Die politische Lage nach der Absetzung des Präsidenten

Kein dritter Weg in Sicht

Nach der Absetzung Mursis durch die ägyptische Armee steht das Land vor einer gesellschaftlichen und politischen Spaltung. Manche Islamisten drohen mehr oder weniger offen mit einem Bürgerkrieg.

Während die einen, die Muslimbrüder, indirekt mit einem Bürgerkrieg drohen, reden die anderen von Revolution. »Fortsetzung der Revolution«, »zweite Revolution«, das Wort ist bei Oppositionellen der Bewegung Tamarod (Rebellion) wieder allgegenwärtig. Nur kurz nach dem ersten Jahrestag des Amtsantritts von Präsident Mohammed Mursi von der »Freedom and Justice Party« (FJP), dem politischen Arm der Muslimbruderschaft, ist Ägypten wieder ohne gewählte Staatsführung. Eine Unterschriftenliste der Revolutionsbewegung, die den Jahrestag zum symbolischen Anlass hatte, lieferte den Auftakt für eine neue Welle von Massenprotesten. Gefordert wurde nicht weniger als der sofortige Rücktritt Mursis.
Ganze 17 Millionen Protestierende sollen vorvergangenen Sonntag auf den Straßen gewesen sein, eine gigantische Zahl, selbst für das Massenproteste inzwischen gewohnte Ägypten. Mursi hingegen nutzte den Jahrestag für eine über zweieinhalb Stunden lange Fernsehansprache im Kreise wohlgesinnter Prominenz. In der Rede gestand er zwar Versäumnisse ein, die wahren Probleme seien aber »Feinde Ägyptens« im In- und Ausland. »Indirekt hat er uns damit gedroht«, sagt Marwa Elkady von Tamarod. »Mit seiner Rede hat Mursi gezeigt, dass er nur seiner Klientel und nicht der Bevölkerung verpflichtet ist.« Kurze Zeit später ging in Nord-Kairo bei Protesten ein FJP-Büro in Flammen auf, bei Kämpfen mit Muslimbrüdern gab es über ein Dutzend Tote und mehrere hundert Verletzte.

Kurz zuvor hatte Verteidigungsminister und Generaloberst Abdel Fattah al-Sisi ein 48stündiges Ultimatum für eine Verständigung von Opposition und FJP ausgesprochen. Nach Verstreichen der Frist stellte das Militär Mursi und weitere FJP-Po­litiker unter Hausarrest, sprach Hunderte Haftbefehle aus, schloss zahlreiche religiöse, der FJP nahestehende Fernsehsender und löste den Shura-Rat, das Oberhaus des Parlaments, auf. Al-Sisi berief Adli Mansur, den obersten Verfassungsrichter, zum Interimspräsidenten und beteuerte, die Armee habe keine Machtambitionen. Dies sei kein Putsch, die Armee verhalte sich konform der Verfassung, wonach sie bei Gefahr der nationalen Sicherheit einschreiten müsse, was angesichts der Proteste der Fall sei. Seither kann sich die Armee von den Massen auf der Straße feiern lassen. Auf das Einschreiten der Armee hatte ein Teil der Tamarod-Bewegung gehofft, andere lehnten es ab. In guter Erinnerung ist bei vielen noch die Zeit des Militärübergangsrats SCAF mit dem Massaker in Maspero, wo die Armee auf eine von Kopten organisierte Demonstration das Feuer eröffnete. Ebenso wenig vergessen sind die gegen Oppositionelle gerichteten unzähligen Militärtribunale und die demütigenden Jungfräulichkeitstests sowie die Parolen von angeblichen auslän­dischen subversiven Kräften, die leicht durchschaubar von eigenen Interessen des SCAF ablenken sollte.
Seit Mursis Amtsenthebung ist Ägypten nicht mehr zur Ruhe gekommen. In Kairo ist der Tahrir-Platz der Anlaufpunkt für die Oppositionsbewegung, die beträchtliche Anhängerschaft Mursis trifft sich im Stadtteil Nasr City. Wenn es der protomilitärische Eifer von Selbstverteidigungs- und Angriffsvorbereitung zulässt, machen sich in den Reihen der Bruderschaft Tränen und Zorn breit. Sollte nach 83 langen Jahren der Opposition ihre Chance, das Land zu regieren, nun für alle Zeit verloren sein? Welche Auswirkung wird dies auf die Muslimbruderschaften in anderen Ländern haben, welche auf die islamistische Bewegung insgesamt? Mohammed Badie, der Vorsitzende der Muslimbruderschaft, tauchte am Freitag voriger Woche beim zentralen Protestzug auf und erklärte: »Wir lehnen diesen Militärputsch gegen den gewählten Präsidenten und gegen den Willen der Bevölkerung absolut ab.« Er feuerte die Menge an: »Wir werden Mursi auf unseren Schultern zurück ins Amt tragen.« Im Anschluss an die Demonstration kam es in Kairo und in vielen anderen Städten zu Straßenkämpfen mit über 30 Toten und Hunderten Verletzten. Und die Proteste gehen weiter. Am Montag gab es in Kairo einen Schusswechsel vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde, bei dem 51 Menschen, vor allem Anhänger der Muslimbruderschaft, starben. Militär und Muslimbrüder geben sich gegenseitig die Schuld an dem Blutvergießen. Badie drohte verklausuliert mit Bürgerkrieg und sagte, die Armee schaffe »Verhältnisse wie in Syrien«. Nachdem in der Zentrale der FJP Waffen gefunden worden waren, ließ die Justiz das Parteibüro schließen.

