Über Armutsbekämpfung und die protestierende Mittelschicht

Der Kampf um mehr Qualität

Die Demonstrationen in Brasilien werden meist als Aufstand der Mittelschicht interpretiert. Tatsächlich haben in den vergangenen Jahren viele Menschen den Aufstieg aus der extremen Armut geschafft.

Auf Facebook macht eine Collage zu den Protesten in Brasilien die Runde. Zu sehen sind Fotos verschiedener Ansammlungen von Menschen, darunter eine Menschentraube, die versucht, sich in einen Bus zu drängen, ein überfülltes Wartezimmer einer Gesundheitsstation und eine Reihe in einem Krankenhausflur aufgebahrter Leichen. Zu diesen Bildern lautet der Kommentar: »Erlaubte Menschenschlangen«. Daneben ist ein Bild einer Demonstration zu sehen. »Nicht erlaubte Schlange«, wird das Foto kommentiert. Die Collage fasst gut zusammen, worum es bei den Protesten geht. Als Auslöser der landesweiten Demonstrationen gelten die Anfang Juni erfolgten Tariferhöhungen im öffentlichen Nahverkehr in verschiedenen Städten. Ähnlich wie in der Türkei war es vor allem die Brutalität, mit der die Polizei, mit der den ersten Demonstrationen in São Paulo begegnet wurde, die schließlich den Zulauf zu den Protesten enorm erhöhte und diese dann für die Massen zu einem Ventil für den alltäglichen Frust über lange Wartezeiten und die schlechte Qualität der öffentlichen Infrastruktur machte.

Inzwischen werden die Proteste von brasilianischen Medien vor allem als Aufstand der Mittelschicht interpretiert, der sich gegen alle Parteien und vor allem gegen die Korruption wende. Als »weder links noch rechts« würden sich die meisten Demonstrierenden bezeichnen, heißt es oft. Reaktionäre würden versuchen, die Proteste nun vor allem gegen die Präsidentin Dilma Rousseff und ihre regierende Arbeiterpartei (PT) zu wenden, berichten linke Medien. Immer wieder wird auch von Übergriffen von Rechten auf linke Demonstrierende berichtet. Dass die Mittelschicht und nicht ein revolutionäres Ideal-Proletariat demonstriert, muss nicht unbedingt reaktionär sauch viele ihrer Anhängerinnen und Anhänger enttäuscht. Viele Linke nehmen sie nun aber auch vor Angriffen durch Reaktionäre in Schutz. Sie warnen davor, einfach nur »Fora Dilma!« (Hau ab, Dilma!) zu fordern, denn was danach komme, könne noch viel schlechter sein.
Die Ablehnung aller Parteien und der starke Nationalismus erinnern einige zudem an die brasilianische Militärdiktatur. Es dürften jedoch die wenigsten Demonstrierenden sein, die einen Militärputsch wollen. Unter einer rechten Regierung wären viele, die heute protestieren, gar nicht erst in die Mittelschicht aufgestiegen. Marcelo Neri, Präsident des brasilianischen Wirtschaftsforschungsinstituts Ipea und Strategieminister, sieht die Proteste als Ausdruck der Unzufriedenheit der »alten neuen Mittelklasse«. »Sie steigt seit zehn Jahren auf, es sind 40 Millionen Menschen, die vielleicht andere Dinge wollen als nur Einkommen und Arbeit, wie qualitativ hochwertige Bildung und Gesundheit«, sagte er der Nachrichtenagentur Agência Brasil. Die Regierungserfolge des vergangenen Jahrzehnts hätten die Ungleichheit schnell abnehmen lassen. Die Einkommen der ärmsten zehn Prozent seien um 550 Prozent gestiegen, schneller als die der reichsten zehn Prozent.
Die Sozialprogramme der seit 2003 amtierenden PT-Regierung gelten weltweit als vorbildlich, auch wenn es organisatorische Mängel gibt. Das umfassende Regierungsprogramm »Fome Zero« (Null Hunger), zu dem unter anderem das Einkommenstransferprogramm »Bolsa Familia« (Familienstipendium), Schulspeisungen und die Stärkung der Familienlandwirtschaft gehören, hat zwischen 2003 und 2010 je nach Quelle 20 bis 28 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer aus der extremen Armut geholt. Der Claim der Bundesregierung lautet mit dem Antritt Rousseffs 2011: »Brasilien, reiches Land und Land ohne Armut«. Das ist ambitioniert. Bis 2014 will die Regierung mit dem Pogramm »Brasilien ohne Elend« extreme Armut komplett beseitigen. 53 Prozent der Bevölkerung, 100 Millionen Menschen, gehörten inzwischen zur Mittelschicht, ließ Rousseff Anfang Juni bei einer Regierungsveranstaltung in Rio Grande do Norte wissen. Die Regierung zählt dazu Haushalte mit einem monatlichen Pro-Kopf-Einkommen zwischen umgerechnet 100 bis 350 Euro. Große Sprünge lassen sich damit nicht machen, und allein das Einkommen sagt nicht viel über die generellen Lebensbedingungen aus.

