01.08.2013
Über den Fall Gustl Mollath

Wahrheit und Wahn

Der Fall Gustl Mollath beschäftigt die Medien, die Justizbehörden und den bayerischen Landtag.

In der vergangenen Woche hat das Landgericht Regensburg zwei Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Gustl Mollath, der seit sieben Jahren in der Klinik für Forensische Psychiatrie in Bayreuth untergebracht ist, als unzulässig abgelehnt. Mollath war 2002 von seiner damaligen Ehefrau wegen Körperverletzung angezeigt und im Gerichtsverfahren vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth 2006 dann freigesprochen worden: Der Angeklagte leide an einer paranoiden Wahnsymptomatik und sei daher schuldunfähig. Da er aber aufgrund seines psychischen Zustands eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, wurde eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. »Maßregelvollzug« nennt sich diese Art der juristischen Konsequenz für Straftaten. Dabei handelt es sich im Unterschied zur Strafe um eine Maßnahme zur »Besserung und Sicherheit« – genauer: der geistig-moralischen Besserung des Täters und der Sicherheit der Bevölkerung. Beide Aspekte sind ausschlaggebend dafür, wie lange ein »Patient« in der Psychiatrie zu verbleiben hat. Erst wenn medizinische Gutachter bei der jährlichen Überprüfung zu dem Schluss kommen, dass vom Insassen keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit ausgeht, kann dieser entlassen werden.
Seit Ende 2011 wird in der Presse verstärkt über den Fall Gustl Mollath berichtet, auch der Bayerische Landtag widmet sich dem Thema. Dabei entspringt das Interesse an Mollath nicht in erster Linie einer grundsätzlichen Kritik an der Zwangsbehandlung psychisch Kranker oder der Einschließung Straffälliger auf unbestimmte Zeit, sondern den besonderen Umständen des Falls und seiner juristischen Bearbeitung. Ein Jahr nachdem Mollaths – inzwischen geschiedene – Ehefrau ihn wegen Körperverletzung angezeigt hatte, erhob nämlich Gustl Mollath selbst Anzeige gegen seine Frau, einige ihrer Kollegen und Kolleginnen bei der Hypo-Vereinsbank sowie 24 Kunden der besagten Bank: wegen Steuerhinterziehung, Schwarzgeld- und Insidergeschäften. Während es hinsichtlich der Körperverletzung zur Anklage gekommen war, lehnte die Staatsanwaltschaft Mollaths eigene Anzeige ab, da seine Angaben für ein Ermittlungsverfahren zu unkonkret seien.

Die Hypo-Vereinsbank Nürnberg prüfte dennoch intern Mollaths Vorwürfe und kam in einem 2011 an die Öffentlichkeit gelangten Revisionsbericht zu dem Schluss: »Die Anschuldigungen des Herrn Mollath klingen in Teilbereichen zwar etwas diffus, unzweifelhaft besitzt er jedoch ›Insiderwissen‹. Alle nachprüfbaren Behauptungen haben sich als zutreffend herausgestellt.« Das bedeutet allerdings nur, dass Geldtransfers in die Schweiz und Provisionszahlungen an Petra Mollath und andere Mitarbeiter nachgewiesen werden konnten – nichts, was strafrechtlich relevant gewesen wäre.
Wie das Verhältnis von Wahn und Wahrheit hinsichtlich des »größten und dreistesten Schwarzgeldverschiebungsskandals« (Gustl Mollath in einem Brief an Edmund Stoiber) letztlich ist, bleibt nach wie vor Spekulation. Mollaths Briefe, die er an Ärzte und Persönlichkeiten aus Politik und Justiz geschickt hat – sie sind auf seiner Homepage einsehbar –, wirken ziemlich wirr und tragen verschwörungstheoretische Züge. Auch kann weiterhin nur darüber spekuliert werden, welcher Zusammenhang zwischen der seit sieben Jahren andauernden psychiatrischen Unterbringung Mollaths und einer möglicherweise von ihm aufgedeckten Steuerhinterziehungs- und Schwarzgeld­affäre besteht.

