Thermalbad oder Balaton?

Siófoker Schule

Der Balaton taugt zwar nicht zum Baden, wohl aber zum Eintauchen – in die menschlichen Abgründe. Für soziologische Feldstudien ist man hier richtig.

Eigentlich müsste ich von einer Reise an den größten See Mitteleuropas abraten. Meine Balaton-Bilanz ist nämlich nicht gerade beifallswürdig. Zu Buche schlagen etwa ein Dutzend Streitigkeiten mit Ungarn, die einen unvermittelt über das »Zigeunerproblem« in ihrem Land aufklären wollen, und ebenso mit Österreichern, die betrunken – nüchtern würden sie das einem Piefke nie stecken – die Weltkriegsbruderschaft mit ihren nördlichen Nachbarn beschwören.
Auch erinnere ich mich nur ungern an die Situationen, in denen ich Todesängste litt: Zweimal wurde ich fast von einer Art Bestie zerfleischt – die Bezeichnung »Hund« würde das Erlebnis verharmlosen –, und im Gefängnis von Siófok durfte ich bereits einen Tag in Einzelhaft verbringen, beäugt von einem fleischnackigen Wärter, der ähnlich bellte wie genannte Bestie. (Nebenbei bemerkt: Leihen Sie sich am Balaton keinen Einkaufswagen für den Heimtransport ihres Einkaufs aus; das kann zu einem Polizeigroßeinsatz führen.) Und dann noch ständig diese grausame Musik, zu der ebenso grausame Menschen tanzen und dabei ständig Ärger machen. Auch das Baden am tatsächlich platten Plattensee ist nicht gerade eine Wonne. Einigen Ungarn, die sich im Sommer scharenweise hierher verlagern, mag der See zwar als das »ungarische Meer« gelten, doch die Erbärmlichkeit jener Pfütze lässt einen fast schon Verständnis dafür aufbringen, warum mancher Magyare dem ungarischen Reich hinterhertrauert: Der Verlust des Meerzugangs scheint, einer Kastrationserfahrung gleich, der ungarischen Seele einen tiefen Komplex beschert zu haben. Das vermag jener Steppensee nicht zu kompensieren. Schließlich muss man hier einen gefühlten Kilometer durch das Wasser waten, um sich beim Schwimmen nicht den Bauch – und der wächst gewöhnlich bei Ungarn-Aufenthalten rapide an – am Grund aufzureiben. Von Sprüngen ins Wasser ist ohnehin abzuraten, wie die zahlreichen Warnschilder an den Stränden nahelegen, indem sie einen Genickbruch andeuten. Was sollte also an diesem See reizen?

Die Antwort mag verblüffen: Es ist die Abscheulichkeit vieler den Balaton umgebender Menschen, die mit der Erbärmlichkeit des Sees koinzidiert. Daraus ergibt sich etwas schrecklich Faszinierendes. Seit ein guter Freund – natürlich ein Ossi mit geballter Plattensee-Erfahrung in seiner Familie – unsere Jugendclique in den neunziger Jahren zu einer Fahrt dorthin überredete, konnte ich nicht davon lassen, immer wieder zurückzukehren. Dabei war es fast jedes Mal ein Grauen. Im Norden des Sees, wo sich die Familien tummeln, herrscht biedere Langweile, und im Süden, am »Ballermann des Ostens«, fällt das Niveau noch weit unter den Wasserpegel des Sees.
Man muss entweder völlig stumpf oder äußerst abenteuerlustig sein, um freiwillig hierher, insbesondere gen Siófok, zu reisen. Ich ordne mich in die letzte Kategorie ein. Genauer gesagt: als Sozialforscher, der sich auf Expedition hinter feindliche Linien begibt. Wer mehr über die Abgründe des menschlichen Wesens erfahren möchte, der ist hier einfach richtig. Man hat ja sonst nicht so viel mit dem elenden Gesindel zu tun, das sich hinter der Flut an schauderhaften Internetkommentaren verbirgt. Am südlichen Balaton versammeln sie sich zuhauf, hier erlebt man ihre ganze Niedertracht – live und ungefiltert. Und wenn man noch ein wenig auf dummdeutsch macht – die überwiegende Mehrheit der ausländischen Touristen kommt aus Deutschland und Österreich (ab einem gewissen Promillewert: Deutschland II) –, dann werden sie so richtig zutraulich und nehmen kein Blatt mehr vor den Mund. Jeder Kommentar wird freigeschaltet.

Nebenbei ist es auch ein Selbstexperiment. Wie lange kann man diese Menschen aushalten, ohne zu resignieren; wie lange hält die Selbstkontrolle, wie lange schafft man es seine Aggressionen zu zügeln; und schließlich: Ist man resistent genug, um keine langfristigen Schäden davonzutragen? Nur wenige Orte auf der Welt bieten die Möglichkeit, sich mit solchen sozialen Extremsituationen auszusetzen.
Der Balaton, ja, er ist durchaus eine Exkursion wert. Nicht aber, weil es dort landschaftlich so schön ist, nicht wegen des guten Weines von den umliegenden Hängen oder des mediteranen Flairs, der für Osteuropa ungewöhnlich ist. Sondern einfach, weil die Urlauber dort so entsetzlich sind, weil man sich hier des schlimmen Zustands der Welt vergewissern kann. Wer hier war, der versteht, wie Menschen in tiefste Barbarei verfallen können, lernt den autoritären Charakter aus nächster Nähe kennen. Die Frankfurter Schule könnte es nicht besser nahebringen.