Säkularismus auf Arabisch

Staatsmacht statt Sharia

Wenn in arabischen Staaten von Säkularismus die Rede ist, geht es meist nicht um die Trennung von Religion und Staat.

Der Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi war, so las man in vielen Zeitungen, auch ein Sieg der »säkularen Kräfte in Ägypten«. In Syrien dagegen verteidige Bashar al-Assads Armee ein säkulares Regime gegen die islamistische Opposition. Mit ermüdender Regelmäßigkeit taucht der Begriff Säkularismus auf, nur was er eigentlich konkret bedeuten soll, bleibt unklar, gilt doch jeder Akteur, der nicht dezidiert islamistisch ist, als irgendwie säkular. Und das nicht nur in der deutschen Nahost-Berichterstattung. Der syrische Diktator bezeichnet sich selbst im Interview mit dem freundlichen Fragesteller von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung so, ebenso wie große Teile der ägyptischen Opposition gegen die Muslimbrüder.
Warum eigentlich? So gut wie alle nichtislamistischen Parteien in Ägypten haben in der verfassunggebenden Versammlung jenem Paragraphen in der Präambel zugestimmt, der das islamische Recht als Hauptquelle der Gesetzgebung festschreibt, eine Formulierung, die in fast identischen Worten auch in Syrien gilt, wo zudem die Verfassung festlegt, dass der Staatspräsident muslimischen Glaubens zu sein habe. Schon ein kurzer Blick in andere Verfassungen und Gesetzestexte der Region zeigt, dass im Zivilrecht etwa Vorschriften und Gebote der Sharia eine bedeutende, wenn nicht sogar die dominierende Rolle spielen.
Mit Ausnahme von Tunesien und der Türkei ist beispielsweise überall die Polygamie legal, Frauen werden in Erbschaftsangelegenheiten diskriminiert. Bahai, Buddhisten oder Hindus sollten erst gar nicht versuchen, in einem arabischen Staat ein Gotteshaus zu errichten. Die vermeintliche religiöse Toleranz erstreckt sich nämlich allein auf die im Koran so genannten »Religionen des Buches«, also das Christen- und das Judentum. Auch Atheisten sind angehalten, ihre Ansichten besser für sich zu behalten, ansonsten droht ihnen, selbst im angeblich so säkularen Tunesien, ein Gerichtsverfahren wegen Apostasie.
Fällt es schon generell schwer, im sunnitischen Islam – dem ja, anders als dem Christentum oder auch der Shia, eigenständige klerikale Institutionen weitgehend unbekannt sind – von einer Kirche zu sprechen, die getrennt vom Staat existieren könnte, so kommt erschwerend hinzu, dass in den vergangenen 200 Jahren in der Region so gut wie alle bedeutenderen, zuvor privat finanzierten religiösen Stiftungen staatlicher Kontrolle unterstellt worden sind.
Zwar weniger ausgeprägt als im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, fand gleichwohl auch in der islamischen Welt ein erbitterter Kampf zwischen den sich herausbildenden Nationalstaaten mit ihren Legitimations- und Herrschaftsansprüchen und den religiösen Autoritäten statt, die sich an bestehende Strukturen und die Macht der Tradition klammerten. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte deshalb der ägyptische Herrscher Mohammed Ali im Rahmen seiner Modernierungs- und Reformpolitik diese Autoritäten zu entmachten, indem er religiöse Stiftungen, vor allem aber die einflussreiche Universität al-Azhar, staatlicher Kontrolle unterstellte.
Wo immer es in den Folgejahren zu in der Regel von oben verordneten Reformen kam, widersetzten sich religiöse Führer und Kleriker den Vorhaben. Die Reaktionen ähnelten sich, ob in der Türkei unter Atatürk, im ba’athistischen Irak oder im postkolonialen Tunesien: Man verstaatlichte religiöse Institutionen, Kleriker kamen auf die Gehaltsliste der neugegründeten Ministerien für religiöse Angelegenheiten und wurden fortan einer recht strikten Regierungskontrolle unterworfen. Wer dagegen opponierte, und das waren vor allem die sich herausbildenden islamischen Parteien und Bewegungen, geriet ins Visier staatlicher Verfolgung.

Dabei zeigten die meisten dieser repressiven, vermeintlich säkularen Regimes,besonders wenn sie in Krisen gerieten, durchaus Bereitschaft, weitgehende Zugeständnisse an die islamische Opposition zu machen. Ob im Irak unter Saddam Hussein, der seine neugefundene Liebe zur Religion sogar mit dem Schriftzug »Allahu Akbar« auf der Nationalfahne verewigte, oder in Ägypten, wo schon zu Anwar al-Sadats Zeiten die Sharia in der Verfassung verankert wurde. Solange die Macht der jeweiligen Herrscher nicht in Frage gestellt wurde und es lediglich etwa um die Stellung von Frauen oder religiösen Minderheiten ging, zeigte man sich gegenüber islamistischen Forderungen nach mehr Sharia kompromissbereit.
Es kann also den politischen Akteuren, die sich Säkulare nennen, kaum um eine Trennung von Staat und Kirche gehen. Vielmehr fordern sie im Gegenteil, dass die Verstaatlichung und damit die Kontrolle religiöser Institutionen beibehalten, ja möglichst noch verstärkt wird. Die Muslimbrüder dagegen streben mit ihrem Slogan »Der Islam ist die Lösung« die Errichtung eines islamischen Staates an. Haben sie erst die Macht inne, sollen Verfassung, Gesetzgebung und tägliches Leben der Menschen entsprechend den Regeln der Sharia umgestaltet werden. Ist der Staat erst ein islamischer, erübrigt sich auch die Frage nach seinem Verhältnis zur Religion, denn, wie die Vordenker des politischen Islamismus immer wieder betonen, im Islam bilden beide eine untrennbare Einheit.

