Berichtet aus Mali über die Präsidentschaftswahl

Malis Vierte Republik

Ibrahim Boubacar Keïta hat die Präsidentschaftswahlen in Mali gewonnen. Er ist mit den unterschiedlichsten Erwartungen von Linken und Rechten, Säkularen und Islamisten konfrontiert. Nach dem Bürgerkrieg und der internationalen Intervention gegen Jihadisten im Norden des Landes erwartet die Bevölkerung einen Neuanfang.

An diesem Sonntagabend kurz vor Mitternacht sind viele Läden in Bamako noch offen, wie oft zu später Stunde – die malische Hauptstadt kommt in der Regel erst spät zur Ruhe. Männer, Frauen und Kinder beleben die Stadtteile. Wegen dieser Präsenz fühlt man sich nachts überall in Sicherheit, außer vielleicht im dann menschenleeren Geschäftszentrum von Bamako, obwohl fast nirgendwo Sicherheitskräfte zu sehen sind.
Auch einige Stände der Straßenhändlerinnen, an denen Obst, Eier oder Hirsekuchen verkauft werden, sind noch aufgebaut – nach zweieinhalb Feiertagen zum Ende des Fastenmonats Ramadan erwacht das öffentliche Leben wieder. Das Fest des Fastenbrechens, in der Landessprache Bambara Seli Fitini, wird meist zu Besuchen bei Nachbarn, Freunden und Verwandten genutzt, und viele Läden bleiben geschlossen. In der Nacht zum Montag herrscht wieder das übliche Leben in den Stadtteilen. Aber die Gespräche sind besonders lebhaft. An jeder zweiten Tür läuft ein Transistorradio, in Mali das wichtigste Massenmedium.
Aber nicht die Monsunzeit mit ihren tropischen Gewittern und starken Regenfällen ist das Gesprächsthema. Wahlbüro für Wahlbüro, Stadt für Stadt werden im Radio die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl durchgegeben. Stundenlang. Jeder Wahlbezirk mit Wahlbüro umfasst 300 bis 500 Stimmberechtigte, und jedes Einzelergebnis ist im Radio zu hören. Viele hören konzentriert mit. Wer Beziehungen zu diesem oder jenem Wohnort hat, wird sich die Zahlen notieren.
Ginge es nach den Ergebnissen aus Bamako, dann hätte Präsidentschaftsbewerber Ibrahim Boubacar Keïta – allgemein nur »IBK« genannt – seinen Gegenkandidaten Soumaïla Cissé wohl mit 80 zu 20 Prozent besiegt. Auch wenn das amtliche Endergebnis noch nicht bekannt ist: Am Wahlsieg von Keïta gibt es keinen Zweifel mehr. Am Dienstag gratulierte ihm Cissé im malischen Fernsehen zu seinem Erfolg.
Bereits im ersten Wahlgang am 28. Juli hatte Keïta in Bamako mit über 50 Prozent der Stimmen deutlich in Führung gelegen. Landesweit lag er nach dem Endergebnis, das fünf Tage später bekannt gegeben wurde, mit 39,8 Prozent vor Soumaïla Cissé, der 19,7 Prozent erhielt. Der Rest der Stimmen verteilte sich auf 24 andere Kandidaten und eine Kandidatin. Die mit Abstand wichtigste Zahl aus dem ersten Wahlgang aber betraf die Wahlbeteiligung. Zuerst wurde sie mit 53,5 Prozent angegeben, im amtlichen Endergebnis dann mit 49 Prozent.
Es handelt sich um einen Rekordwert. An der vorigen Präsidentschaftswahl im Jahr 2007 beteiligten sich nur 26 Prozent der Stimmberechtigten, und dies bei zahlreichen damals beanstandeten Manipulationen. Allem Anschein nach ist diese Phase der allgemeinen politischen Gleichgültigkeit und Resignation vorüber. Die Besetzung der riesigen Nordhälfte des Landes durch Jihadisten und mit ihnen verbündete Tuareg-Separatisten Anfang 2012, die darauffolgende Staatskrise und dann die militärische Intervention zu Anfang dieses Jahres haben viele Einwohner aufgerüttelt und den Wunsch nach einem politischen Neubeginn ausgelöst.

