Über den Erfolg von True-Crime-Büchern und -Filmen

Der 100fache Mörder ist der Gärtner oder der Finanzberater

Nicht zuletzt durch den Erfolg der Bücher Ferdinand von Schirachs hat das in Deutschland lange vernachlässigte True-Crime-Genre an Bedeutung gewonnen. Die wichtigsten Vertreter müssen aber nach wie vor aus dem Amerikanischen übersetzt werden.
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Als Richard Kuklinski im Dezember 1986 festgenommen wird, hat er mutmaßlich über 100 Menschen ermordet. Erschossen, erstochen, vergiftet, erschlagen, zerbombt. Manchmal beging er seine Taten als professioneller Auftragsmörder, manchmal wollte er vorangegangene Morde vertuschen, und manchmal handelte er aus reinem Jähzorn. Sein erstes Opfer war ein Junge aus seiner Nachbarschaft in New Jersey, wo der junge Richard in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Er war 13 Jahre alt, als er seinem Opfer auflauerte, um den wesentlich größeren und auch älteren Nachbarn aus Rache für dessen ständige Hänseleien mit einer Holzstange zu verprügeln. Richard schlug so lange zu, bis der andere sich nicht mehr rührte. Am nächsten Morgen fand man ihn tot auf.
Zum Zeitpunkt seiner Festnahme war Richard Kuklinski 51 Jahre alt, verheiratet und dreifacher Vater. Seine freiberufliche Tätigkeit als Finanzberater und Devisenhändler wirkte manchmal etwas halbseiden. Probleme mit der Justiz bekam er deswegen allerdings nie. Trotz der Unzahl grausiger Morde wurde kein einziger Augenzeuge gefunden, der eine Tat beobachtet hätte. Stets hatte Kuklinski detailliert geplant und umsichtig gehandelt. Weil er seine Opfer notfalls auch so lange in der Kühltruhe einfror, bis die Ermittlungen eingestellt wurden oder zumindest ein genauer Tatzeitpunkt forensisch nicht mehr ermittelt werden konnte, ging er als »Iceman« in die Kriminalgeschichte ein. Ohne Zeugen aber konnte gegen den Massenmörder Kuklinski keine Todesstrafe verhängt werden.
Der Prozess gegen Richard Kuklinski fand 1987 in Hackensack/New Jersey statt und endete mit einer Verurteilung zu insgesamt 60 Jahren Haft. Eine Verkürzung durch Bewährungsanträge wurde ausgeschlossen. Am 5. März 2006 starb Kuklinski 70jährig im Gefängnis von Trenton/New Jersey eines – wie die Obduktion ergab – natürlichen Todes.
Kuklinski arbeitete in der Gefängnisbibliothek und vermied Kontakt zu anderen Häftlingen so weit wie möglich. Mehrfach soll ein Mörder namens John List versucht haben, sich mit ihm anzufreunden. List hatte in einem ­bizarren Ritualmord seine Frau, die gemeinsamen Kinder und seine Mutter ermordet, bevor er 14 Jahre unentdeckt in einem anderen Staat lebte. Kuklinski hat allerdings näheren Kontakt zu List stets abgelehnt. Dass jemand Gewalt ­gegen seine eigene Familie anwendet, ist für den mutmaßlich mehr als hundertfachen Mörder moralisch untragbar. Andererseits lehnt er es aber auch ab, Kontakt zu seinem eigenen Bruder aufzunehmen. Obwohl Joseph Kuklinski, nur zwei Meilen vom Staatsgefängnis entfernt, im Trenton State Hospital inhaftiert ist. In einer Abteilung für kriminelle Wahnsinnige.
Die Geschichte von »Iceman« ist soeben ­erschienen im Hannibal-Verlag in Innsbruck, einem kleinen Haus, das auf Populärkultur, Band- und Musikerbiographien und True Crime spezialisiert ist.
Geschrieben wurde das Buch vom US-Amerikaner Anthony Bruno, der 1988 mit einer Kriminalroman-Reihe begann, die ihn in der Szene berühmte machen sollte. Jeder Titel enthält das Wort »Bad«: »Bad Luck«, »Bad Business«, »Bad Moon« hießen die Bücher. Außerdem novellisierte Bruno das Drehbuch des Blockbusters »Seven« mit Brad Pitt und Morgan Freeman von 1995.
