Jakob Augsteins Buch »Sabotage«

Kein gr0ßer Wurf

Jakob Augstein kokettiert mit dem Bruch des Gewalttabus in der Politik.

akob Augstein empört sich. Aus Protest gegen die postdemokratischen Verhältnisse stellt er nicht nur die Systemfrage, er bastelt auch gleich einen Farbbeutel. Wie das geht, schildert der Verleger und Chefredakteur der Wochenzeitung Freitag und Spiegel-Online-Kolumnist im Prolog zu seinem Buch »Sabotage«. Zunächst scheint ­die Herstellung dieses Wurfgeschosses dem Bau einer Wasserbombe ähnlich. Es »liegt gut in ­der Hand« und »fliegt bei gesunder Schultermuskulatur etwa 30 Meter weit«. Nach wenigen Zeilen schließt die Gebrauchsanweisung mit der Pointe: »Jetzt sind Sie bereit für die politische Auseinandersetzung.«
Farbbeutel? Auseinandersetzung? Sabotage gar? Liefert Jakob Augstein in der Rolle des deutschen Giangiacomo Feltrinelli etwa das Bekennerschreiben kommender Aufstände? Natürlich nicht. Schon nach den ersten ironischen Passagen beschleicht den Rezensenten der Verdacht, dass das Buch kein großer Wurf ist. »Sabotage« ist vielmehr ein Beispiel für die nostalgischen Illusionen des deutschen Linksliberalismus, zu dessen prominenten Vertretern Augstein nicht nur als omnipräsenter Talkshowgast zählt. Bezeichnend ist, dass auch hier die mit ein paar Provokationen garnierte Sehnsucht nach dem Sozialstaat der alten Bundesrepublik als »Kapitalismuskritik« verkauft wird.
Augstein empört sich also. Über Armutslöhne. Über unanständige Managergehälter. Über Lobbyisten. Über die Finanzmärkte, die die Parlamente entmachten. Und über Angela Merkel, die die »reine Substanz der Macht« verkörpert. Kritiker, die das Buch in der Hoffnung auf den großen Skandal nach verdächtigen Stellen durchstöbern, dürften schnell enttäuscht sein. Es gibt hier kein untergründiges Ressentiment, das den handelsüblichen Rahmen sprengen würde. Die berechenbaren Gefechte zu den Reiz­themen »Israel-Kritik« und Antiamerikanismus werden in den Feuilletonspalten und Internet-Foren ausbleiben. Andere Debatten jedoch auch. Was Augstein hier vorlegt, wirkt bisweilen wie eine aktualisierte Langfassung bereits veröffentlichter Kolumnen für Spiegel Online. Hierin liegt die Hauptschwäche des Buchs: Es hat keine kohärente These, die wirklich durchgearbeitet wird. Augstein beschreibt, vielleicht ohne es zu merken, wie der in der Bundesrepublik auf ­den Namen »Soziale Marktwirtschaft« umgetaufte Kapitalismus sich zur Kenntlichkeit ­entwickelt hat. Er legt dar, warum »der Körper« in den Zeiten der Digitalisierung der Politik wieder in ­die politische Kampfarena zurückkehren soll. Vieles in dieser Gesellschafts­diagnose, die mit einem Plädoyer für den wohlverstandenen zivilen Ungehorsam endet, bleibt jedoch kursorisch.
Die Kapitel tragen die bedeutungsschweren Überschriften »Regime«, »Reflex« und »Reaktion« und werden von zwei »Zwischenspielen« unterbrochen. Es handelt sich hierbei um Unterhaltungen mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt und dem Politikwissenschaftler Wolf­gang Kraushaar, auf die Augstein im Laufe seiner Ausführungen mehrfach Bezug nimmt. Negt wirkt dabei erstaunlich wortkarg, Kraushaar wiederum wie ein Sozialkundelehrer, der seinem unbotmäßigen Schützling die militanten Flausen austreibt. Die eigenen Widersprüche interessieren Kraushaar dabei kaum. So fordert er beispielsweise den Verzicht auf Gewalt auch gegen Sachen und empfiehlt, »die legitimen Protestpotentiale politisch zur Geltung zu bringen«. Hierfür sei »die Anti-AKW-Bewegung ein ziemlich gutes Beispiel«. Dabei weiß der Protestforscher doch selbst am besten, dass die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung von Militanz geprägt war und diese, allen grünen Postulaten der »Gewaltfreiheit« zum Trotz, den Geltungsanspruch der Bewegung medial und politisch durchgesetzt hat.
Keinesfalls ist alles, was Augstein schreibt, falsch oder unoriginell. Sein Buch liefert einen Überblick über die Debatten der vergangenen Jahre, von der »Agenda 2010« über die »Wutbürger« und Stuttgart 21 bis hin zu den »Occupy«-Protesten. Seine Notizen zum Unterschied zwischen der politischen Kultur Frankreichs und Deutschlands sind treffend, etwa wenn er den Erfolg von Stéphane Hessels »Empört euch!« mit dem Rummel um Thilo Sarrazins Bestseller »Deutschland schafft sich ab« vergleicht. Hessels Motiv, so Augstein, war »Gerechtigkeit«, aber »Sarrazins Sorge um die Zukunft Deutschlands drehte sich um Geld und Gene«. Hier beherrscht der Journalist die Kunst der Zuspitzung, die dem dramaturgischen Konzept des Buchs fehlt.
