Über die Proteste in Ägypten

Rebellion der Millionen

Die Massenproteste in Ägypten bringen die islamistische Regierung in Bedrängnis. Auch auf die Hilfe des Staatsapparats kann Präsident Mohammed Mursi nicht unbedingt zählen.

Politische Rekorde werden im Guinness-Buch leider nicht verzeichnet, doch dürften die Ägypterinnen und Ägypter gerade zwei aufgestellt haben. Ob am Sonntag tatsächlich 14 Millionen Menschen auf der Straße waren, wie eine Quelle aus dem Militär der Nachrichtenagentur Reuters mitteilte, lässt sich zwar nicht überprüfen. Doch fanden Massendemonstrationen diesmal nicht nur in Kairo und Alexandria, sondern in mindestens 20 weiteren Städten statt, und die Proteste dauern an.
Rekordverdächtig ist auch die Zahl der Unterschriften, die von der Bewegung Tamarod (Rebellion) gesammelt wurden, um Mursi zum Rücktritt und zur Abhaltung vorgezogener Neuwahlen zu zwingen. 22 Millionen statt der ursprünglich angestrebten 15 Millionen Unterschriften seien zusammengekommen, teilten die Organisatoren mit. Auch diese Angabe lässt sich nicht überprüfen, zweifellos aber handelt es um einen Erfolg der Basisorganisationen, die weit über den Kreis der aktiven Revolutionäre hinaus Einfluss gewonnen haben, und es kann als sicher gelten, dass wesentlich mehr Menschen gegen Mursi unterschrieben als ihn im vorigen Jahr wählten.
Daher hat wohl auch Mursi einen Rekord gebrochen. So schnell und so gründlich wie er hat sich zuvor kaum ein Präsident blamiert. Auch ihre Gegner hatten der Muslimbruderschaft und deren »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« mehr Professionalität zugetraut. So hätte man von den Islamisten erwarten können, dass sie sich mit einem Widersacher nach dem anderen anlegen. Sie hätten etwa, um für den Kampf gegen die säkulare Revolutionsbewegung freie Hand zu haben, ein informelles Bündnis mit den im Staatsapparat noch immer zahlreichen Anhängern Mubaraks schließen können. Oder sie hätten der Übernahme des Staatsapparats den Vorrang geben und ihre säkularen Gegnerinnen und Gegner mit kleineren Zugeständnissen befrieden können.
Stattdessen haben die Islamisten so ziemlich alle politisch relevanten Gruppen Ägyptens gegen sich aufgebracht. Noch vor einem Jahr demons­trierten säkulare und islamistische Gruppen gemeinsam auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen die Macht des Militärs. Doch im Oktober griffen Muslimbrüder dort den Stand einer säkularen Gruppe an und setzten dann im Bündnis mit den Salafisten eine neue Verfassung durch, die zwar wenige neue explizit islamistische Artikel enthält, aber autoritäre Maßnahmen wie Zensur und eine Illegalisierung der nach dem Sturz Mubaraks gegründeten unabhängigen Gewerkschaftsbewegung ermöglicht, mit der Mursi nicht verhandeln will.
Einen Konflikt mit der Justiz hatte er schon vorher provoziert, indem er deren Urteile ignorierte und sich umfassende Vollmachten zusprach, die er allerdings widerrufen musste. Dass die Muslimbrüder die Posten in staatlichen Institutionen mit Gefolgsleuten zu besetzen versuchen, erbost die Bürokraten. Wie groß die Abneigung gegen Mursi geworden ist, zeigte am Sonntag die in mehreren Städten erkennbare Solidarisierung von Polizisten mit den Protestierenden.

