Das Grenzüberwachungssystem Eurosur

Überwachen und sterben lassen

Europa tut schockiert über die Toten vor Lampedusa. Selbst deutsche Unionspolitiker signalisieren Empathie. Unterdessen hat das EU-Parlament das Grenzüber­wachungssystem Eurosur beschlossen, um die Festung Europa noch besser gegen »illegale Einwanderung« zu sichern.

Es war ein europäischer Wettstreit in Mitleid, Kritik und Selbstkritik, der nach dem Tod von mehr als 300 Menschen vor der italienischen Insel Lampedusa stattfand. Alle wollten die beste Trauer­rede halten, plötzlich wurden neue Regeln im Umgang mit Flüchtlingen gefordert. Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano mahnte mehr Menschlichkeit, Solidarität und Gesetzesänderungen an, der Präsident der EU- Kommission, Manuel Barroso, gab zu Protokoll, er sei »schockiert und traurig« und Europa könne sich nicht abwenden.
Auch deutsche Unionspolitiker beteiligten sich an diesem Wettbewerb. Während Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) auch in den vergangenen Tagen keine Auszeit von seiner Abschottungsrhetorik nehmen mochte, sagte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), dass jetzt alle Kräfte mobilisiert werden müssten, »damit das Mittelmeer nicht weiter ein Massengrab für Flüchtlinge bleibt«. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU, Armin Laschet, ­forderte, dass auf die einhellige Empathie nun auch Taten folgen müssten.

Geht es um konkrete Taten, spielen Menschlichkeit und Solidarität allerdings keine Rolle mehr. Nachdem Italien die EU-Länder dazu aufgerufen hatte, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und das Land mit der Aufnahme der Einwanderer aus den nordafrikanischen Ländern nicht allein zu lassen, lehnten die EU-Innenminister es vergangene Woche einmal mehr ab, die europäischen Zuständigkeitsregeln für Asylanträge, das sogenannte Dublin-System, grundlegend zu reformieren. Demnach ist im Regelfall derjenige EU-Staat für das Asylverfahren zuständig, den der Flüchtling zuerst betreten hat. Auch die Integrationsbeauftragte Böhmer beschränkt sich darauf, die Zustände für Flüchtlinge in Italien als menschenunwürdig zu bezeichnen – ohne zu erwähnen, dass der deutsche Staat weiterhin Flüchtlinge nach Italien abschiebt, die das Land zwischenzeitlich verlassen hatten, weil es dort viel zu wenige Unterkünfte gibt und die Menschen über Jahre obdachlos sind.
Auch wird über naheliegende Möglichkeiten, Schiffbrüche wie zuletzt vor Lampedusa zu verhindern, nicht ernsthaft diskutiert. Statt zu erwägen, sichere und legale Einreisemöglichkeiten zu schaffen, um die lebensgefährlichen illegalen Einreisen zu verhindern, oder wenigstens ausreichende Resettlement-Programme für Flüchtlinge anzubieten, möchten sowohl die EU-Kommission als auch die CDU-Politiker Böhmer und Laschet die europäische Grenzschutzagentur Frontex stärken – jeweils mit dem Argument, dass die Agentur dann »mehr Schiffe in Seenot« retten könne.
Da kommt es gerade recht, dass just in der vergangenen Woche das Europäische Parlament der Einrichtung des Grenzüberwachungssystems Eurosur zugestimmt hat, das noch in diesem Dezember seinen Betrieb aufnehmen wird. Das seit langem geplante, 340 Millionen Euro teure System werde helfen, Menschenleben zu retten, so die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Tatsächlich hat es das Ziel, durch effektivere Überwachungstechnologien und die stärkere Vernetzung der nationalen Grenzschutzbehörden mit Frontex illegale Grenzübertritte an den europäischen Außengrenzen besser aufdecken und verhindern zu können. Die Seenotrettung ist keine ausdrückliche Aufgabe des Systems, sie wird in der zugrundeliegenden Verordnung nur in den sogenannten Erwägungsgründen erwähnt, die jedoch keine rechtliche Bedeutung haben.

Rein rechtlich sind die Grenzschutzbeamten seit jeher verpflichtet, Menschen zu retten, wenn sie ein Schiff in Seenot entdecken – die Verpflichtung zur Seenotrettung ist eine der ältesten völkerrechtlich anerkannten Pflichten, an die jeder Staat und jede Schiffsmannschaft gebunden ist. Die neuerlichen Forderungen einer Stärkung der Agentur sind besonders zynisch: Es fehlt die politische Intention, dies zur Rettung von Menschenleben zu nutzen, das Gegenteil ist der Fall. Bereits jetzt ist das Mittelmeer einer der am meisten überwachten Meeresräume weltweit. Die Kompetenz von Frontex und nationalen Grenzschutzbeamten bleibt die Sicherung der EU-Grenzen, die immer lückenlosere Überwachung hat zur Folge, dass die Boote immer gefährlichere Wege suchen, so dass auch Eurosur dafür sorgen wird, dass die Zahl der Toten jährlich steigt.
Was Deutschland betrifft, sind die menschenfreundlichen Worte aus der Union wohl als Annäherungsversuche der Befürworter einer schwarz-grünen Koalition zu deuten, nachdem führende Grüne die Flüchtlingspolitik als eines der kontroversen Themen zwischen den Parteien bezeichnet hatten. Ob die Grünen nach einer langjährigen Zusammenarbeit mit einem Innenminister Otto Schily (SPD) ernsthafte Berührungsängste haben, kann allerdings bezweifelt werden, nicht ganz zu Unrecht weist der CDU-Politiker Laschet darauf hin, dass die rot-grüne Flüchtlingspolitik »nicht angemessen« gewesen sei.