Elias Bierdel im Gespräch über die Festung Europa

»Europa fördert die Schlepperei«

Als 2004 das Schiff der deutschen Hilfsorganisation Cap Anamur in Seenot geratene Flüchtlinge rettete, wurde Elias Bierdel, der damals Vorsitzender der Organisation war, der Schlepperei beschuldigt. Heute ist er Vorstand von Borderline Europe.

Eine Woche nach der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa ist erneut ein Boot mit rund 200 Menschen an Bord im Mittelmeer gekentert. Steigt die Zahl der Flüchtlinge derzeit?
Im Moment ist es so, dass aufgrund der Witterungsverhältnisse im Mittelmeer immer noch besonders viele Boote unterwegs sind. Das ist eigentlich jedes Jahr so. Dass vor dem Hintergrund der Katastrophe von Lampedusa bestimmte Organisationen sagen: Diese Stimmung nutzen wir jetzt mal und schicken ein paar Leute mehr los, ist auch wahrscheinlich. Aber die absolute Zahl von Menschen, die nach Europa kommen oder kommen wollen, steigt nicht. Die ist seit vielen Jahren im Prinzip konstant.
Sind solche dramatischen Bootsunglücke die Ausnahme?
Das war natürlich von der Dimension her ein besonders schwerer Vorfall. Aber über die Jahre hat es insgesamt 20 000 dokumentierte Tote gegeben. Das haben NGOs dokumentiert, weil sich kein einziger Beamter mit dieser Frage beschäftigt. Wie viele vergleichbare Fälle irgendwo da draußen stattgefunden haben, darüber erfahren wir nichts. Vielleicht sind die Leute von irgendwelchen Behörden gesehen worden. Aber uns wird bestimmt Vieles bekannt. Der jüngste Vorfall vor Lampedusa spielt so eine große Rolle, weil er so unmittelbar vor der Küste passiert ist. Da kann niemand behaupten, er hätte nichts gesehen.
Innenminister Hans-Peter Friedrich gibt »Schleppern« die Schuld. Sind das wirklich ­alles skrupellose Kriminelle?
Es gibt hier keinen Grund zur Romantisierung. Es ist vollkommen klar, dass Menschen, die sich in der Hand von Schleppern befinden, in keiner guten Lage sind. Andererseits ist die Definition des Schleppers politisch aufgeladen. Die passt uns im Kontext des EU-Sicherheitskonzeptes in den Kram. Deshalb bemühen die Innenminister immer wieder den Begriff von der »Schlepperkriminalität«. In Wahrheit aber ist dieses ganze Geschehen das Resultat einer völlig verfehlten, seit Jahren einseitig auf Abschreckung und Abschottung gerichteten europäischen Politik. Diese erzeugt das Schlepperwesen erst, denn wo es keine legalen Wege mehr gibt, muss man eben andere Wege beschreiten. Dazu braucht man Helfer, und das sind dann die sogenannten Schlepper.
Viele Fischer, die Menschen in Seenot helfen, werden als Schlepper verurteilt.
Das ist eine besonders zynische Variante. In Italien ist das so, dass die sogenannte illegale Einreise ein Straftatbestand ist. Das habe ich ja selbst schon erfahren. Und dann stehen eben auch diejenigen, die Menschen von einem sinkenden Boot retten, als Schlepper vor Gericht. Das ist eine entsetzliche Verkehrung: Retter landen vor Gericht, und andere, die vorbeifahren – und dafür gibt es viele Beispiele –, eben nicht. Die bleiben unbehelligt.
Jetzt soll die Grenzschutz-Agentur Frontex stärker in die Rettung von Flüchtlingen einbezogen werden. Ist das sinnvoll?
Frontex ist gegründet worden mit dem eindeutigen Ziel, Migration über das Mittelmeer einzudämmen. Das ist das Hauptgeschäft, für das mittlerweile Tausende Beamte im Einsatz sind. Im vergangenen Jahr hat man auf großen öffentlichen Druck noch Menschenrechte mit in die Frontex-Verträge hineingeflickt. Eines steht fest: Das ist keine Organisation, die zur Rettung von Menschenleben eingesetzt ist. Das ist weder ihr Auftrag, noch entspricht das ihrer Ausrüstung. Es ist immer wieder interessant zu sehen, was die da eigentlich auf solchen Booten auf dem Mittelmeer dabei haben. Und da stellen wir fest, dass es an den simpelsten Rettungsmitteln nach internationalem Standard fehlt.
Das Europäische Parlament hat das Grenzüberwachungssystem Eurosur auf den Weg gebracht. Wie bewerten Sie das?
Das stellt ja nur eine weitere Verfeinerung, Verschärfung und technische Aufrüstung des selben Sicherheitsapparats dar, der diese furchtbaren Folgen hat. Hier geht es um Abschottung und um Abschreckung. Wir konnten es im Europäischen Parlament erleben, als die Grünen einen Antrag eingebracht haben, der Frontex und Eurosur eindeutig auf die Rettung von Flüchtlingen hätte verpflichten sollen. Da gab es keine Mehrheit, der Antrag wurde abgelehnt. Die Verschärfung des Grenzregimes ist beschlossen worden ohne den Fokus auf die Rettung von Schiffbrüchigen.