Seit dem Antritt von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva 2003 hat die PT-Regierung vor allem eine wirtschafts- und unternehmerfreundliche Politik verfolgt, aber auch eine Stimulation des Konsums, und dadurch jahrelang ein hohes Wirtschaftswachstum erreicht. Im vergangenen Jahr lag es zwar nur noch bei 0,9 Prozent, für dieses Jahr wird aber wieder ein Wachstum um 2,5 Prozent erwartet. Das liegt Ipea zufolge vor allem an der Erholung der industriellen Produktion und der Zunahme von Investitionen, der private Konsum habe sich jedoch inzwischen abgeschwächt. Problematisch bleiben für die Regierung die gesunkenen Staatseinnahmen, was auch auf Änderungen der Steuerpolitik zurückzuführen ist. Sorgen macht der brasilianischen Zentralbank die Inflation, weshalb der Leitzins Selic im Mai auf acht Prozent erhöhte wurde.
Obwohl die Erwerbslosenquote so niedrig ist wie nie zuvor und die realen Einkommen weiter steigen, spüren viele Menschen die Teuerung in ihrem Alltag. Auch dagegen wendet sich der Unmut der protestierenden Mittelschicht. Zwar gibt es ein kostenloses öffentliches Gesundheits- und Bildungssystem, das im internationalen Vergleich in der gleichen Länderkategorie sicher gar nicht so schlecht abschneiden würde, doch wer es sich leisten kann, kauft sich höhere Qualität bei privaten Anbietern. Die Kreditbranche boomt in Brasilien, fast jedes Produkt lässt sich auf Raten kaufen.
Eine neue politische Bewegung der Mittelschicht ist aber noch nicht zu erkennen. Für kostenlosen und qualitativ hochwertigen Personennahverkehr setzen sich vielmehr Bewegungen wie der MPL bereits seit zehn Jahren ein. Auch vor den negativen Folgen, die die Großveranstaltungen WM und Olympische Spiele mit sich bringen, wie Zwangsumsiedlungen, hohe Ausgaben der Kommunen und Korruption, warnen Orga­nisationen wie die »Bürgerkomitees« seit Jahren. An Verhandlungen mit der Regierung nahmen vor allem die Landlosenbewegung MST, der MPL, die Obdachlosenbewegung MTST und Gewerkschaften teil. Fast alle dieser Organisationen verfügen über enge Verbindungen zur Arbeiterpartei, zur Regierung also.
Obwohl die derzeitige Regierung, eine Koalition aus kommunistischen bis sozialchristlichen Parteien, innerhalb der brasilianischen Parteipolitik sicher das kleinere Übel ist, sind die meisten Vorwürfe gegen sie berechtigt, auch der der Korruption. Auf diesen Vorwurf stürzt sich nun insbesondere die Opposition. Einen großen Ansehensverlust erlitt der PT durch den 2005 aufgedeckten »Mensalão«-Skandal. Jahrelang sollen Abgeordnete der Opposition Schmiergeld erhalten haben, damit sie für Vorhaben der Regierung stimmten. Dabei ging es nicht nur um noble Reformen wie die Anhebung des Mindestlohns, sondern es bereicherten sich dabei Vertreter verschiedenster Parteien, Unternehmen und Banken. Am 2. August 2012 wurden 38 in diesen umfangreichen Korruptionsskandal verwickelte PT-Abgordnete vom Obersten Gericht verurteilt. Es blieb nicht der einzige Skandal der PT, dennoch ist Korruption auch anderswo weit verbreitet. Vor allem für brasilianische Linke und deren Organisationen wäre es wichtig, deutlich Abstand zum PT zu gewinnen und Kritik zu üben, allerdings ohne die reaktionäre Opposition zu stärken. Die nächsten Wahlen stehen 2014 an.