Missbrauch und Trauma

Täter, du Opfer

Vor allem nach psychischem oder physischem Missbrauch versuchen Täter häufig, ihre Opfer als die eigentlichen Täter darzustellen. Auch die Gesellschaft trägt zur Täter-Opfer-Umkehr bei.

Seit zwei Jahren hat Maria Schmitz* einen Vater. Einen, wie die 29jährige Frau ihn sich immer gewünscht hat, mit dem sie lachen kann, der nach dem Ölstand ihres Autos schaut. Bis zum Sommer des Jahres 2011 hatte die Leipzigerin statt eines Vaters ein Monster. Einen Mann, der seine Tochter schon als Baby geschlagen und sexuell missbraucht hatte. Einen durch und durch schlechten Menschen. »Als ich vier Jahre alt war, setzte meine Mutter ihn vor die Tür«, sagt sie.

Das Verstörende an dieser Geschichte ist: Maria Schmitz’ Erzeuger und ihr liebenswerter Vater sind ein und dieselbe Person. Denn das Monster entspringt der Phantasie – der ihrer Mutter. »Im Rahmen einer Psychotherapie habe ich herausgefunden, dass es keinerlei sexuelle Gewalt seitens meines Vaters gegeben hat. Meine Mutter hat mich angelogen«, sagt Schmitz. Sie hat durch die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit gelernt zu begreifen, dass ihr Leben auf einer großen Lüge basierte. Sie hat erkannt, dass ihre Mutter ein schauriges Märchen erfand, um all die Liebe des kleinen Mädchens für sich zu gewinnen. »Weil ich ihr glaubte, hatte ich Angst vor ihm. Wenn er zum Geburtstag Geschenke brachte, warf ich sie ungeöffnet in den Müll. Wenn ich ihn auf der Straße traf, fühlte ich mich bedroht.«
Maria Schmitz musste in einem langwierigen und schmerzvollen Prozess erkennen, dass nicht ihr Vater derjenige war, der ihr Leid zufügte. »Durch die Therapie habe ich verstanden, dass meine Mutter mich zu einer Marionette gemacht hat.« Also suchte sie nach vielen verlorenen Jahren den Kontakt zum Vater, ohne dass ihre Familie davon wissen durfte. Er sei so ganz anders als das von ihm gezeichnete Bild und auch seine Lebensumstände unterschieden sich von jenen, unter denen Schmitz bei ihrer Mutter aufwuchs. »Ich erinnere mich an mindestens 20 verschiedene Männer an ihrer Seite.« Diese Beziehungen seien zwar nie von langer Dauer gewesen, aber stets heftig. Am Ende einer Liebschaft sei es stets die kleine Maria gewesen, die vorgeblich die Schuld am Scheitern trug. »Dann brüllte sie mich an. Wenn ich daraufhin weinte, hielt sie meinen Kopf unter kaltes Wasser, um mich wieder zur Besinnung zu bringen. Die höchste Strafe aber war die Nichtbeachtung.«
Genau dieser Bestrafung wird nun auch die erwachsene Maria Schmitz ausgesetzt. Als sie psychologische Hilfe suchte und sich in der Folge von der Mutter distanzierte, klagte diese, sie werde von dem Therapeuten unrechtmäßig verurteilt, er kenne sie ja gar nicht. Dass Maria Schmitz dann noch offenbarte, dass sie ihren Vater regelmäßig sehe, entsetzte die Mutter vollends. »Du bist alt genug. Ich kann inzwischen nichts mehr dagegen tun. Ich weiß allerdings genau, was er mir und dir damals angetan hat«, habe sie gesagt. Wenn Maria ihn nun trotzdem treffe, dann habe er also gesiegt. Seitdem gibt es nur noch sporadisch Kontakt zwischen den beiden Frauen. Die Mutter zeigt kein Interesse mehr am Leben ihrer Tochter; Maria Schmitz will sich abgrenzen, um sich vor weiteren Demütigungen und Angriffen zu schützen. »Ich werde von ihr als Fremde, als Verräterin wahrgenommen, weil ich eben nicht mehr wie eine Puppe tue und lasse, was man mir sagt.«