Wahlkampf in Bamako
Wie in vielen Ländern der sogenannten Dritten Welt sind VW-Busse, die als Sammeltaxis dienen, das wichtigste öffentliche Verkehrsmittel in Bamako. Konkurrenz manchen ihnen die zahlreichen knallgelben Taxis, vor allem aber eine Unzahl von Motorrollern. Gefahren wird mit oder ohne wehende Kopfbedeckung, mit oder ohne Kind im Tragetuch auf dem Rücken oder vorne auf dem Lenker. Fast immer ohne Sturzhelm. Wegen Seli Fitini heizen auch meine Gastgeber und ich zwei Tage lang durch die Viertel von Bamako. An diesem Tag geht es ihnen darum, möglichst viele Familienangehörige und Freunde zu besuchen: Am Fest des Fastenbrechens muss man sich treffen, sei es auch nur kurz, und um Verzeihung für alle bösen Taten aus dem vergangenen Jahr bitten. Gruppen von Kindern sind unterwegs und sagen Verse dazu auf, um ein wenig Kleingeld dafür zu bekommen.
Viele Haushalte in der malischen Hauptstadt bekunden offen ihre politischen Sympathien, indem sie Plakate ihres Favoriten in den Eingangsbereich kleben. Ähnlich halten es viele Taxifahrer, mit Aufklebern auf dem Armaturenbrett oder am Rückfenster. In den ärmeren Stadtteilen von Bamako wie Niamakoro gab es kaum Sympathiebekundungen für Soumaïla Cissé. In den zehn Tagen vor der Stichwahl war ein Aufkleber für »IBK« in etwa jedem dritten benutzten Taxi zu finden, solche für Cissé sahen wir nicht.
Doch am Donnerstagabend treffen wir im Stadtteil Daoudabougou auf einen Sympathisanten von Soumaïla Cissés – einen pensionierten Drogenpolizisten, der einen Innenhof mit Nutztieren bewohnt, wie sie in Bamako üblich sind. Polizisten sind hierzulande relativ arm und gelten weithin als »Söhne des Volkes«. Die Drogenfahndung ist bedeutend: In Mali werden zwar kaum Drogen konsumiert, doch es ist ein wichtiges Durchgangsland für Kokain auf seiner Reise von Südamerika über die westafrikanischen Küstenstaaten Guinea oder Guinea-Bissau in Richtung Mittelmeerraum.
Dass die alte Oligarchie, die bis 2012 unbestritten das Land führte, aus wirtschaftlichen Interessen in diese mafiösen Handelsnetzwerke verstrickt war, trug mit zur Staatskatastrophe bei. Warlords aus den Reihen der Tuareg, die phasenweise mit den Jihadisten kooperierten, spielen auch eine wichtige Rolle im transnationalen Drogen-Transithandel, der frühere Präsident »ATT« (Amadou Toumani Touré, im Amt von 2002 bis 2012) hielt jahrelang seine schützende Hand über sie. Dies ist einer der Gründe dafür, warum viele Malier sich von der alten Staatsmacht verraten fühlen. Da ist sich der Drogenpolizist im Ruhestand mit den meisten seiner Landsleute einig.
Der Polizist a. D. fühlt sich vom »wirtschaftlichen Sachverstand« Cissés anzogen: Er könne das Land zu mehr Wohlstand führen und werde Korruption und Vetternwirtschaft bekämpfen. Die Vergangenheit des 63jährigen als Wirtschaftsminister in den neunziger Jahren und als Kommissionspräsident der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA) von 2004 bis 2011 bezeuge seine Fähigkeiten.
Die meisten Menschen in Bamako, die wir treffen, sehen dies anders. Für sie belegen die bislang von Soumaïla Cissé ausgeübten Funktionen eher seine Zugehörigkeit zur alten Oligarchie. In ihren Augen betrieb er eine Politik vorwiegend für die Reichen, und dies mit einem vergleichweise hohen Gehalt, das dem für ausländische Fachkräfte entsprach.
In den Unter- und Mittelschichten ist es eher »IBK«, den man wegen seiner Vergangenheit als vertrauenswürdig oder zumindest als das berühmte kleinere Übel betrachtet – mit dem auch in Mali politische Entscheidungen begründet werden. Der 68jährige Keïta war von 1994 bis 2000 Premierminister des Landes. Doch er verstand es, den Eindruck eines vergleichsweise korrekten Umgangs mit den öffentlichen Finanzen und einer geringen persönlichen Korrumpierbarkeit zu hinterlassen. 2002 trat er bei der Präsidentschaftswahl an und landete hinter dem Wahlsieger Touré und Soumaïla Cissé, der ebenfalls kandidiert hatte, auf dem dritten Platz.
