Zum NSU-Untersuchungsausschuss

Chronik eines Desasters

In der vorigen Woche legte der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags seinen Abschlussbericht vor.

Mehr als 100 Zeugen und Sachverständige hatten die Abgeordneten angehört, rund 12 000 Aktenordner ausgewertet. Am Ende stand eine Erkenntnis, die viele schon früher hatten: »In Deutschland wurde bagatellisiert, wie gefährlich militante Neonazis sind«, sagte der SPD-Innenpolitiker Sebastian Edathy, Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags. Er selbst versuchte nun zumindest rhetorisch, diesen Fehler zu vermeiden. »Der 4. November 2011, an dem das NSU-Trio aufflog, war für uns, was der 11. September 2001 für die Amerikaner war«, sagte Edathy, als er am Donnerstag voriger Woche den Abschlussbericht des Ausschusses präsentierte.
»Der NSU verfolgte das Ziel, mit Mord und Gewalt aus Deutschland ein unfreies, abgeschottetes Land des Rassenwahns zu machen«, heißt es in dem Bericht. Es sei klargeworden, dass »unsere komplette Sicherheitsarchitektur in Deutschland nicht vorbereitet war auf so etwas wie Rechtsterrorismus«, so Edathy. Von »massiven Versäumnissen, Fehlleistungen und Fehleinschätzungen der deutschen Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden« ist in dem Bericht die Rede. Auf 1 357 Seiten hat der Ausschuss dieses Versagen do­kumentiert, nachzulesen auf der Homepage des Bundestages.

Hinweise darauf, dass die Polizei oder die Geheimdienste mit den Terroristen gemeinsame Sache gemacht haben, hat der Ausschuss jedoch nicht. »Wir haben keinerlei Anhaltspunkte gefunden, dass Behörden wussten, wer hinter den Verbrechen steckte, und dass sie entweder bewusst weggeschaut oder gar die Täter unterstützt hätten. Wir sind allen Hinweisen nachgegangen. Aber nach jetzigem Stand ist das eine haltlose Spekulation«, sagte Edathy.
Der 49. Untersuchungsausschuss in der Geschichte des Bundestags war erst am 26. Januar eingesetzt worden. Er war der erste, der von allen im Bundestag vertretenen Fraktionen gemeinsam bestellt wurde. Die Parteien hatten damals erklärt, das Thema nicht zur gegenseitigen Profilierung zu nutzen. Gleichwohl ergänzten alle Fraktionen den Bericht mit sogenannten Einzelvoten, in denen sie eine individuelle politische Bewertung vornahmen. Die Linkspartei bekräftigt darin ihre Absicht, den Verfassungsschutz restlos aufzulösen, während die Grünen eine »tiefgreifende Reform« vorschlagen.
Nach Angaben der Internationalen Liga für Menschenrechte (ILMR) hat das Innenministerium Änderungen im Text der Abschlusserklärung durchgesetzt. »Der Bericht ist nur in zensierter Fassung zugänglich, wofür Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) die Verantwortung trägt«, sagte der Vorsitzende der Liga, Rolf Gössner. Friedrich habe den Ausschuss mit einer vertraulichen Streichliste konfrontiert, in der er die Streichung oder Abänderung von 118 Text­stellen forderte. Diese seien vom Ausschuss allerdings nur teilweise übernommen worden. Das Ministerium habe in einem als »Verschlusssache« klassifizierten Schreiben an die Ausschussmitglieder vom 9. August behauptet, eine Veröffentlichung der fraglichen Textstellen würde »›V-Leute enttarnen und an Leib und Leben gefährden, dem Wohl des Bundes und der Länder schaden sowie das Ansehen des Verfassungsschutzes beschädigen‹«, erklärte Gössner. Die ILMR halte diese »exekutive Einwirkung des Bundesinnenministers auf ein parlamentarisches Kontrollgremium für skandalös und demokratiewidrig«.