Sie sind 2006 selbst wegen Schlepperei angeklagt worden, weil sie mit Ihrem Schiff »Cap Anamur« in Seenot geratene Flüchtlinge gerettet haben. Würden Sie wieder so handeln?
Wir hätten uns damals nicht im Traum vorstellen können, dass es tatsächlich möglich ist, dass ein deutsches Hilfs- und Rettungsschiff in Europa von europäischen Behörden beschlagnahmt wird unter dem absurden, falschen und konstruierten Vorwurf der Schlepperei. Da wurden wir allerdings eines Schlechteren belehrt und haben in der Folge mit unserem Verein Borderline Europe sehr genau beobachtet, was dort wirklich an den Außengrenzen passiert. Es ist von Jahr zu Jahr schlimmer geworden. Es gibt leider keine solche private Initiative mehr im Mittelmeer. Wenn es heute ein humanitäres Schiff gäbe, dessen Auftrag ausschließlich die Rettung von Menschen wäre, würde ich es mit allem, was ich habe, unterstützen. Aber es wäre auch heute politisch unter extrem schwierigen Bedingungen im Einsatz.
Ist die Einreise per Flüchtlingsboot die Regel?
Nein. Die meisten Menschen, die Europa erreichen und später als »Illegale« gelten, sind zunächst mal völlig legal, etwa über die Flughäfen eingereist. Bis zu 90 Prozent aller »Illegalen« in Europa sind sogenannte »Overstayers«, die mit legalem Visum einreisen und dann nicht zum Zeitpunkt wieder ausreisen, zu dem sie das tun sollten. Die Wenigsten sind auf den sehr gefähr­lichen Routen über das Meer unterwegs. Allerdings ist da die Quote derer, die sterben, sehr hoch. Das sind Leute, die sich nichts anderes leisten können. Deshalb landen sie auf diesen schrottreifen Booten, die ihnen irgendwelche Leute verkauft haben. Als wir die 37 Menschen ­damals gerettet haben, war es so, dass man ihnen zwar einen neuen Motor mitgegeben hatte, aber den falschen Sprit. Dadurch musste denen, die das verkauft haben, klar sein, dass diese Fahrt nicht lange andauern würde. Das ist kein Einzelfall. Es gibt skrupellose Typen, die, wenn sie Flüchtlingen diese Fahrzeuge und diese Ausrüstung verkaufen, davon ausgehen müssen, dass diese Menschen niemals irgendwo ankommen. Auch das ist letztlich ein Resultat der europäischen Politik. Das betrifft auch das System der harten Bestrafung von Schleppern. Denn die fahren dann selbst nicht mehr mit und schicken die Leute einfach alleine ins Verderben.
Die Flüchtlingspolitik der EU steht als unmenschlich in der Kritik. Braucht es vielleicht sogar Schlepper als Korrektiv?
Wie gesagt: Wer keinen legalen Zugangsweg mehr offen lässt, der zwingt Menschen auf Wege, die dann illegalisierbar sind. Und auf diesem Weg brauchen sie Unterstützung. Aus der Perspektive eines Menschen in Afghanistan oder Somalia sind ja jene, die wir Schlepper nennen, nichts anderes als eine Art Reisebüro. Übrigens ein sehr teures. Und da gibt es verschiedene Qualitäten. Es ist nötig einzusehen, dass wir diesen furchtbaren Markt durch unsere falsche Politik unterstützen und alle Opfer, die daraus entstehen, mitzuverantworten haben. Die Kriminalisierung »Schlepper« hilft hier überhaupt nicht weiter. Die Menschen, die unterwegs sind, haben oft keine andere Chance.
Was können wir in Europa konkret tun, um Flüchtlingen bei der Einreise zu helfen?
Das ist eine schwierige Frage. Wenn es so etwas gäbe wie eine Organisation, die sagt: »Wir verhelfen euch dazu, dass ihr das, was nach der Genfer Flüchtlingskonvention völkerrechtlich vereinbart ist, in Anspruch nehmen könnt«, wäre das ein interessantes Experiment. Aber derzeit gibt es nur große zwischenstaatliche Organisationen, etwa die UNHCR und die Internationale Organisation für Migration. Bei denen kann man sehen, wie wahnsinnig schwierig es ist, Menschen nach Europa zu bringen. Das wird quasi abgeblockt. Da lässt man mal ein paar Syrer rein, aber im Wesentlichen ist es unerwünscht. Was wir brauchen, ist keine technische Veränderung, wir brauchen ein wirkliches Umdenken in unserem Verhältnis speziell zu den Nachbarn im Süden. Sonst werden die Zustände an den Grenzen immer grausamer und gewalttätiger werden.