Im diesjährigen Wahlkampf trat Keïta mit dem Versprechen an, eine »Vierte Republik« in Mali zu begründen, deren Konturen aber eher unscharf blieben. Die bisherige Dritte Republik hat in den Augen vieler Malierinnen und Malier abgewirtschaftet. Wegen Korruption, mafiöser Tendenzen und des Eindrucks, von der alten politischen Führung gegen Warlords – mit diesen wird in breiten Kreise die separatistische und in den Drogenhandel verstrickte Tuareg-Bewegung MNLA (Nationale Befreiungsbewegung für Azawad) assoziiert – und Jihadisten im Stich gelassen worden zu sein, wird allgemein ein Neuanfang gewünscht. Aus diesem Grund traf die Wahlkampfrhetorik von »IBK« auf relativ breite Zustimmung.
Das Votum für ihn war dabei in erster Linie eines gegen die »alten Mächte«, die viele auch von Soumaïla Cissé verkörpert sahen, selbst wenn dieser sich als Kandidat des »Bruchs mit dem ­Alten« darstellte – im Namen einer »Modernität«, die in erster Linie ein Synonym für Privatisierungen und die Reduzierung öffentlicher Ausgaben zu sein schien, wofür er im Gegenzug die Schaffung von Arbeitsplätzen versprach.

Die malische Linke
Der Wahlsieger Keïta wird widersprüchliche Erwartungen zu erfüllen haben. Auf der einen Seite unterstützten ihn unterschiedliche Strömungen der malischen Linken als kleineres Übel – das Scheitern der »Generalstände der Linken« in Ségou im April hatte ihre organisatorische Einigung verhindert. In den Wochen vor der Wahl entstand das Rassemblement pour la justice sociale (RJS, Sammlung für die soziale Gerechtigkeit). Es unterstürzte Keïta bereits vor dem ersten Wahlgang, hatte jedoch während der Wahlkampagne erhebliche Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen: Es gab ein Kooperationsabkommen mit Keïtas Partei, der »Sammlung des malischen Volkes« (RPM), deren Funktionäre jedoch den lästigen Partnern oft kein Mitspracherecht einräumten. Zum RJS zählen auch Aktivisten der auch in Europa bekannten Association malienne des expulsés (AME), eine Vereinigung, die aus Europa, aber auch aus Libyen oder Angola abgeschobene malische Migranten sozial und psychisch betreut sowie politisch organisiert.
Die ehemals maoistische Partei Afrikanische Solidarität für Demokratie und Unabhängigkeit (SADI) hatte in der ersten Runde ihren eigenen Kandidaten Oumar Mariko, der 2,6 Prozent erhielt, unterstützte jedoch in der zweiten Runde Keïta. Sie fordert von ihm vor allem, mit der Demokratisierung Ernst zu machen und sich auf keine Verhandlungen über einen Autonomie- oder sonstigen Sonderstatus mit dem MNLA im Norden einzulassen. Von dort wurden zwar die Jihadisten weitgehend vertrieben, die sich heute überwiegend in Südlibyen und im Grenzgebirge zwischen Tunesien und Algerien befinden dürften. Doch die in diverse mafiöse Geschäfte verstrickten Warlords des MNLA, die einige Monate mit ihnen verbündet gewesen waren, sind noch da – teilweise auch mit Unterstützung der französischen Politik (Jungle World 26/2013). Der MNLA hat zwar offiziell auf die Forderung nach Unabhängigkeit für den Norden verzichtet, verlangt ­jedoch eine Autonomie, was auch bei der französischen Regierung auf offene Ohren stößt.