Die Islamisten haben sogar Gruppen gegen sich aufgebracht, die bislang politisch noch nicht in Erscheinung getreten waren. So hat Mursi es geschafft, einen offenen Konflikt mit der schiitischen Minderheit in einem Land zu provozieren, in dem seit mehr als 800 Jahren die schiitische al-Hussein-Moschee in Sichtweite der sunnitischen Universität al-Azhar steht. Eine Diskriminierung der Schiiten gab es zwar bereits unter Mubarak, doch unter Mursi wurden sogar religiöse Zeremonien behindert oder verboten, so untersagten es Polizisten im November vorigen Jahres schiitischen Gläubigen, in der al-Hussein-Moschee am Ashura-Fest teilzunehmen. Dass am 23. Juni vier Schiiten in einem Dorf nahe Kairo von einem salafistischen Mob getötet wurden, ist eine Folge dieser Politik. Diese geht auch vielen sunnitischen Konservativen zu weit. Sie hatten gehofft, bei den Muslimbrüdern Schutz vor den gesellschaftlichen Folgen der kapitalistischen Modernisierung zu finden, wünschten sich aber vor allem Stabilität.
Exemplarisch für die dummdreiste Politik Mursis war die Ernennung Adel Mohammed al-Khayats, eines ehemaligen islamistischen Terroristen der Jamaat al-Islamiyya, zum Gouverneur ausgerechnet der Provinz Luxor, die fast ausschließlich vom Tourismus lebt und in der 1997 von Khayats Gruppe 58 Touristen massakriert wurden. Khayat musste Ende Juni nach Protesten zurücktreten.
Wenigstens Geschäftssinn hätte man den Muslimbrüdern, zu denen viele Unternehmer zählen, zugetraut. Doch am Sonntag konnte man ein fast beispielloses Phänomen bewundern: Während der Proteste stiegen die Kurse an der Börse von Kairo. Auch auf die Bourgeoisie kann Mursi nicht zählen. Seine Provokationen schaden der Tourismusindustrie, und auch andere Branchen sind in der Krise. Außer hilflosen Improvisationen fällt den Muslimbrüdern in der Wirtschafts- und Sozialpolitik kaum etwas ein. So versprach die Regierung vorige Woche, den Preis für 22 Konsumgüter während des Ramadan um 15 Prozent zu senken, ein durchsichtiger Versuch, die Bevölkerung kurz vor dem Protesttag milde zu stimmen.

Erfolgreich war Mursi nur darin, Finanzhilfe zu ergattern. Katar gab fünf Milliarden Dollar, Saudi-Arabien und die Türkei zahlten jeweils eine Milliarde Dollar, Libyen deponierte zwei Milliarden Dollar bei der ägyptischen Zentralbank. Abgesehen von Libyen, dessen konservative, aber nicht islamistische Regierung wohl in die Stabilität seines Nachbarlandes und zukünftige Geschäftsmöglichkeiten investierte, zahlten Machthaber, denen die Verbreitung der Sharia am Herzen liegt. Die Golfmonarchen fürchten zwar den islamistischen Republikanismus der Muslimbrüder, dessen Verbreitung sie in ihren Ländern unterbinden, wollen Mursis Islamisierungsprojekt aber offenbar nicht scheitern sehen.
Die Hilfszahlungen verschafften Ägypten nicht nur dringend benötigte Devisen für Importe, die für die Ernährung der Bevölkerung ebenso wie für die Aufrechterhaltung der Produktion ägyptischer Unternehmen unentbehrlich sind, sondern stabilisierten auch das Finanzsystem. Ohne die politische Unterstützung der Golfmonarchen und der türkischen Regierungspartei AKP wäre Ägypten vermutlich bereits bankrott. Das ökonomische Desaster aber ist auch so unübersehbar.
Sich von der institutionellen Politik fernzuhalten und Basisorganisationen aufzubauen, während man die regierenden Muslimbrüder sich blamieren lässt, war die Strategie der revolutionären Bewegung. Die Monopolisierung der Macht in den Händen der Islamisten, die alltägliche Gewalt und Repression sowie die mit jedem Tag desolater werdende Wirtschaftslage erlauben weiteres Abwarten indes nicht, obwohl die Zeit für den Aufbau revolutionärer Organisationen und die Erarbeitung einer gemeinsamen Strategie für die Zeit nach Mursi nicht gereicht hat.
Auch die nun zu erwartende Phase des revolutionären Prozesses ist daher gefährlich für die säkulare Bewegung, nicht nur, weil sich an den Protesten auch Anhänger des alten Regimes be­teiligen, die wieder an Einfluss gewinnen könnten, weil Mubarak manchen rückblickend als kleineres Übel erscheinen mag. Die säkular-emanzipa­torischen Gruppen sind eine Minderheit in der Protestbewegung, und sie sind eigentlich viel zu nett für die Erfordernisse einer Revolution. Sie lehnen nicht nur eine Militarisierung der Proteste, sondern auch die Bürokratisierung der Politik ab, wollen mit patriarchalen Gewohnheiten brechen, statt sie in der institutionellen Politik zu reproduzieren. Ihre Feinde – und das sind keineswegs nur die Islamisten – kennen derlei Bedenken nicht und sind daher in einer weiterhin extrem hierarchischen Gesellschaft im Vorteil.