In Fachkreisen wird dieses Verhaltensmuster Opferschelte genannt. »Durch das Aussprechen ­eines Tabus macht das Opfer sich in den Augen des Täters schuldig«, sagt der Leipziger Psychotherapeut und Traumaexperte Ralf Vogt, der das Trauma-Institut Leipzig aufgebaut hat und dort tätig ist. »Nach der Aufdeckung ungeheuerlicher Vorfälle, oft auch nach Sexualstraftaten, versuchen Täter, die Rollen umzukehren.« Dadurch sollen – auch nach außen – alte Machtsysteme erhalten werden. Nicht nur Täter können so vorgehen, sondern auch Personen im Umfeld. Die Kampagne »Ich habe nicht angezeigt« kam im Jahr 2012 in einer Umfrage über die Gründe, warum Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt in vielen Fällen nicht angezeigt werden, zu dem Ergebnis, dass das Umfeld in 21 Prozent der Fälle dem Opfer nicht geglaubt und in 14 Prozent der Fälle dem Opfer die Schuld zugewiesen hatte.
Für die Betroffenen sind die Folgen dieser Umkehr von Täter und Opfer fatal, sagt Georg Schomerus von der Universität Greifswald. Der Psychiater forscht zu Einstellungen der Öffentlichkeit zu psychischen Krankheiten und zur Psychiatrie sowie zur Stigmatisierung psychisch Kranker: »Durch die Schuldzuweisung werden sie zum zweiten Mal Opfer.« Aus Angst vor Ablehnung hielten viele Opfer sich zurück, wenn es um ihre Vergangenheit gehe. Diese Geheimhaltung verhindere jedoch angemessene Hilfe für die Betroffenen und schütze zudem die Täter.
Und dennoch scheint das Schweigen eine Form von Selbstschutz zu sein. Denn eine Verleumdung der Opfer als Täter sei kein ausschließliches Verhalten der tatsächlichen Täter oder des Umfelds, wie Traumatherapeut Vogt aus seiner langjäh­rigen Erfahrung weiß. »Auch die Gesellschaft ist nicht reif für alle Wahrheiten«, sagt er. Paradox sei, dass gerade durch die mutige Offenbarung traumatischer Erfahrungen oftmals auch im Umfeld ein Prozess der Stigmatisierung und Ausgrenzung in Gang gesetzt werde. Außenstehende zweifelten am Wahrheitsgehalt mancher Enthüllungen, weil sie aufgrund der Grenzen des menschlich Vorstellbaren das Ausmaß der Erlebnisse nicht fassen könnten. »Wenn dann einer stottert, einen roten Kopf bekommt, dann meinen viele, er lügt oder übertreibt. Wir dürfen als aufgeklärte Gesellschaft nicht weiter dem Vorurteil aufsitzen, dass derjenige, der am stabilsten auf uns wirkt, auch am gesündesten ist.«
Bei anderen Menschen könne das Bekenntnis, Opfer geworden zu sein, neben Mitleid und Hilfsbereitschaft auch Abscheu oder Ärger hervorrufen, stellt Psychiater Georg Schomerus in der in diesem Jahr veröffentlichten wissenschaftlichen Publikation »Kindesmisshandlung – Psychische und körperliche Folgen im Erwachsenenalter« fest. Dabei verweist er auf das Beispiel von Natascha Kampusch. Als die junge Frau sich offensiv mit ihrer Freiheitsberaubung und Gewalterfahrungen auseinandersetzte, seien ihre öffentlichen Auftritt teils heftig kritisiert worden. Auch der Fall der vermissten Madeleine McCann, deren Eltern vorige Woche im deutschen Fernsehen auftraten, zeigt diese gesellschaftliche Dimension. Im Sommer 2007 wurden Kate und Gerry McCann von der portugiesischen Polizei verdächtigt, schuldig am Verschwinden ihrer damals vierjährigen Tochter zu sein – und in der Folge von der Öffentlichkeit mit Schmähungen überhäuft.

Gottfried Fischer vom Deutschen Institut für Psychotraumatologie erklärt die gesellschaftliche Reaktion mit einer allgemeinen Wahrnehmungsstörung: Sobald ein Opfer von einer Tat erzähle, wollten alle anderen es immer schon gewusst haben. Deshalb hätte auch das Opfer voraussehen müssen, dass etwas passieren würde, ohne dass zu diesem Zeitpunkt bereits etwas geschehen sei. Fischer sieht darin einen Selbstschutz der Un­beteiligten, die nicht wahrhaben wollten, dass jemand unverschuldet leiden müsse: »Uns wird unheimlich, wenn wir eingestehen müssen, dass auch uns so etwas hätte passieren können. Wir fühlen uns dann nicht mehr sicher.«

*Name von der Redaktion geändert