Vor dem Prozess gegen Mursi. Repression gegen Antinationalisten in Ägypten

Kritik ist Verrat

Nicht allein die Muslimbrüder, sondern auch Gegner der nationalistischen Mobilmachung werden in Ägypten zum Ziel von staatlicher Repression und medialer Diffamierung.

Vier Monate nach dem Sturz der Regierung Mohammed Mursis und der Entmachtung der Muslimbrüder durch das Militär ist es um die tradi­tionsreiche und bis vor kurzem überaus einflussreiche islamistische Organisation schlecht bestellt. Tausende ihrer Anhänger sind inhaftiert, erst vor zwei Wochen starben an einem Tag fast 50 Islamisten bei Übergriffen von Ordnungskräften und Zivilisten auf ihre Märsche.
Seit der brutalen Räumung ihrer Protestlager im August hatten Mitglieder und Unterstützer der Muslimbrüder wöchentlich demonstriert, immer wieder kam es dabei zu willkürlichen Verhaftungen und Übergriffen. Bei der Räumung selbst waren Hunderte größtenteils unbewaffnete Zivilisten getötet und Tausende verletzt worden. Wochenlang hatten staatliche und private Medien da bereits die Stimmung angeheizt und den seitdem herrschenden Ausnahmezustand vorbereitet, die Unterstützer der Muslimbrüder wurden dämo­nisiert.
Im Ausland teilte sich die öffentliche Meinung weitgehend in zwei Lager: Die einen beklagten, dass die »demokratisch gewählten und legitimierten« Muslimbrüder durch einen Putsch entmachtet worden seien, und ignorierten, dass die Muslimbrüder nach dem Verfassungsputsch Mursis unter Ausschaltung der Gewaltenteilung jegliche Legitimität verloren hatten und mit Straßengewalt und unter Zuhilfenahme des brutalen staatlichen Sicherheitsapparats gegen Oppositionelle vorgegangen waren. Die anderen feierten nicht nur die durch Massenproteste erzwungene Entmachtung der Islamisten und die Aufhebung der islamistischen und autoritären Verfassung, sondern verteidigten auch die Aushebelung von Demonstrations- und Meinungsfreiheit, die Tötung Hunderter Demonstranten und die chauvinistisch-nationalistische Stimmungsmache.
In Ägypten wurde derweil die nationale Führung der Muslimbruderschaft inhaftiert und Geldsummen in Millionenhöhe wurden eingefroren. Verhaftet wurden außerdem die meisten Führungskader auf Gouvernement- und sogar auf Bezirksebene. Die komplexe, nach dem Führerprinzip ausgerichtete Hierarchie der Organisation ist irreparabel beschädigt, erst in den vergangenen Wochen konnten sich die unteren Ebenen reorganisieren.

In der Folge kam es mehrfach zu Anschlägen. Vorige Woche wurde ein Soldat ermordet, auch in den Wochen davor gab es mehrere Attentate und Autobombenanschläge. Knapp 100 Polizisten und Soldaten starben in den vergangenen vier Monaten bei Anschlägen von Jihadisten, die größtenteils auf der Sinai-Halbinsel aktiv sind. Einige tausend von ihnen sollen sich dort aufhalten, die meisten identifizieren sich mit al-Qaida. Doch auch manche der vom ägyptischen Staat seit Jahrzehnten vernachlässigten und diskriminierten Beduinen sind an der Gewalt beteiligt, einige von ihnen sind in jihadistischen Gruppen aktiv, viele andere jedoch im illegalen Drogen-, Menschen-, Waffen- und Gebrauchsgüterhandel.
Zur Muslimbruderschaft haben die Jihadisten keine unmittelbare Verbindung. Zwar teilen sie mit ihr das diffuse Ziel eines »islamischen Staates«, doch die Konzepte, die die Muslimbrüder für einen solchen Staat haben, lehnen die Jihadisten genauso ab wie deren Marsch durch die Institu­tionen. Dass Mohammed Mursi zum Jihad in Syrien aufrief, diente daher nicht nur der Legitimation gegenüber der Gefolgschaft, sondern auch der Kanalisierung islamistischer Militanz. Nun, da die Jihadisten die selbstauferlegte Zurückhaltung wieder aufgegeben haben, werden die größtenteils schlecht ausgebildeten und schlecht ausgerüsteten staatlichen Sicherheitskräfte der Lage auf absehbare Zeit nicht Herr werden können.
Doch nicht nur die Sicherheitskräfte werden zum Ziel der Angriffe. So wurden erst vorige Woche fünf Zivilisten ermordet, als Attentäter vor einer Kirche in Kairo das Feuer auf eine Hochzeitsgesellschaft eröffneten. Unmittelbar nach dem Sturz Mursis hatten vielerorts von salafis­tischen Predigern aufgestachelte Mobs gewütet. Über 40 Kirchen und mehr als 200 Christen zugerechnete Geschäfte, Einrichtungen und Wohnhäuser wurden niedergebrannt oder schwer beschädigt. Mehrere Menschen wurden ermordet.