Wenn Augstein über die Beschönigungen im jüngsten Armutsbericht der Bundesregierung schreibt und aufzeigt, wie bereinigte Statistiken zum Indiz für politische Erfolge umgemünzt werden, gelingt dies konzise und klar. Augsteins Darstellung des Spannungsverhältnisses zwischen Kapitalismus und Demokratie schreckt dagegen auch nicht vor Klischees zurück. Vom »moralischen Meltdown des Systems« ist die Rede, als folge die kapitalistische Verwertung des Werts ansonsten karitativen Imperativen. Der Kapitalismus brauche »die Demokratie nicht mehr. Die Chinesen haben uns das vorgemacht. Sie betrachten uns mit teilnahmsloser Neugier, wie kuriose Tierchen«.
Warum aber drängt Augstein die Leserinnen und Leser überhaupt, sich zwischen »Demokratie« und »Kapitalismus« zu entscheiden? Das Buch ist voller Sentenzen wie »Aber der Kapi­talismus hält sein Versprechen nicht mehr« oder »Leistung und Fairness sind nicht mehr die prägenden Prinzipien unseres Systems«. Augsteins Kapitalismuskritik ist eine wehmütige Erinnerung an das »einstmals funktionierende Nachkriegssystem« vor allem jener goldenen Tage, als Helmut Schmidt Bundeskanzler war. Warum die bundesdeutsche Linke diesen Kanzler als »systemübergreifenden Oberleutnant« verspottete und die von Augstein ansonsten geschätzten Achtundsechziger unter »Realwirtschaft« die tägliche Ausbeutung unter dem ­Diktat der Stechuhr verstanden, wird unterschlagen.
Die alte Bundesrepublik mit ihrem vom Kalten Krieg geprägten Modell der »sozialen Marktwirtschaft«, in dem West-Berlin als »Schaufenster des Westens« fungierte, basierte auf einem Korporatismus mit sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Gewerkschaften und einem sozialliberalen Konsens. Auf Grundlage des unter anderem vom Korea-Krieg angefeuerten »Wirtschaftswunders« bestand das »Versprechen« des Kapitalismus darin, Konformismus mit einem relativ hohen Wohlstandsniveau und Aufstiegsmöglichkeiten zu belohnen. Wer später ein »Regelarbeitsverhältnis« gegen einen Minijob tauschen musste, gehört fraglos zu den Verlierern der Agenda-Arä. Der wirtschaftsliberale Abbau des Sozialstaats und der Bedeutungsverlust der Parlamente wird aber in »Sabotage« vielfach nur beklagt, nicht analysiert. Und muss Augstein wirklich darüber aufgeklärt werden, dass die Demokratie auch im »rheinischen Kapitalismus« hinter dem Werkstor endete?
Dabei ist er sich doch der dünnen Patina der bürgerlichen Gesellschaft bewusst. Seine plau­sible Kritik an Sarrazins »Nützlichkeitsrassismus« und Peter Sloterdijks Verachtung der »Unproduktiven« gipfelt in dem Satz: »Es ist nur ein Katzensprung von der bürgerlichen Entgrenzung zum Faschismus.« Was aber folgt daraus? Augsteins Kapitalismuskritik ist symp­tomatisch für das Fehlen von Theorie im linksliberalen Diskurs. Da helfen auch die im Buch verstreuten Referenzen auf Herbert Marcuse, Alain Badiou und Étienne Balibar nicht weiter.
Was bleibt nun von der Aufforderung zur Tat? Nach einigen abwägenden Überlegungen zum »Tabu der Gewalt« in der Politik folgt schließlich die Aufforderung zum regelwidrigen Betreten des Rasens. »Sabotage ist eine aktive Form des zivilen Ungehorsams«, schreibt Augstein. Offensichtlich gefällt ihm Kraushaars Anregung, die »Occupy«-Bewegung hätte mit einigen ihrer Hauptforderungen vor den Bundestag ziehen und dabei auch die Verletzung der Bannmeile des Parlaments in Kauf nehmen sollen. Nach fast 300 Seiten dürfen wir also, ausnahmsweise, die Verbotsschilder ignorieren. Sympathischer als jeder verbalradikale Gewaltfetischismus ist diese Idee allemal. Warum aber dann zuvor das Gerede von brennenden Benzindepots als Akt des Widerstands?
Hinter dem Gedankenspiel um das »Gewalttabu« steckt letztlich nicht mehr als die eigene Koketterie mit dem Reiz des Tabubruchs. Augsteins Kapitalismuskritik dürfte wiederum auch Helmut Schmidt gefallen.

Jakob Augstein: Sabotage – Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen. Carl-Hanser-Verlag, München, 304 Seiten, 18,90 Euro