Der Begriff Säkularismus ist für Muslimbrüder bis heute identisch mit Atheismus, unmoralischer Lebensführung und Verwestlichung, ganz im Sinne ihres geistlichen Führers Sheikh Yusuf al-Qaradawi, der dekretierte: »Es gibt keinerlei Zweifel, dass Säkularismus dem Islam in jeder Hinsicht widerspricht. Es gibt zwei verschiedene Wege, die sich nie treffen werden; den einen zu wählen, heißt, den anderen abzulehnen. Deshalb muss, wer immer sich für den Islam entscheidet, den Säkularismus zurückweisen.«
Geht es den Nichtislamisten vor allem um die Kontrolle der Religion durch den Staat, nicht um eine Trennung, so zielten die Muslimbrüder bislang auf die Islamisierung des Staates. Unschlüssig sind dagegen noch die Salafisten, ob sie ebenfalls den Gang durch die staatlichen Institutionen antreten oder doch erst für die Unabhängigkeit der von ihnen kontrollierten religiösen Einrichtungen eintreten sollten. Noch weniger als die Muslimbrüder verfügen sie über eine kohärente Staatsidee, am ehesten schwebt ihnen noch der auf unmittelbarer Herrschaft der Sharia fußende Terror in jenen Kleinkalifaten vor, die Jihadisten so gerne in failed states errichten. In Tunesien übernahmen Salafisten nach dem Sturz des Regimes Ben Alis einige hundert Moscheen, die sie seitdem kontrollieren und in radikalislamistische Zentren für ihren Kampf umfunktionierten. Dass diese Gebetshäuser der Kontrolle des Religionsministeriums entglitten sind, also de facto eine Trennung der Kirche vom Staat stattfand, stellt für die sogenannten Säkularen in Tunesien einen Skandal dar.
Ausgerechnet der islamistische türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan legte bei einem Besuch den Ägyptern ans Herz, sich doch eine säkulare Verfassung zu geben. Ihm ging es sicher nicht um eine Zurückdrängung der Religion aus der Politik. Ganz im Gegenteil, bei ihren recht erfolgreichen Versuchen, die Türkei zu islamisieren, hat die AKP immer wieder und erfolgreich betont, die eigentlich säkulare Kraft im Lande sei sie, da es ihr ja um die Befreiung der Religion von der staatlichen Bevormundung der Kemalisten gehe. Anders als Qaradawi verwendet die AKP den Begriff Säkularismus intelligent für ihre eigenen Zwecke.
Die Muslimbrüder könnten aus der Niederlage, die sie mit dem Sturz Mohammed Mursis in Ägypten erleiden mussten, die Lehre ziehen, dass Erdoğans Ratschläge ernst nehmen und sich für eine größere Unabhängigkeit religiöser Institutionen von staatlicher Kontrolle einsetzen sollten. Die angeblich säkularen Parteien würde das wohl in schwere Bedrängnis bringen. Mit welchen Argumenten sollten sie solchen Forderungen entgegentreten?

Denn wer in Opposition zu den Islamisten steht, muss deshalb noch lange nicht säkular sein. Eine Debatte, wie überhaupt ein säkularer Staat in einem Land mit sunnitisch-islamischer Mehrheitsbevölkerung aussehen könnte, hat noch nicht einmal begonnen. Zwar gibt es ein paar theoretische Überlegungen, auch von Seiten einiger islamischer Reformer, die Mehrheit der Bevölkerung aber glaubt weiterhin, dass Säkularismus etwas mit Gottlosigkeit und Sittenverfall zu tun habe, daher ein westliches Konzept sei, das in der islamischen Welt keinen Platz habe.
In Ägypten spricht man deshalb lieber vom »zivilen Staat«, ein Konzept, das bislang äußerst vage geblieben ist und sich ebenso gegen Theokratie wie gegen Militärherrschaft richten kann. Deshalb wird es sowohl von der Universität al-Azhar und verschiedenen islamistischen Gruppen als auch von den nichtreligiösen Parteien unterstützt. Ziviler Staat, das heißt ein bisschen Islam in der Verfassung, aber keine Kontrolle des Gesetzgebungsprozesses durch den Klerus. Der Islam bleibt offizielle Staatsreligion und soll auch im Alltag weiter eine wichtige Rolle spielen, aber Religion ist doch auch irgendwie Privatsache. Kurzum, der Begriff des »zivilen Staates« stellt eine Kompromisslösung dar, bei der tunlichst vermieden wird, grundlegende Fragen über das Verhältnis von Religion und Politik, Islam und Staat zu klären.