Flüchtlinge auf Lesbos organisieren sich

Zurück zum Inferno

Die Erstaufnahme von Flüchtlingen ist auch jenseits der kriminalisierenden EU-Politik möglich. Das zeigt ein Projekt auf der griechischen Insel Lesbos, bei dem Bewohner und ehemalige Insassen des berüchtigten Internierungslagers Pagani gegen ein neues Gefängnis protestieren.

Als er selbst rauskam, war niemand da, erzählt Eltaf Hossain Rahimi. »Wir mussten auf der Straße schlafen, und keiner wusste, was passiert.« Jetzt ist es anders. Seit drei Tagen ist Rahimi zurück auf Lesbos, diesmal als freier Mensch. »Wir haben vor dem Knast auf sie gewartet. Die Somalis, die Afghanen. Sie zelteten mit uns, wir haben eine Party gefeiert, sie haben ihre Geschichte erzählt und wir versuchen, ihnen zu helfen.« Das tun zu können, davon habe er seit seiner eigenen Entlassung geträumt.
Rahimi, 20 Jahre alt, ist Flüchtling aus Afghanistan. Heute spricht er hervorragend Deutsch und lebt als Sozialarbeiter im hessischen Hanau. Der Weg dorthin aus der zentralafghanischen Provinz Ghazni dauerte sechs Jahre, eine von Abschiebungen und neuen Fluchten gezeichnete Odyssee durch fast 20 Länder, von denen keines ihn aufnehmen wollte. Am deutlichsten zu spüren bekommen hat er das auf Lesbos. Dort stand bis 2009 das Internierungslager Pagani, eines jener Flüchtlingsgefängnisse, in die der griechische Staat alle Ankömmlinge einsperrt, ein chaotisches, menschenverachtendes Provisorium. Nach einer Inspektion nannte der damalige griechische Staatsminister für Bürgerschutz, Spyridonas Vougias, das Lager »schlimmer als Dantes Inferno«.
Rahimi saß dort wochenlang mit 85 Menschen in einer Zelle mit nur einer Toilette, minderjährig, ohne Eltern, ohne Anwalt, ohne zu wissen, wo er war, warum er dort saß und was geschehen würde. Damals waren die Flüchtlingszahlen auf der Insel hoch, die Türkei kooperierte noch nicht mit der EU und ihre in Sichtweite gelegene Küste stand allen offen, die ohne Papiere nach Europa übersetzen wollten. Zur Abschreckung errichtete Griechenland die Hölle von Pagani. Ihr Ende kam 2009 mit dem No-border-Camp: Die Aktivisten des Netzwerks »Welcome 2 Europe« schmuggelten eine Kamera ins Innere des Lagers, die entsetzlichen Bilder lösten ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Griechenland aus.
Seitdem gab es kein Flüchtlingslager mehr auf Lesbos und auch immer weniger Flüchtlinge. Die Türkei ließ sich überreden, die Schlepperei in der Ägäis zu bekämpfen, die Flüchtlinge nutzten fortan die Landgrenze am Evros-Fluß, um nach Griechenland zu gelangen. Doch dort steht seit einigen Monaten ein Zaun, der Weg ist beschwerlich geworden. Und so kommen immer mehr Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien, Pakistan, dem Irak und Somalia heute wieder nach Lesbos. Deshalb gibt es seit dem vergangenen Monat für sie ein neues Gefängnis auf der Insel, es heißt Moria und ist, anders als Pagani, nach EU-Normen errichtet. »Es sieht aus wie Guantanamo«, sagt Rahimi.