Die Muslimbruderschaft befindet sich in einer Position der Schwäche, mehrere Minister traten bereits zurück. Mursi hat die Protestbewegung unterschätzt und kann nicht auf die uneingeschränkte Mitarbeit von Polizei, Justiz, Bürokratie und Militär zählen. In Assiut schossen Islamisten auf die Protestierenden, auch in anderen Städten kam es zu Angriffen. Insgesamt starben nach offiziellen Angaben seit Sonntag 16 Menschen, doch es hätte weit schlimmer kommen können. Die Protestbewegung beschränkt sich weiterhin auf Selbstverteidigung und exemplarische Angriffe wie die Erstürmung des Hauptquartiers der Muslimbrüder in Kairo. Die Islamisten haben es bislang nicht gewagt, die Gesamtheit ihrer Schlägertrupps einzusetzen. Gefürchtet haben sie aber wohl weniger die zivile Opposition als das Militär.
Im Gegensatz zu den Muslimbrüdern haben sich die Generäle, die nach dem Sturz Mubaraks die Regierung übernommen hatten, als lernfähig erwiesen und erkannt, dass es ihrem Ansehen und dem Erhalt ihrer Macht nicht zuträglich ist, in vorderster Front zu stehen. Auch der am Montag ultimativ gestellten Forderung nach einer »Versöhnung der politischen Kräfte« dürfte kein Putsch folgen. Da Mursi seinem eigenen »Versöhnungsplan« folgen will und die Opposition keine Grundlage für Verhandlungen sieht, ein folgenloses Verstreichen der gesetzten Frist aber die Autorität der Generäle schwächen würde, wird die Militärführung aber stärkeren Druck ausüben. Unklar ist derzeit noch, mit welchen Mitteln und mit welchem Ziel.
Sich als unparteiischen Hüter der Nation darzustellen, verschafft dem Militär auch in der Protestbewegung Sympathie. Doch die Generäle sind seit 1952 die Herrscher Ägyptens. Sie haben seitdem Ideologien und ausländische Bündnispartner gewechselt und 2011 ihren Repräsentanten Mubarak fallen lassen, als er nicht mehr zu halten war. Sie lassen foltern und töten, wollen aber eine Eskalation wie in Syrien vermeiden und treten gelegentlich sogar als Wohltäter auf. Während der Nahrungsmittelkrise 2008 ließen sie ihre Soldaten Brot backen und verteilen, dies könnte bald wieder geschehen. Flexibel und taktisch versiert, sind sie ein mindestens ebenso gefährlicher Feind der Revolution wie die Islamisten.
Die klügste Option für die Generäle wäre wohl, auf eine baldige Abhaltung der Parlamentswahlen zu drängen, die bereits im April hätten stattfinden sollen. Eine islamistische Mehrheit wird es dann wahrscheinlich nicht mehr geben, überdies hat die salafistische al-Niour-Partei am Montag ihr Bündnis mit der Muslimbruderschaft aufgekündigt. Mursi, dessen Befugnisse juristisch umstritten sind, könnte faktisch entmachtet werden, ohne dass er gestürzt werden müsste. Regieren würde dann vermutlich eine Koalition von Parteien der konservativen Honoratioren wie Mohammed al-Baradei und Amr Moussa, die mit islamistischen Protesten konfrontiert wäre und wohl mit dem Militär und den Anhängern des alten Regimes kooperieren würde. Die Muslimbrüder Ägypten gänzlich ruinieren zu lassen, ist keine Option, doch für eine demokratische und sozialreformistische Revolutionsregierung fehlen weiterhin die Voraussetzungen.