Die Journalisten Uwe Ritzer und Olaf Przybilla, die regelmäßig für die Süddeutsche Zeitung über den Fall berichten, haben vor kurzem ein Buch mit dem Titel: »Die Affäre Mollath – Der Mann, der zu viel wusste« herausgebracht. »Der Eindruck drängt sich auf«, so schreibt Ritzer in der Süddeutschen Zeitung, »dass es einigen Menschen perfekt passte, dass dieser Querkopf mit dem Insiderwissen über illegale Geldgeschäfte in der Psychiatrie verschwand.«
Das Landgericht Regensburg sieht die Sache anders und schreibt in seiner aktuellen Entscheidung zur Ablehnung des Wiederaufnahmeantrags: »Auch (der Revisionsbericht der Hypo-Vereinsbank) ist nicht geeignet, das Urteil zu erschüttern, da es im Urteil bei der Überprüfung der Schuldfähigkeit von Herrn Mollath explizit für möglich gehalten wird, dass es Schwarzgeldverschiebungen von verschiedenen Banken in die Schweiz gegeben hat.« Wahnhaft sei daran letztlich, so ist es im Gerichtsurteil von 2006 nachzulesen, dass der Angeklagte fast alle Personen, die mit ihm zu tun hätten, völlig undifferenziert mit diesem Skandal in Verbindung bringe – so zum Beispiel seinen psychiatrischen Gutachter, den Gerichtsvollzieher, einen Fuhrunternehmer und einen Immobilienhändler.

Das Desinteresse seitens der Justiz an Mollaths mutmaßlichen Entdeckungen ist nicht das einzige, was dem Gericht vorgeworfen wird – ein Teil des soeben abgewiesenen Antrags auf Wiederaufnahme betrifft Verfahrensfehler und Sorgfaltsmängel, die das Gericht sogar zugibt, aber nicht für ausreichend hält –, aber es ist wohl der Aspekt am Fall Mollath, der die Gemüter am meisten erregt. Mollath kann auf zahlreiche Unterstützer zählen, darunter die aus Grünen, Freien Wählern und der SPD bestehende Opposition im Bayerischen Landtag sowie die Piratenpartei. Am 27. Juli fand eine Kundgebung unter dem Titel »Recht und Freiheit für Gustl Mollath – ein bayerischer Justiz- und Psychiatrieskandal« in Nürnberg statt, dem Bayerischen Rundfunk zufolge nahmen 500 Personen daran teil. Für viele ist der Fall Mollath nur der Anlass für eine grundsätzliche Kritik an der bayerischen Justiz, immer wieder heißt es, das Vertrauen in den Rechtsstaat sei erschüttert. Auch Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) musste inzwischen ihre Haltung ändern. Nachdem sie lange die Entscheidungen der bayerischen Justiz verteidigt hatte, stellt sie inzwischen selbst die Verhältnismäßigkeit einer fortdauernden Unterbringung Mollaths infrage.
Als eine von Wenigen hatte Ende 2012 in einem Artikel auf Spiegel Online die Journalistin Beate Lakotta den Tenor der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Fall Mollath kritisiert. In den Medien werde ein Generalverdacht gegen Institutionen des Rechtsstaats verbreitet, die Psychiatrie als »dunkle Zone des Rechts« dämonisiert – und Mollath vom Publikum als »Bankenkritiker« und »Deutscher Mandela« gefeiert. Auf der Basis ausführlicher Recherchen kam Lakotta zu der Einschätzung, dass es für viele angebliche Ungereimtheiten durchaus Erklärungen gebe; zudem sei Mollaths zwangsweise Unterbringung, wie es das Gesetz verlangt, jedes Jahr sorgfältig überprüft worden. Lakotta vertrat die These, dass man es im Fall Mollath eher nicht mit einem Justizskandal zu tun habe, sondern mit einer skandalisierenden Berichterstattung. Daraufhin fegte, wie sie selbst eine Woche später im Spiegel-Blog schrieb, ein »Shitstorm« über sie hinweg.
Festzustellen ist: Diese Geschichte eignet sich, bei allem, was im damaligen Verfahren gegen Mollath tatsächlich falsch gelaufen sein mag, und bei aller berechtigten Kritik an einem unverhältnismäßig langen Einschluss in der Psychiatrie, nur zu gut als Projektionsfläche für Verschwörungstheorien. Die Tatsache, dass Mollath ursprünglich wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung gegenüber seiner Ehefrau angeklagt und als weiterhin gefährlich eingestuft worden war, wird in der medialen Auseinandersetzung gerne vergessen. Zudem war ihm zur Last gelegt worden, am Auto seiner Frau, ihrer Anwälte und weiterer Personen auf gefährliche Weise die Reifen aufgeschlitzt zu haben. Trotzdem ist immer wieder die Rede davon, dass Mollath »unschuldig« hinter Gittern beziehungsweise Klinikmauern sitze. Selbst wenn die Schwarzgeld- und Steuerhinterziehungsvorwürfe Mollaths in vollem Umfang der Wahrheit entsprächen, wäre damit noch nicht gesagt, dass die gerichtliche Entscheidung, ihn wegen »Gefahr für die Allgemeinheit« in die Psychiatrie zu überweisen, lediglich Teil eines Komplotts war, der Mollath mundtot machen sollte.

