oder Neymar. Der brasilianische Mittzwanziger darin gehörte zur letzten Gruppe von Demonstranten, die nach dem Halbfinale zwischen Brasilien und Uruguay die Praça Sete besetzt hielten. Über den Wolkenkratzern dröhnten Hubschrauber, der Lichtstrahl ihrer Suchscheinwerfer glitt immer wieder über die Menge, während die Poliçia Militar langsam die Gegend abriegelte.
Von Schweinsteiger abgesehen, war alles wie erwartet an diesem vorletzten Spieltag des Confederations Cup: Das gastgebende Team landete im Finale und die Proteste erreichten einen Höhepunkt. Neu hingegen war, dass das offizielle Vorbereitungsturnier zur WM bei seiner neunten Auflage wohl erstmals richtig ernst genommen wurde. Was wiederum nicht primär am Fußball lag: Vom Eröffnungsspiel an, als Präsidentin Dilma Rousseff ausgepfiffen wurde, als hätte sie höchstselbst einen brasilianischen Kicker in die Werbebande getreten, begleiteten massenhafte Sozialproteste das Turnier. Wenn manche Kommentatoren den Demonstranten bescheinigten, die »Copa das Manifestações« als Bühne zu ge- bzw. missbrauchen, verkannten sie eine inhaltliche Verbindung. Die horrenden Kosten für die anstehende WM und Olympia 2016 sind ein wichtiges Thema der Proteste. Das Hauptargument: Mit den für die Sportevents verplanten Geldern ließe sich weit Sinnvolleres finanzieren, als gemäß den Vorgaben der Fifa neue Stadien zu bauen. Slogans wie »Ich will Bildung, keine Arena« sind auf den Kundgebungen regelmäßig zu hören. Und nach den Unruhen von Belo Horizonte blieb an einer Wand im Zentrum eine Gleichung zurück: »Brasilien + Fifa = Volk in der Scheiße«. Die Gefahr einer einseitigen Deutung der brasilianischen Verhältnisse ist hier offensichtlich, ist die Fifa doch nicht nur ein berechtigtes Ziel der Kritik, sondern auch ein wohlfeiler Prügelknabe. Schon vor anderthalb Jahren forderte der Altstar Romario, heute als »Deputado Romario« für Partido Socialista im Parlament, Brasilien dürfe nicht länger »der Sklave der Fifa« sein. Neben den Baukosten werden Umsiedlungen zugunsten neuer Stadien ebenso kritisiert wie die überteuerten Eintrittspreise und das Lizenzsystem für Händler im Umfeld des Sta­dions.
Ein solcher externer Feind kann leicht davon ablenken, dass ein Teil der Probleme in Brasilien selbst entstanden ist. Die Opposition zur Fifa ist Konsens, vor dem Halbfinale wurden sogar die Kinder ausgepfiffen, die die Flagge des Weltverbands ins Stadion trugen. Die heterogene Bewegung erliegt dieser Versuchung allerdings nicht. »Die Fifa und der brasilianische Fußballverband sind nur die Spitze des Eisbergs«, sagte der Student Vander Miguel vor der Großdemonstration von Belo Horizonte. Und seine Freundin Marianna Martins ergänzte: »Wir lieben Fußball. Aber das Leben der Menschen ist wichtiger.«
Wie hält man es mit dem Nationalteam? Diese Frage beschäftigte bereits zu Beginn des Confederations Cup die Bewegung. Vor dem Gruppenspiel gegen Mexiko hatten Demons­tranten den Zugang zum Stadion von Fortaleza versperrt. Hinterher wurden schnell Stimmen laut, die versicherten, der Protest richte sich »nicht gegen die Seleção, sondern gegen die Corrupção«. Als geflügeltes Wort fand sich diese Losung dann auch bald in den internationalen Schlagzeilen. Richtig wirksam wurde sie aber erst, als sich immer mehr Teile der Seleção mit den Protesten solidarisierten. Unter anderem die Angreifer Frederico Chaves Guedes und Givanildo Vieira de Souza, besser bekannt als Fred und Hulk, sowie Bayern-Verteidiger Dante Bonfim Costa Santos, genannt Dante, unterstützten die Forderungen der Protestierenden, und Megastar Neymar da Silva Santos Júnior, just mit einem Megavertrag in Barcelona ausgestattet, erklärte sogar, er wolle sich von den Kundgebungen »inspirieren« lassen. Perfekt wurde der Doppelpass zwischen Kickern und Demonstranten allerdings erst durch den Coach. Ausgerechnet der nüchterne »Felipão« Scolari, der bereits das Weltmeisterteam von 2002 trainiert hatte, wurde sentimental: »Die Seleção gehört dem Volk. Wir sind das Volk.«
Der Confederations Cup bietet also große Neuigkeiten zum Verhältnis von Fußball und Politik. Ausgerechnet in Brasilien, wo Europäer seit jeher die Wiege des schönen, wahren und guten Kickens wähnen, wenden sich Millionen Teilnehmer sozialer Proteste gegen die neoliberale WM-Ausrichtung nach Maßstäben der Fifa. Die Rückkehr des Fußballs zu einem seiner mythischen Orte nach mehr als einem halben Jahrhundert, eine Art Football’s Coming Home des 21.Jahrhunderts, erhält damit eine völlig unvorhergesehene Dynamik.
Es ist das erste Mal seit langem, dass sich nicht nur ein einzelner Spieler, sondern fast ein ganzes Team auf diesem Level mit solchen Protesten solidarisiert. Seit der Stellungnahme der Schweizer »Nati« gegen die Atomtests von Mururoa 1995 hat es kein vergleichbares politisches Engagement mehr gegeben. Die neu erwachte Liebe des brasilianischen Publikums zur grün-gelb-blauen Seleção, vor dem Turnier heftig kritisiert, basiert sicherlich auf deren Siegeszug bis ins Finale, wenngleich sie dabei nicht glänzte. Doch ihr Bekenntnis zu den Forderungen der Protestbewegung spielt dabei zweifellos auch eine Rolle.
Von dieser Solidarisierung zeugen in den vergangenenen zwei Wochen so einige Phänomene, in den Stadien ebenso wie außerhalb. So hat es sich zur Gewohnheit entwickelt, dass die Zuschauer die brasilianische Hymne einfach weitersingen, wenn die Musik dazu längst ausgeblendet wird. Vor dem Halbfinale nahm das im Stadion Mineirão durchaus fanatische Züge an. Die Nationalhymne wird übrigens auch auf Protesten gelegentlich angestimmt, ebenso wie andere Stadiongesänge.
Und dann die Accessoires: Nur beim Fußball sieht man sonst eine derartige Häufung von Landesfahnen und grün-gelb geschminkten Gesichtern. Im Soundtrack des Protests spielen Gashupen eine tragende Rolle, die an Ort und Stelle verkauft werden. Und während alle anderen Läden rund um die Kundgebung vor dem Halbfinale geschlossen oder gar verbarrikadiert waren, blieben zwei Buden mit Fan-Devotionalien und Trikots geöffnet. Aus sportlicher Sicht ist interessant, dass die mediale Aufmerksamkeit für die Proteste dem jungen brasilianischen Team durchaus entgegenkam, nahm sie doch den zuvor enormen Druck von den Spielern. Was die politische Seite betrifft, wird die Zeit nach der »Copa das Manifestações« entscheidend – auch für die Frage, wie sich die Polizei verhält, wenn die Augen der Welt nicht mehr auf Brasilien gerichtet sind. Was wiederum auch für einen Anhänger Bastian Schweinsteigers aus Belo Horizonte ziemlich wichtig wird.