In dieser Frage steckt sicherlich noch viel Konfliktstoff. Weniger umstritten, zumindest derzeit, ist der Status der internationalen Truppen. Die UN-Mission für die Stabilisierung Malis (Minusma) ist mit über 11 000 Soldaten im Land präsent, man sieht sie am Flughafen von Bamako, seltener in der Stadt. Zudem sollen mindestens 1 000 französische Soldaten als »Parallelstreitkraft zur Terrorbekämpfung« längerfristig bleiben. Derzeit ist aus der Frage der internationalen Truppen die Luft heraus, wie der StudentBoubacir* erklärt: »Ursprünglich sollte ein Gutteil auch in Südmali stationiert sein«, sagt er, »und wir fürchteten, sie würden dann eher als Garantie gegen einen Präsidentensturz dienen – eingedenk der schlechten Erfahrungen mit Touré. Das wollten die Staatschefs der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Nunmehr wurde eine Regel gefunden, wonach 80 Prozent der UN-Truppe im Norden und nur 20 Prozent im Süden bleiben sollen. Im Augenblick können wir damit leben.«
Die religiösen Kräfte
Unterstützt wurde Keïta auch von einem Zusammenschluss religiös-politischer Vereinigungen in Gestalt des Hohen Islamrats (HCI) sowie der Föderation Sabati, die rund 100 Verbände umfasst. Die Religion spielt eine wichtige Rolle in der malischen Gesellschaft – auch manche Kommunisten unterbrechen die Diskussion mitunter für fünf Minuten, um ihren Gebetsteppich auszurollen –, aber ihre Praxis ist im Allgemeinen viel toleranter als in den arabischsprachigen Ländern. Eine deutliche Mehrheit hält das Fasten während des Ramadan ein, aber es gibt immer wieder auch Nichtfaster: zu alt, zu jung, krank oder nicht überzeugt.
In letzter Zeit nehmen jedoch eine Politisierung der Religion und offen reaktionäre Tendenzen zu, was eng mit der Staatskrise zusammenhängt. Bei einer Regierungsumbildung im August 2012 wurde erstmals ein Religionsministerium für den HCI geschaffen, während Mali offiziell eine säkulare Republik bleibt. Und neben der eher toleranten malekitischen Schule, die den Islam in Mali prägt, wächst der Einfluss einer als wahhabitisch bezeichneten Richtung, die aus den reaktionären Golfstaaten finanziell unterstützt wird.
Die Vereinigung Sabati entstand in ihrer heutigen Form kurz vor der Präsidentschaftswahl und unterstützte nach einer internen Debatte die Kandidatur Keïtas. Ausschlaggebend war wohl in erster Linie, dass man auf den wahrscheinlichen Gewinner setzten wollte, um an ihn dann Forderungen zu richten. Zudem ist Keïta seit den frühen neunziger Jahren mit einem religiösen Würdenträger eng verbunden, dem »Chérif von Nioro«, dem er damals eine lebensrettende Operation bezahlte. Aus Dankbarkeit blieb der Kleriker, der auch ein schwerreicher Geschäftsmann ist, ihm in Freundschaft verbunden. Seien es wirtschaftliche Interessen oder politische Symbole: Sabati, die von sich behauptet, 15 Prozent der Wählerschaft mobilisieren zu können, wird sich bei »IBK« mit ihren Forderungen melden.
Abdou* gilt seinen Nachbarn als Wahhabit. Er ist in der als Dawa – das arabische Wort für den Aufruf zum Gebet – bezeichneten missionarisch tätigen Richtung des politischen Islam tätig. Und er ist Hochschullehrer für Fremdsprachen. Sieben Jahre studierte er in Südwestdeutschland, wo er, wie er sagt, ganz besonders die Ordnung schätzte. Seine Frau trägt ein knallorangenes Kopftuch. In ihrem Haus gibt man, anders als in Mali üblich, Menschen des anderen Geschlechts zum Gruß nicht die Hand.
Abdou wählt nicht: »Ich habe bislang nur einmal mitgestimmt. Unter uns Muslimen gibt es eine Debatte: Soll man das kleinere Übel unterstützen? Oder droht dann ein Teil dessen, was der einmal gewählte Kandidat tut, dem eigenen Sündenregister zugeschrieben zu werden? Heute halte ich mich aus dem Wählen heraus.« Auch er erhofft sich jedoch, dass Mali einen besseren Neuanfang nehme. Dass es Unterstützung für Keïta gibt, führt er selbst auch darauf zurück, dass »er mitunter islamisch geprägte Formulierungen wir bismillah rahim (im Namen Gottes des Barmherzigen) in seine Reden integriert«. Die organisierten Muslime sollten sich aber auch für ihre Belange einsetzen wie 2011, als der HCI erfolgreich gegen eine relativ progressive Reform des Frauen- und Familiengesetzes mobilisierte.
Zweifellos wird es Keïta als Präsident nicht leicht haben. Er wird mit widersprüchlichen Erwartungen von links und von rechts, von Reli­giösen und Säkularen, von Tuareg und von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreichs von ­Separatisten und ihren Gegnern konfrontiert werden. Dies alles in einem wirtschaftlich schwachen Land. Auf Desinteresse, Resignation und Passivität der Bevölkerung darf er hingegen wahrscheinlich nicht zählen.

* Name von der Redaktion geändert