Ob eine Gefängnisstrafe nicht die angemessenere Lösung gewesen wäre und welche Fälle überhaupt eine psychiatrische Unterbringung rechtfertigen, deren Ende nicht abzusehen ist, bleibt dennoch fragwürdig. Insassen der forensischen Psychiatrie sind hinsichtlich ihrer Verweildauer dort von den jährlichen medizinischen Gutachten abhängig, was bedeutet, dass sie unter Umständen länger eingeschlossen bleiben, als sie im Falle der Schuldfähigkeit im Gefängnis gesessen hätten (Jungle World 37/2010). Zudem haben sich die Einweisungen in die Psychiatrie nach Paragraph 63 StGB innerhalb der vergangenen 16 Jahre mehr als verdoppelt. Wie die Taz berichtete, kritisierte der baden-württembergische Sprecher der Neuen Richtervereinigung, Johann Bader, dass eine Unterbringung in der Psychiatrie schon bei geringen Delikten wie Hausfriedensbruch möglich sei – was dem im Paragraphen 62 StGB festgeschriebenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit offensichtlich widerspricht. Er sehe die immer häufigere Anordnung des Maßregelvollzugs als Symptom einer »ängstlichen Gesellschaft, die nicht mit Risiken umgehen kann«.
Die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung stehen immer mehr im Vordergrund, die Entmündigung des Straftäters und die Ausweitung psychiatrischer Zwangsbehandlung werden dafür in Kauf genommen. Eine psychologische Herangehensweise an Straftaten bedeutet zwar einerseits, der Tatsache gerecht zu werden, dass kriminelle Handlungen unter anderem aus der in die Persönlichkeit eingegrabenen Geschichte des Täters erwachsen und der tatsächlichen Handlungsfreiheit des Einzelnen damit Grenzen gesetzt sind. Andererseits bliebe dem Straffälligen mit der Annahme, er sei für sein Handeln voll verantwortlich und damit schuldfähig, zumindest die Anerkennung als entscheidungsfähiges Subjekt – und eine sichere Perspektive auf Entlassung. Solange die Justiz sich weigert, das Verfahren gegen Mollath noch einmal aufzurollen, wird vermutlich nicht zu klären sein, ob es sich bei diesem Fall tatsächlich um »einen der größten Justiz-, Psychiatrie-, Banken- und Politskandale der Bundesrepublik« handelt, als der er oft dargestellt wird. Doch von Scheitern kann nicht die Rede sein: Bereits Anfang 2012 war eine Verfassungsbeschwerde aufgrund der mangelnden Verhältnismäßigkeit von Mollaths Unterbringung eingereicht worden, Mollaths Anwalt Gerhard Strate wird nun eine weitere Beschwerde vorbringen. Im Juni forderte das Bundesverfassungsgericht vom bayerischen Justizministerium eine Stellungsnahme zum Fall Mollath. Eventuell wird demnächst also eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Mollaths siebenjährige Psychiatrieaufenthalt ein Ende setzen.