Der Hungerstreik von Flüchtlingen in München

Gehungert wird nicht

Die Stadt München und die bayerische Landesregierung haben den Hungerstreik von Flüchtlingen mit Polizeigewalt beendet. Zu Verhandlungen waren politische Verantwortliche und Behörden nicht bereit.

Die Flüchtlinge wollten keine Zeit mehr verlieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, räumten sie »eine Frist von drei Tagen« ein, um ihre Forderung zu erfüllen. Nach einer Demonstration in der Münchner Innenstadt am 22. Juni waren 50 Asylsuchende, die meisten aus dem Iran, Afghanistan, Äthiopien, Syrien und Sierra Leone, auf dem zentralen Rindermarkt geblieben. Sie meldeten eine Mahnwache an, errichteten ein Camp – und stellten die Nahrungsaufnahme ein. Merkel und Voßkuhle schrieben sie einen Brief. »Leben in Isolationslagern, der Ausschluss von Bewegungsfreiheit und allnächtliche Albträume von Abschiebungen« ­­– sie seien »nicht willens, in dieser Situation zu leben – nicht einmal einen Tag mehr«. Für sie gebe es »nur eine Möglichkeit, und das ist die Anerkennung unserer Asylanträge«. Wenn der Staat nicht einlenke, würden sie vom darauffolgenden Dienstag an auch kein Wasser mehr zu sich nehmen. »Wir haben unsere Familien, unser Land verloren, und jetzt leben wir im gleichen Gefängnis wie zuvor«, sagte der streikende Äthiopier Wado Watol der Agentur EPD. »In unserem Land werden wir durch eine Kugel getötet, hier sterben wir einen langsamen Tod«, fand gar der ebenfalls aus Äthiopien stammende Lukas Johannes.

Vor über einem Jahr hatten Flüchtlinge in Bayern eine Protestwelle ausgelöst, die immer noch anhält. Nach dem Suizid eines Iraners erhoben sich zunächst in Würzburg junge asylsuchende Iraner, die bald Nachahmer in anderen Regionen fanden. Sie hielten wochenlang Mahnwachen in Innenstädten ab, nähten sich die Münder zu, harrten tagelang bei Eiseskälte vor dem Brandenburger Tor aus, trafen hohe Politiker. Doch an
ihrer Lage änderte sich wenig: Vor allem in Bayern müssen Flüchtlinge weiter in Lagern, Sammelunterkünften und hermetisch abgeriegelten Heimen leben, sich von Essenspaketen ernähren, sie unterliegen der Residenzpflicht, dürfen nicht arbeiten. Und Asyl bekamen die meisten von ihnen auch nicht.
Merkel und Voßkuhle ließen die Frist der Flüchtlinge in München verstreichen. Seit Dienstag vergangener Woche verweigerte deshalb die Mehrzahl von ihnen auch die Flüssigkeitsaufnahme. Nachdem sich auch am dritten Tag des Durststreiks kein staatliches Einlenken abgezeichnet hatte, veröffentlichten die Asylsuchenden ein Kommuniqué in martialischem Duktus: »Dies ist unsere letzte Nachricht. Heute, am Freitag, den 28. Juni, verkündet die erste Gruppe der Asylsuchenden im trockenen Hungerstreik, bei vollem physischen und psychischen Bewusstsein, dass sie keinen Schritt zurückweichen wird, bis ihre Forderung erfüllt ist, und bis zu diesem Zeitpunkt weist sie jede Behandlung von Ärztinnen und Ärzten zurück! Die deutsche Regierung muss erkennen, dass politische Spiele vorüber sind und dass es nur zwei Einbahnstraßen zu beschreiten gibt: entweder die Erfüllung der exakten Forderung der hungerstreikenden Asylsuchenden oder Bobby Sands und Holger Meins auf den Straßen Münchens!« Das IRA-Mitglied Bobby Sands war 1981, das RAF-Mitglied Holger Meins 1974 nach wochenlangem Hungerstreik im Gefängnis gestorben. Auch die CSU verfiel in die Rhetorik der siebziger Jahre: Die »Rädelsführer« der Flüchtlinge hätten sich selbst auf eine Ebene mit Terroristen gestellt, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann. »Hierzulande ist Politik nicht erpressbar, wir leben in einem Rechtsstaat, wo man sich nicht durch Hungerstreiks eine Vorzugsbehandlung erzwingen kann«, befand Sozialministerin Christine Haderthauer. Beistand erhielten die CSU-Politiker vom Münchener Kardinal Reinhard Marx, der den Streikenden ins Gewissen redete: »Es ist niemandem geholfen, wenn Sie Schaden an Leib und Leben nehmen.« Dem Staat predigte Marx, er möge »die Rahmenbedingungen prüfen«. Prüfen wollte Manfred Schmidt, der Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die Einzelfälle der Asylbewerber, »binnen zweier Wochen«, wie er versprach. Die Flüchtlinge lehnten dies jedoch ab.