Die elf Ausschussmitglieder legten 47 Empfehlungen vor. Die Polizei soll künftig bei Gewalttaten gegen Minderheiten ein rechtsextremes Motiv immer in Betracht ziehen, wenn es keinen hin­reichenden Tatverdacht in eine andere Richtung gibt. Zeugenaussagen, die auf eine rassistisch motivierte Tat hindeuten, sollen immer dokumentiert und berücksichtigt werden. Um einen besseren Umgang mit Opfern zu ermöglichen und für Rechtsextremismus zu sensibilisieren, soll der Bereich »interkulturelle Kompetenz« verpflichtender Bestandteil der Polizeiarbeit sein. Auch Richter und Staatsanwälte sollen sich in der Aus- und Fortbildung stärker mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen müssen.
Mit Blick auf die umstrittenen V-Leute, die als Insider und Mitglieder einer Szene dem Geheimdienst gegen Geld Auskunft geben, fordert der Ausschuss klare Regeln darüber, wer dafür geeignet ist. »Der Quellenschutz ist nicht absolut«, heißt es in dem Bericht. Der Schutz von Leib und Leben der Informanten sowie die berechtigten Belange von Strafverfolgung und Gefahrenabwehr müssten »in ein angemessenes Verhältnis« gebracht werden.
Die Anwälte der Nebenkläger, die als Vertreter der Opfer im Münchner NSU-Prozess beteiligt sind, kritisierten den Abschlussbericht zur Neonazimordserie. Das entscheidende Problem, dass ­es in den Sicherheitsbehörden einen »institutionellen Rassismus« gebe, werde ausgeblendet, teilten 17 Juristen in einer gemeinsamen Erklärung mit. Auch sie legten einen Katalog mit zehn Forderungen als Lehre aus den Morden vor. So solle der Untersuchungsausschuss nach der Wahl seine Arbeit fortsetzen. »Heute sollte nicht der Tag sein, wo das große Abhaken beginnt. Die halbe Wahrheit ist nicht die Hälfte der Wahrheit«, sagte der Anwalt Mehmet Daimagüler. Bei den Sicherheitsbehörden ist nach Ansicht der Nebenkläger trotz des Versagens bei der Aufklärung der NSU-Taten bisher kein Mentalitätswandel erkennbar. Unter anderem sollten Polizei und Staatsanwälte es nach dem Willen der Anwälte bei jedem Gewaltverbrechen künftig schriftlich festhalten, wenn sie eine rassistisch motivierte Tat ausschließen.

Vertreter der Bundesregierung reagierten widersprüchlich auf den Abschlussbericht. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ließ über ihren Sprecher Steffen Seibert ausrichten, sie sei dankbar für »die sehr umfassende und für unsere Gesellschaft ungeheuer wichtige Aufklärungsarbeit, die dieser Ausschuss geleistet hat«. Das Innen­ministerium hingegen sah die Erklärung des Ausschusses weniger positiv. Es wies Rassismusvorwürfe gegen die Bundespolizei »entschieden zurück«. Innenminister Hans-Peter Friedrich habe entsprechende Äußerungen aus der SPD »mit großer Verwunderung« zur Kenntnis genommen, sagte sein Sprecher Jens Teschke. Die Bundespolizei agiere nicht rassistisch und habe dies auch in der Vergangenheit nicht getan, außerdem habe sie mit dem NSU-Komplex und der Aufarbeitung »nichts zu tun«. Auch die Bundespolizeigewerkschaft griff vor allem die SPD wegen ihrer Beurteilung der NSU-Affäre scharf an. Der Gewerkschaftsvorsitzende Ernst Walter warf der SPD-Obfrau Eva Högl eine »ungeheuerliche Diffamierung« der Polizei vor. Högl hatte von »routinierten, oftmals rassistisch geprägten Verdachts- und Vorurteilsstrukturen in der Polizei« gesprochen. Diese Formulierung findet sich auch im Einzelvotum der SPD zum Bericht. Walter nahm auch den Präsidenten der Bundespolizei, Dieter Romann, in Schutz. Die SPD hatte in ihrem Votum geschrieben, Romann sei nicht bereit, Rassismus »als strukturelles Problem auch im institutionellen Kontext« anzuerkennen. Walter hielt dies für einen »völlig ungerechtfertigten Angriff auf die gesamte Bundespolizei«.
Der Zentralrat der Sinti und Roma fordert, rassistische Äußerungen aus den NSU-Akten zu entfernen und die Daten von Sinti und Roma zu vernichten, die im Zuge der Ermittlungen zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter gesammelt worden waren. »Diesen Anspruch werden wir erforderlichenfalls gerichtlich durchsetzen«, sagte der Vorsitzende Romani Rose. Nach einem anonymen Hinweis mit dem Wortlaut: »Es waren Zigeuner« waren damals nach dem Mord Schausteller in Heilbronn erkennungsdienstlich erfasst worden.