Bruno war fasziniert von True Crime, der literarischen Bearbeitung authentischer Krimi­nalfälle, und der Fall Kuklinski hatte alles, wonach das Genre verlangte: unvorstellbar grausame und teilweise absurde Verbrechen; einen Täter mit bürgerlicher Fassade, der viele Jahre nicht gefasst werden konnte und bis kurz vor seiner Verhaftung nicht einmal verdächtigt wurde. Zudem war der Fall offiziell abgeschlossen, als Bruno sich seiner annahm. Der für True-Crime-Erfolge unbedingt notwendige Grusel konnte sich also einstellen, ohne dass man sich nachts im eigenen Bett wirklich sorgen musste, dass Richard Kuklinski persönlich vorbeischauen würde. Und nicht zuletzt erwies sich Kuklinski als erfreulich eitel. Er ließ sich mehrfach in seinem Hochsicherheitstrakt vom Autor besuchen und interviewen und lächelte 1991 für die TV-Dokumentation »The Iceman Tapes« bereitwillig in die Kamera. Der »Iceman« war also ein perfekter Fall für True Crime und wurde 2012 mit Michael Shannon und ­Winona Ryder in den Hauptrollen bereits verfilmt. In Deutschland lief der Film allerdings noch nicht in den Kinos.
Von jeher gilt True Crime als ein literarisches Genre, das bei Frauen und Männern, unab­hängig von deren Bildungsstand, erfolgreich ist. Ob sich die Autoren der Dokumentation realer oder historischer Fälle widmen oder ob sie ­diese Fälle literarisch bearbeiten, hat ebenfall keinen Einfluss auf die Popularität. Ebenso zweitrangig scheint es zu sein, ob True Crime den Kunden zwischen Buchdeckeln, auf dem Fernsehschirm oder auf der großen Leinwand dargeboten wird. Wenn man bedenkt, dass die seit über einem Jahrzehnt laufenden Fernsehserien der »CSI«-Reihe ebenfalls für sich ­beanspruchen, auf realen Fällen zu basieren, ist True Crime also ständig konsumierbar. True Crime ist zu einem der erfolgreichsten Kulturgüter der Gegenwart geworden. Dabei scheint eines klar: True Crime ist in den USA entstanden, und ohne die USA wäre das Genre nicht denkbar.
Genau diese Einschätzung aber ist falsch. Widerlegt wurde sie von der US-amerikanischen Autorin und Essayistin Joyce Carol Oates. Sie weist in ihrem 1999 im New York Review of Books erschienenen Artikel »The Mystery of JonBenét Ramsey« darauf hin, dass die Anfänge des ­Genres im späten 19. Jahrhundert in England zu finden sind.
1889 begann dort der 19jährige Schotte William Roughead, der als Auszubildender in einer Kanzlei arbeitete, Artikel über die aufsehenerregendsten Mordfälle am High Court of Justiciary in Edinburgh zu schreiben. Geweckt wurde das Interesse von Roughead, der später Rechtsanwalt wurde, durch den Fall Jessie King, einer Babysitterin, die eines der ihr anvertrauten Kinder ermordete. Seine Erschütterung über den Fall schilderte er erst viele Jahre später. 1932 ­erschien sein Essay »My First Murder: Featuring Jessie King«. Fasziniert von Mordfällen, beendete Roughead seine Ausbildung. Von nun an war er Stammgast im Publikum bei Mordprozessen, und sechs Jahrzehnte lang schrieb er zunächst Artikel, später auch etliche Bücher über die zahllosen Kriminalfälle, deren Verhandlung vor Gericht er live verfolgt hatte. Neben seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit beriet Roughead 20 Jahre lang Arthur Conan ­Doyle und andere Krimiautoren in juristischen Fachfragen. In den zwanziger Jahren begann der Schotte außerdem eine langjährige Korrespondenz mit dem US-Amerikaner Edmund Pearson. Der gleichaltrige New Yorker Bibliothekar und Kriminalautor hatte sich 1924 mit ­seinem Buch »Studies in Murder« ebenfalls dem True-Crime-Genre zugewandt. Man kann also mit Recht behaupten, dass Roughead auch dem Genre in den USA Starthilfe gab.