Am Donnerstag voriger Woche brachen die ersten von ihnen zusammen. »Das geschah teils im Zehn-Minuten-Takt«, sagt Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat, »das war eine absolut dramatische Situation.« Insgesamt mussten 35 Flüchtlinge abtransportiert werden. Im Innern des Camps waren sie auf eigenen Wunsch ausschließlich von Vertrauensärzten betreut worden, externe Ärzte hielten sich außerhalb des Camps bereit. Sie brachten die kollabierten Flüchtlinge in Krankenhäuser. Viele von ihnen kehrten nach einer ersten Behandlung ins Camp zurück und setzten ihren Streik fort. Sie hatten zuvor Patientenverfügungen unterzeichnet, in denen sie eine Einweisung in die Psychiatrie und eine medikamentöse psychiatrische Behandlung ausschlossen.
Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) berief angesichts der Lage mit der Landesregierung einen Krisenstab ein, »wie er bei Ka­tastrophen üblich ist«. Die Asylbewerber gingen »sehenden Auges in den Tod«, sagte Ude. »Offenbar sind sie wirklich dazu entschlossen zu sterben, wenn ihre Forderung nicht erfüllt wird.« Doch diese sei »schlicht unerfüllbar«. Die Anerkennung als Asylberechtigte nach Artikel 16a des Grundgesetzes könne nicht mit pauschalen Entscheidungen für alle Streikenden erteilt werden.
Nach einem Treffen mit Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und Innenminister Herrmann wurden der ehemalige SPD-Bundesvorsitzende Hans-Jochen Vogel und der ehemalige Landtagspräsident Alois Glück (CSU) als Vermittler in das Flüchtlingscamp geschickt. Ein Ergebnis brachte ihr zweistündiges Gespräch mit den Streikenden nicht. Innenminister Herrmann sagte, Vogel und Glück seien an der »kompromisslosen, radikalen Positionierung« des »Rädelsführers« der Hungerstreikenden gescheitert. Der mittlerweile als Asylberechtigter anerkannte iranische Exilkommunist Ashkan Khorasani habe »volles Asylrecht für alle« gefordert und jede Verhandlung kategorisch abgelehnt, bemängelte Ude.
Alexander Thal vom Flüchtlingsrat widerspricht dieser Darstellung. »Die beiden hatten keinerlei Verhandlungsangebot dabei und, wie sie selbst in einer Pressekonferenz in der Nacht betonten, noch nicht einmal ein Mandat, Verhandlungen zu beginnen«, sagt er. »Sie forderten die Flüchtlinge lediglich auf, ihren Hunger- und Durststreik sofort zu beenden.« Thal selbst sei am Samstagmorgen von den Streikenden beauftragt worden, die Stadt »zu einem ganz konkreten Verhandlungsvorschlag« zu bewegen. Um neun Uhr früh sei er deshalb beim Krisenstab gewesen. »Das war ein ganz klares Signal, dass sie verhandlungsbereit waren«, sagt der Mann vom Flüchtlingsrat. Er verweist zudem auf Artikel 23, Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes, in dem steht: »Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.« Wenn der politische Wille für ein substantielles Verhandlungsangebot bestanden hätte, wäre dies also ohne weiteres möglich gewesen, sagt Thal.

Stattdessen zogen Ude und die Landesregierung es vor, 350 Polizisten zu schicken, darunter das als besonders gewalttätig bekannte Unterstützungskommando (USK), »um das Leben der Flücht­linge zu retten«, wie der Bürgermeister angab. Sie rückten am Sonntagmorgen um fünf Uhr auf dem Rindermarkt an. Was dann geschah, schildern die Flüchtlinge so: »Die Polizei kam innerhalb von Sekunden auf das Gelände und verschaffte sich mit Gewalt Zutritt zum Camp. Erst als sie sich bereits innerhalb des Camps befand, erklärte die Einsatzleitung die Versammlung für beendet und forderte alle Anwesenden zum Verlassen des Areals auf. Die Aufforderung wurde nur auf Deutsch und in aggressivem Tonfall ausgesprochen.« Eine Frau, die ihr 16 Monate altes Kind auf dem Arm hatte, sei geschubst worden und hingefallen. Auch Menschen mit offenen Wunden an Händen und Beinen seien attackiert worden. Streikende berichten, dass sie auf dem Polizeipräsidium gezwungen worden seien, sich nackt auszuziehen, und während ihres gesamten Aufenthalts im Polizeigewahrsam keinerlei medizinische Versorgung erhalten hätten. Die Stadt München gab an, 44 Asylbewerber seien in Krankenhäuser gebracht worden, die Polizei habe den Versammlungsleiter gemeinsam mit zwölf Unterstützern »wegen Widerstands und Beleidigung« festgenommen.