Weil es ein neues Gefängnis gibt, sind in diesen Tagen auch die Aktivisten von »Welcome 2 Europe« wieder dort. Sie haben ein neues Camp errichtet, mit einer Gruppe von Jugendlichen, die sie seit ihrer Entlassung aus Pagani auf ihrem Weg durch Europa unterstützt haben und die sie nun zurückgebracht haben, an den Ort, der für sie mit so schrecklichen Erinnerungen verbunden ist, der aber gleichzeitig der Beginn ihres neuen Lebens war.
»Für uns war klar, dass man gegen dieses neue Gefängnis aktiv werden muss«, sagt Marion Beyer von »Welcome 2 Europe« der Jungle World. Wenn das Lager endgültig fertiggestellt ist, sollen bis zu 800 Menschen dort eingesperrt werden, das neue EU-Asylrecht erlaubt eine Haftdauer bis zu 18 Monaten. »Auf der Insel wurde der Knast den Bewohnern so verkauft, dass die Flüchtlinge nicht dauernd im Hafen rumhängen, dass es für die Leute humaner ist«, sagt Beyer. Doch das sei eine Lüge. Nach dem Camp 2009 waren Aktivisten auf der Insel geblieben. Zusammen mit der lokalen Bevölkerung und mit Unterstützung des Bürgermeisters bauten sie eine neue Anlaufstelle für die Flüchtlinge auf: Das »Dorf aller zusammen«, ein selbstorganisiertes Willkommenszentrum, eine Initiative zur Unterstützung der von den EU-Spardiktaten besonders betroffenen Flüchtlingsfamilien. »Während quer durch Europa Neuankömmlinge illegalisiert und eingesperrt werden, zeigt dieses Projekt mehr als die Möglichkeit, Transit anders zu gestalten. Statt sich gegeneinander ausspielen zu lassen, sind neue solidarische Bündnisse als Antwort auf die sozialen Angriffe entstanden«, heißt es in einer Selbstdarstellung. Für Beyer war das Dorf der »Beweis, dass Erstaufnahme möglich ist, ohne Stacheldraht aufzuspannen«. Doch die EU wollte es anders. »Sie hat Steuergeld ausgegeben, einen Zaun und überall Wachtürme gebaut, ein richtiges Gefängnis«, sagt Rahimi.
Mit Unterstützung einer Stiftung organisierte eine Gruppe um Beyer die Reise nach Lesbos von ehemaligen Pagani-Insassen, die, wie Rahimi, mittlerweile in verschiedenen europäischen Ländern Asyl bekommen haben. Sie sollten den Leuten im neuen Gefängnis Mut machen, den Freigelassenen helfen und die Inselbevölkerung daran erinnern, was das Lager für die bedeutet, die drin gesessen haben. »Die Reise zurück war für viele emotional sehr bewegend«, sagt Beyer. »Die Leute sind total eng zusammengewachsen, es war eine wahnsinnige Gruppendynamik.«

Am vergangenen Samstag zogen sie auf das Gelände des neuen Gefängnisses, es war ein Akt zivilen Ungehorsams auf einem Militärareal. »Wir sind mit 50 Leuten reingegangen und direkt zu dem Zaun, wo man mit den Gefangenen auch reden kann«, erzählt Beyer. »Die Leute haben gesagt, das ist der seltsamste Knast, den sie bis jetzt gesehen haben, alles sei noch so ›ungeübt‹, dauernd kämen Delegationen mit Abgeordneten oder der Bürgermeister, und alle würden sagen, sie wollen nur das Beste für die Flüchtlinge, sie sollten keine Angst haben, trotzdem sitzen sie hier wie Vögel in einem Käfig.«
Irgendwann sei die Polizei eingeschritten, »die haben uns dann rausgeworfen, aber uns versprochen, dass wir zurückkommen dürfen, wenn wir uns richtig anmelden, aber einfach so ginge es ja nicht«, fährt Beyer fort.
Die Gruppe zog weiter in das Dorf und verbrachte den Tag mit den Bewohnern. »Wir hatten Banner dabei und haben eine Kundgebung gemacht, auf der die Leute aus Pagani ihre Erinnerungen geschildert haben. Wir haben gesagt, dass wir gehofft haben, dass es sowas nie mehr geben wird«, sagt Rahimi. »Manche der Flüchtlinge auf Lesbos sind müde, hoffnungslos und traumatisiert, wir wollen versuchen, mit ihnen in Kontakt zu bleiben und ihnen zu helfen, Griechenland zu verlassen.« Das Land überlässt Flüchtlinge sich selbst, ein Asylsystem gibt es nicht, dafür Obdachlosigkeit und Attacken von Neonazis. Doch die Weiterreise in andere Länder der EU ist wegen der neugefassten Dublin-Verordnung (Dublin III) legal nicht möglich. »Deswegen ist es wichtig, sie zu unterstützen, das war für mich auch sehr wichtig«, sagt Rahimi, der nach seiner Entlassung aus Pagani noch jahrelang als sogenannter Dublin-Fall kreuz und quer durch Europa weiterflüchtete.
Bis heute sei die Erinnerung an Pagani »total präsent auf der Insel«, sagt Beyer. »Viele erinnern sich, dass es eine Hölle war und dass es richtig war, diesen Ort zu schließen.« An diese Stimmung knüpfen Studenten der örtlichen Universität, Anwohner und lokale Gruppen an, die sich zu einem neuen Bündnis gegen Moria vereinen wollen. Denn die Flüchtlingszahlen auf Lesbos steigen, weiß Beyer: »Die Behörden haben Angst vor einem neuen internationalen Aufschrei, deswegen lassen sie die Leute derzeit relativ schnell wieder frei. Aber das kann sich schnell ändern.«