Laut Joyce Carol Oates würde es das Genre ohne die jahrzehntelange Pionierarbeit des Schotten in seiner heutigen Form nicht geben. In ihrem schon erwähnten Artikel von 1999 kommt sie zu dem Schluss: »Der damalige Einfluss von Roughead war enorm, und seither wächst und gedeiht das Genre. Roughead, der von Henry James sehr geschätzt wurde, schrieb in einem Stil, der Intelligenz und kluge Skepsis mit einem Gefühl für altmodisches Erzählen und Moralität verbindet. Seine Darstellung der Mordfälle und Gerichtsprozesse ist so unmittelbar und pointiert wie bei einer Märchenerzählung.«
Eine weitere Fehleinschätzung lautet, dass sich das Genre in Deutschland nicht durchsetzen konnte. Jedenfalls, bevor der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach in den letzten Jahren mit Fallsammlungen wie »Schuld« oder seinem ­Roman »Der Fall Collini« zum ersten deutschen Star des Genres wurde.
Blickt man einige Jahre zurück, findet man allerdings Vorgänger von Schirach in der DDR. Der Krimiautor und Dramatiker Hans Pfeiffer etwa (geboren 1925 in Schweidnitz, gestorben 1998 in Wurzen) widmete sich vom Ende der Sechzigern bis zu seinem Tod in etlichen Büchern den rechtsmedizinischen Fallsammlungen. Dabei galt sein Hauptinteresse der Pathologie, und zwar als Instrumentarium der Aufklärung wie auch der Vertuschung von Morden. Insbesondere nach der Wiedervereinigung, also in seinem letzten Lebensjahrzehnt, brachte er in schneller Folge Bücher mit Titeln wie »Die Spiele der Toten – Ungeklärte Todesfälle auf dem Seziertisch« (1995), »Der Zwang zur Serie – Serienmörder ohne Maske« (1996) oder »Der hippokratische Verrat – Mörderische Ärzte« (1997) heraus.
Doch obwohl Pfeiffer stets hervorragend recherchierte und spannend schrieb, erging es ihm wie vielen Autoren und Künstlern seines Alters: Die Mauer war gefallen, zwei deutsche Staaten mussten zusammengenäht werden. Ein Mann wie Pfeiffer, der seine Fälle in erster Linie aus der gerade Geschichte gewordenen DDR bezog, galt plötzlich als altmodischer Chronist, der über aktuelle Themen nichts zu sagen hatte. Nach seinem Tod war der fleißige Vielschreiber bald vergessen.
Ähnlich erging es dem 1939 geborenen und 2006 als Hauptkommissar im Ruhestand in Beiersdorf/Brandenburg verstorbenen Wolfgang Mittmann. Mittmann hatte 34 Jahre lang Dienst als Kriminalpolizist bei der DDR-Transport­polizei getan, und 2004 hatte ihm der Bund Deutscher Kriminalbeamter die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Geschrieben hatte Mittmann schon als Angehöriger der Volkspolizei regelmäßig – Kriminalromane und -erzählungen in allen einschlägigen ostdeutschen Taschenbuchreihen. Außerdem war er begeisterter Sammler dieses Genres, und er verfasste eine vollständige Bibliographie der DDR-Kriminalliteratur, die er 1991 gemeinsam mit dem Literaturwissenschaftler Reinhard Hillich herausgab.
Nach seiner Pensionierung im Jahr 1990 begann er sich wahren Verbrechen aus der DDR zuzuwenden. Mittmann, der im Verlag Das Neue Berlin veröffentlichte, bemühte sich, seine Funde mit penibler, polizeilicher Recherche zu untermauern und die gewonnenen, gesicherten Erkenntnisse seinen Lesern in eindringlichem Erzählton nahezubringen. Mittmann schuf die fünfbändige Reihe »Große Fälle der Volkspolizei«, die natürlich ebenfalls nur noch von historischem Interesse ist.
Neuerdings wächst das Interesse an True Crime in Deutschland. Im Februar 2012 nämlich ­meldete der Piper-Verlag, dass sich »Verbrechen«, »Schuld« und »Der Fall Collini«, die drei neusten Bücher seines Autors Ferdinand von Schirach, über eine Millionen Mal verkauft haben und in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden.