Die Regierungsbildung ist unterdessen stockend, sehr stockend, angelaufen. Am dritten Tag nach Mursis Sturz kündigte Mansur an, den vor allem im Westen geschätzten Friedensnobelpreisträger und Oppositionspolitiker Mohammed El Baradei zum Ministerpräsidenten der Übergangsregierung zu ernennen. Aber die salafistische al-Nour-Partei (Partei des Lichts), die Mursis Sturz überraschenderweise unterstützt hatte, war damit nicht einverstanden. Auch viele Liberale nicht. »El Baradei ist nicht so beliebt, wie manche Leute vermuten«, sagt Mohamed Elmasry von der American University of Cairo an die Adresse westlicher Beobachter. Die Nominierung El Baradeis wurde zurückgezogen. Mansur kündigte stattdessen am Montag an, einen Verfassungsausschuss zu bilden, der binnen zwei Monaten eine veränderte Verfassung ausarbeiten und zur Volksabstimmung vorlegen soll. Danach sollen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Das alles soll in nur sechs Monaten geschehen.
Bereits früh im Verlauf des Aufstandes 2011 und auch jetzt wieder zeigte sich eine Dreiteilung der Gesellschaft. Erstens ist da die zerstrittene Partei- und Bewegungsopposition, die sich nur auf die Absetzung von Despoten einigen kann; zweitens die gut organisierte, wenngleich nicht monolithische Muslimbruderschaft, die zwischen Fundamentalismus und Machtpragmatismus schwankt und häufig mit radikaleren salafistischen Gruppen paktiert; und drittens die Armee, die wirtschaftlich stärkste und natürlich am besten bewaffnete gesellschaftliche Kraft. Da die salafistische al-Nour-Partei ihre – rein taktische – Zusammenarbeit mit dem Militär und der säkularen Opposition eingestellt hat, droht nun eine Polarisierung, zwischen der säkularen Opposition und dem Militär auf der einen und den islamistischen Kräften auf der anderen Seite.
In mehreren Städten ist es nach Mursis Macht­enthebung zu Übergriffen durch Islamisten auf Kopten gekommen. In Luxor wurden 23 Häuser von Kopten niedergebrannt, fünf Menschen starben. Auf dem Sinai gab es Bombenanschläge und bewaffnete Angriffe auf Sicherheitskräfte und die Gaspipeline, die bereits häufiger Angriffsziel jihadistischer Splittergruppen war. Ein koptischer Priester wurde in al-Arish von einem Motorrad aus erschossen.
Auch wenn anderes wünschenswert wäre, ist es wahrscheinlich, dass die Gewalt noch eine Weile das Bild Ägyptens prägen wird. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass eine subversive islamistische Militarisierung stattfindet, etwa durch die terroristische Jama’a al-Islamiya, eine Abspaltung der Muslimbrüder, die erst vor kurzem der Gewalt abschworen. Dass deshalb gleich ein Bürgerkrieg ausbricht, ist eine vielleicht übertriebene Sorge, aber dass das Militär eine stärkere und repressivere Rolle einnehmen wird, als es der säkularen linken und liberalen Opposition lieb sein kann, steht wohl außer Frage.