Luiz Ruffato schreibt über die vergessenen Armen in Brasilien

Zwanzig Jahre schwanger

»Mama, es geht mir gut« ist der erste Teil des fünfteiligen Romanzyklus »Vorläufige Hölle« von Luiz Ruffato über das Leben der Armen und Migranten in Brasilien.

Viele gute, wenn nicht die besten Geschichten schreibt das Leben selbst. So auch die von Luiz Ruffato: 1961 geboren, wächst der Sohn einer Waschfrau und eines Popcornverkäufers in Cataguases auf, einer Kleinstadt im Hinterland des Bundesstaates Minas Gerais. Als der junge Ruffato seinem Vater bei der Arbeit am Verkaufsstand hilft, wird er von einem Mann angesprochen. Der Fremde ermöglicht dem Kind den Besuch einer weiterführenden Schule. Doch unter all den Mittelschichtkindern fühlt sich Ruffato nicht wohl. Er verkriecht sich in der Bibliothek und aus Schüchternheit, so beschreibt er es später, fängt er an zu lesen. Die Bücher, die Luiz Ruffato liest, handeln von Menschen, die so ganz anders sind als die, die er kennt.
»Wenn es ein Buch gibt, das du wirklich lesen willst, das aber noch nicht geschrieben wurde, dann musst du es schreiben«, sagte einst die afroamerikanische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison. Luiz Ruffato scheint dieses Motto auf seinem Weg vom Ge­legenheitsjobber zum Journalisten und später zum Schriftsteller beherzigt zu haben. Im Gespräch mit seinem Übersetzer Michael Kegler beschreibt Ruffato, der heute einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Brasiliens ist, seine Beweggründe, einen Roman zu schreiben, so: »Es interessiert mich, Figuren in die ­Literatur einzubringen, die darin normalerweise nicht vorkommen, anonyme Personen, deren Namen nicht einmal auf einem Grabstein verewigt werden. Ich versuche, diesen Personen ein literarisches Gesicht zu geben und zugleich einen historischen Moment der Geschichte Brasiliens zu erfassen.«
Es wäre wohl ein Leichtes gewesen, die eigene phantastische Biographie in Worte zu fassen, vielleicht in Form eines Familienepos mit unendlich vielen Verästelungen und ihm selbst als Protagonisten, der dem Leser Orientierung gibt in der sich verändernden Welt, die er ­beschreibt. Doch für den Schriftsteller Ruffato bedarf das komplexe Leben der einfachen Menschen ausgewählter Stilmittel, die die Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit ihrer inneren Zustände und ihrer Umwelt angemessen zum Ausdruck bringen. Wie in seinem Erstlingswerk und Überraschungserfolg »Es waren viele Pferde«, in Brasilien 2001 erschienen, ist auch »Mama, es geht mir gut« kein linear erzählter Roman, sondern eine wohldurchdachte Komposition von Fragmenten, die Ruffato selbst als »literarische Installation« bezeichnet. Standen in seinem Debüt die Stadt und das Leben der Bewohner São Paulos im Vordergrund, richtet Ruffato nun seinen Blick auf das ländlich geprägte Brasilien. Es geht um Armut und um Landflucht.
In sieben Kapiteln taucht er ein in das Leben und das Innenleben unterschiedlicher Akteure, springt zurück in die dokumentarische Form und wechselt urplötzlich, manchmal mitten im Satz, die Erzählperspektive. Es gibt keine zwingende Struktur und keine oder nur zufällige inhaltliche Bezüge zwischen den Episoden, die man in beliebiger Reihenfolge lesen kann.
Die Episode »Eine Fabel« handelt von den migrantischen Pionieren in der Landwirtschaft, die das arme Italien gegen das fruchtbare Brasilien eingetauscht haben. Über eine Frau heißt es, dass »ihre Jugend durch den Unterleib« verronnen, sie »zwanzig Jahre lang schwanger« und gelähmt von »dreizehn Geburten« gewesen sei. Über den Mann heißt es, dass er »seine Familie zwischen Axthieben und Brandrodung, Pflug und Hacke in einem engen Tal« gegründet habe. Ruffato schildert in der Episode »Wassermann« ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn im Auto über den Tod des brutalen Vaters. Carlos, der Sohn, hat die Familie als Jugendlicher verlassen und ist nach São Paolo gezogen. Doch glücklich ist er auch in seinem neuen Leben nicht, von den Fesseln der Vergangenheit kann er sich nicht lösen. Als irgendwann doch alles gut zu werden scheint – er eine Frau, ein Kind, ein Haus und einen Beruf hat – verlässt er seine Familie: »Ich stand auf, nahm den Zug und die Nacht erschrak sich vor mir betrunken zusammengesunken auf einem Tisch einer Bar in der Avenida Rio Branco, São Paulo.« Im Kapitel »Sühne« entflieht der Schwarze Jair der Gesellschaft nach der Ära der Sklavenhalter der Provinz, doch findet er sich wieder verloren in der Großstadt, die Söhne ohne Zukunft und er ohne Hoffnung. Seine letzten Worte auf dem Sterbebett: »Pastor … Gott … Gott ist nicht Liebe … Ist Rache … Bestrafung.«
Ruffatos Episoden sind düster, oft rätselhaft und doch von einer erstaunlichen Tiefe. Auf vielfältige Weise und eher im Zusammenspiel vieler Nebenschauplätze als in der Beschreibung eines Zentrums, zeigen sie ein Brasilien, das ganz anders ist als das Land, das wir aus den Medien zu kennen glauben. Ein Brasilien voller Konflikte, jenseits des Aufstiegs zur neu­­en Supermacht. Ein Land der Modernisierung, die das Versprechen der Gleichheit aller Menschen bis heute nicht einlöst. Erlöst wird keine von Ruffatos Figuren. Vielleicht hängt diese Melancholie auch mit seinem eigenen Leben und der glücklichen Wendung in seiner Jugend zusammen, die ihm Bildung und Aufstieg ermöglicht haben. Aber der Autor scheint dieser Fügung des Schicksals wohl selber immer noch nicht zu trauen. Er wache, heißt es, noch heute jeden Morgen mit der Angst auf, dieser Traum könne plötzlich zu Ende sein.

Luiz Ruffato: Mama, es geht mir gut. Aus dem brasilia­nischen Portugiesisch von Michael Kegler. Assoziation A, Berlin 2013, 160 Seiten, 18 Euro