Die Regierungskrise in Marokko

Im Schatten des Thrones

Die Partei Istiqlal ist aus der marokkanischen Regierungskoalition ausgetreten. Die Hoffnung auf Reformen wurde enttäuscht.

Stillstand und Stagnation – mehr können die Marokkanerinnen und Marokkaner von der nächsten Regierung wahrscheinlich nicht erwarten. In­folge des Austritts der bürgerlich-nationalistischen Partei Istiqlal (Unabhängigkeit) aus dem Regierungsbündnis am 9. Juli, ist die islamistische »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (PJD) auf einen neuen Partner angewiesen. Zwar bleibt eine kleine linksliberale und ehemals kommu­nistische Partei, der PPS, im Kabinett. Doch Islamisten und Linksliberale stellen keine Mehrheit im Parlament.
Es gilt seit nunmehr 14 Tagen als wahrscheinlich, dass der bisherige Platz von Istiqlal in der Koalition zukünftig von der »Sammlung der Unabhängigen« (RNI), einer dem marokkanischen ­Königshaus nahestehenden und vor allem aus Honoratioren bestehenden strukturkonser­vativen Partei, eingenommen wird. Allerdings hatte der RNI am Dienstag vergangener Woche ­entsprechende Meldungen erst einmal dementiert. Beobachter erwarten inzwischen zähe und ­möglicherweise länger dauernde Verhandlungen.

Sollten die Gespräche scheitern, könnte es auch zu vorgezogenen Neuwahlen kommen. Das ­dürfte der PJD eher fürchten. Doch dessen Vorsitzender, Premierminister Abdelilah Benkirane, sagte am Mittwoch voriger Woche, seine Partei halte sich alle Optionen offen, ausdrücklich auch Neuwahlen.
Die Regierungskoalition beanspruchte ursprünglich, für eine politische Erneuerung zu sorgen. Ihr Amtsantritt stand im Kontext der Proteste des »arabischen Frühlings« im Jahr 2011, die in Marokkozwar schwächer waren als etwa in Tunesien und Ägypten, dem Königshaus aber Reformen ratsam erscheinen ließen.
Nach Protestversammlungen und Demonstrationen, die landesweit am 20. Februar 2011 begonnen hatten, ließ König Mohammed VI. die Bevölkerung über eine neue Verfassung abstimmen. Diese war zwar von einem staatlichen Exper­tengremium ausgearbeitet worden, doch erweiterte sie, so schien es, den politischen Spielraum. Zudem löste der König das Parlament auf und ließ am 25. November eine um ein Jahr vorgezogene Neuwahl abhalten. Mit 26 Prozent der Stimmen wurde der PJD erstmals stärkste Partei und ging eine heterogene Regierungskoalition ein.
Doch seitdem blieben alle Ansätze für Reformen, wie immer man die Vorhaben der Koalition auch inhaltlich bewerten mag, stecken. Auch die neue, demokratischere Verfassung besteht derzeit nur auf dem Papier. Denn seit zwei Jahren wurde kein Schritt unternommen, um die notwendigen Ausführungsgesetze und -dekrete zu verabschieden, die den Verfassungsartikeln Geltung verschaffen könnten.
In Marokko besteht neben der formellen, juristischen Regeln folgenden Staatsmacht ein »Schattenstaat«, der in der Gesellschaft tief verankert ist. Es handelt sich um ein traditionelles Netzwerk aus Anführern religiöser Bruderschaften, lokalen Feudalherren und anderen Hono­ratioren, an deren Spitze informelle, aber einflussreiche Berater des Königs stehen. Die aus dem Parlament hervorgehende Regierung gebietet nicht über den »Schattenstaat«, sondern nur über die formalen, verrechtlichten Strukturen.
Doch aus Gründen der Selbsterhaltung hat das Königshaus seit 1997 nacheinander zwei verschiedene Parteien, die nicht der Schattenstruktur angehören, an die Regierung kommen lassen. Zuerst war dies die marokkanische Sozialdemokratie, die »Sozialistische Union der Volkskräfte« (USFP), die 2011 in die Opposition ging, und danach der PJD. Beide Parteien versprachen, Reformen durchzusetzen und die Macht des Königshauses sowie der feudalen Großfamilien zugunsten ihrer eigenen sozialen Basis zu beschneiden, auch wenn sie den Fortbestand der Monarchie akzeptierten und garantierten. Dem Königshaus stehen die »Thronparteien« wie der »Pol der ­Authentizität und der Modernität« (PAM) und der RNI nahe. Sie waren in dieser Legislaturperiode bislang formell in der Opposition, übten jedoch aufgrund ihrer Nähe zum Thron Einfluss aus.
Wird der RNI in die Regierung aufgenommen, bildet er auch formal einen Teil der Regierung. Die alte Koalition zerbrach wahrscheinlich auch unter dem Einfluss des Königshauses. Zwar ist Istiqlal eine bürgerliche und keine feudale Partei, doch die oberen Schichten der marokkanischen Bourgeoisie sind selbst in die feudale Sozial­struktur eingebunden, andernfalls würden sie keine Geschäftslizenzen erhalten. Daher bleiben sie mindestens auf das Wohlwollen des Königshauses und der führenden Familien angewiesen.

Seit einigen Monaten haben sich die Spannungen zwischen dem Monarchen Mohammed VI. und Benkiranes PJD verschärft. Am 1. Juli verfügte das Religionsministerium, das nicht von einem ­Minister des PJD geführt wird, sondern unter der Kontrolle der Monarchie steht, die Koranschulen des Salafisten Mohammed Maghraoui in Marrakesch zu schließen. Dies war auch eine Kriegs­erklärung an den PJD. Zwar stehen die Salafisten überwiegend außerhalb des PJD und vertreten eine andere Variante des politischen Islam. Einige von ihnen traten jedoch der Partei bei, andere riefen in den vergangenen Jahren zu ihrer Wahl auf, weil sie sich von der Partei Zugeständnisse erhofften. Ansonsten warten sie darauf, dass ein eventuelles Scheitern des PJD an der Regierung ihnen selbst mehr Anhänger zutreibt. Derzeit ist ihre Bewegung allerdings schwach.
Aber auch die Arbeiter- und Demokratiebewegung kann derzeit nur sporadische Proteste ­organisieren. So fällt es dem König bislang relativ leicht, mit politischen Manövern die für seinen Machterhalt nötige Stagnation zu wahren.