Während Pfeiffer und Mittmann ihre Geschichten aus der Perspektive des Polizisten beziehungsweise des Pathologen erzählen, schildert der Strafverteidiger von Schirach die Fälle aus der Sicht des Juristen. Jeder Prozess hat nämlich eine Geschichte, die der Öffentlichkeit normalerweise verborgen bleibt: die taktischen Absprachen zwischen Anwalt und Mandant, die zur Prozessstrategie gehören, oder auch die Absprachen und nichtöffentlichen Besprechungen zwischen Richtern und Anwälten. Sie haben oftmals nicht nur erheblichen Einfluss auf die Urteile, sondern können auch Hintergründe ­eines Verbrechens offenbaren, die vor Gericht niemals besprochen werden. Der Leser von Schirachs Büchern bezieht seine Spannung also auch aus dem Gefühl, dass er mit dem Kauf des Buches geheimes Wissen darüber erwirbt, wie es »wirklich« gewesen ist. Wie stark der Glaube an Justiz und Rechtsstaatlichkeit durch Schirachs Erzählweise erschüttert wird, lässt sich nur erahnen.
Denn die Schirach-Methode hat eine Schwachstelle: Natürlich ist der Autor an die Schweigepflicht seines Berufsstandes gebunden. Man darf also bei seinen Kriminalfällen davon ausgehen, dass sie genau so garantiert nicht stattgefunden haben.
Auf jeden Fall ist den Verlagen unerwartet eine Cash Cow zugelaufen, die gehörig gemolken wird. Beinahe wöchentlich erscheinen mittlerweile True-Crime- und True-Crime-Fiction-Bücher, die oftmals von Schirachs Titel bis hin zum Coverdesign kopieren. Dass die Bücher unter dem Druck des Marktes nicht immer sorgfältig recherchiert sein können, liegt auf der Hand.
»Ich arbeite direkt an der Front und habe viele Facetten und Abgründe menschlicher Verhaltensweisen kennengelernt«. So unverhohlen prahlt der Polizist Toni Feller (»Das Gesicht des Todes«) mit seinem Herrschaftswissen. Seine »authentischen Mordfälle« werden bereits in der 4. Auflage ausgeliefert.
»Die Wirklichkeit ist packender als jeder Krimi«. So wirbt der Heyne-Verlag für seinen Titel »Abgründe – Wenn aus Menschen Mörder ­werden«, vom »legendären Mordermittler« Josef Wilfing. Den wahrscheinlich bis vor kurzem auch bei Heyne niemand gekannt haben dürfte. Aber weil jedem klar ist, dass der Erfolg in kurzer Zeit in sich zusammenbrechen kann, wird bis dahin alles nachgeschoben, was bis drei in Hörweite eines Autors gestanden hat.
Aber manchmal geht es jetzt schon schief. Obwohl alle Beteiligten alles richtig gemacht haben. Ebenfalls im Hannibal-Verlag ist gerade »Gangster Squad« erschienen. Das Buch zum Film über eine gleichnamige Polizeieinheit, die 1949 in Los Angeles gegründet wurde, um mit deutlich besserer Bewaffnung und deutlich weniger Vorschriften der nach der Stadt greifenden Mafia um Mickey Cohen entgegenzutreten. Das Buch zum Film wurde ebenso wie das Drehbuch von Paul Lieberman geschrieben. ­Einem hoch dekorierten Journalisten, der für seine Arbeit bei der Los Angeles Times schon zweimal mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Obwohl Sean Penn die Hauptrolle spielt, schaffte es der Film in den USA nicht einmal, seine Produktionskosten von 60 Millionen Dollar einzuspielen, und in Deutschland wird der Film nicht unter den 50 erfolgreichsten Premieren des ersten Halbjahrs 2013 gelistet.
Trotzdem ist es ein gutes Buch, das der Hannibal-Verlag gerade im Programm hat. Es basiert auf Hunderten von Interviews. Ein echter Tipp für alle, die wissen wollen, wie es wirklich war. Was auch immer »wirklich« heißen mag.

Anthony Bruno: Der Iceman – Die Jagd auf Amerikas brutalsten Killer. Aus dem amerikanischen Englisch von Han Schuld. Hannibal Crime, Innsbruck 2013, 272 Seiten, 19,99 Euro

Paul Lieberman: Gangster Squad. Knallharte Cops, die Mafia und die Schlacht um L.A. Hannibal Crime, Innsbruck 2013, 496 Seiten, 19,99 Euro