Propagandisten der Muslimbrüder und ihrer salafistischen Partner hatten in den Monaten davor die christenfeindliche, meist antikoptische Hetze verstärkt. Bei den Massendemonstrationen gegen den Verfassungsputsch Mursis behaupteten sie etwa, die Mehrheit der Demonstranten seien Christen, die ihre Interessen gegen die Ägyptens stellen würden. Der bekannte Prediger Safwat Hegazy erklärte in Bezug auf die Kopten, man werde das Blut derjenigen vergießen, die die Legitimität Mohammed Mursis auch nur »mit Wasser begießen« würden. Wie schon in den Jahren der Herrschaft Mubaraks griffen die Sicherheitskräfte angesichts der sektiererischen Gewalt nicht ein. Im August konnten deshalb auch Kirchen niedergebrannt werden, die nur wenige hundert Meter von einer Polizeiwache entfernt waren.
Der Erfolg insbesondere des Salafismus kann nur vor dem Hintergrund der tiefen sozioökonomischen Krise Ägyptens, autoritärer Sozialisation und der Zerrüttung der Sozialstrukturen verstanden werden. Gleiches gilt für die Anhänger des Militärs und des starken Mannes Abd al-Fattah al-Sisi, die hinter jedem Bart und jedem Kopftuch Terror und Landesverrat wittern und genauso wie die meisten Islamisten die USA und »die Juden« für die Krise des Landes verantwortlich machen.
Reaktionäre Krisenbewältigungsideologien haben in Ägypten in diesen Tagen Hochkonjunktur. Wie schlecht die soziale Lage in Ägypten tatsächlich ist, zeigten auch die am Sonntag von ägyptischen Nichtregierungsorganisationen veröffentlichten Zahlen, wonach etwa 20 Millionen Ägypter – fast 25 Prozent der Bevölkerung – in über 1 000 informellen und ungeplanten Wohngebieten, in teils gigantischen Slums wohnen. Dies ist vor allem eine Folge der Landflucht Millionen besitz- und arbeitsloser Landbewohner. Zudem wurden auf Druck des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank Betriebe privatisiert und Massenentlassungen vorgenommen, jeder vierte Jugendliche und junge Erwachsene ist arbeitslos.
Etwa die Hälfte der ägyptischen Erwerbstätigen ist zudem in der Schattenwirtschaft, das heißt informell beschäftigt. Industriearbeiter und Angestellte verdienen nur einige hundert Euro im Monat, bei vielen liegt die Bezahlung weit darunter. Die Lebensmittel- und Energiepreise steigen seit Jahren an. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt an oder unter der Armutsgrenze, jeder fünfte hat sogar Probleme, die tägliche Ernährung zu sichern. Millionen Menschen nehmen dauerhaft Antidepressiva und andere chemische Drogen, um weiter arbeiten und leben zu können. Dies alles führte zum Erfolg der oppositionellen Mobilisierung gegen Mubarak und dann gegen Mursi – Millionen verzweifelte Menschen forderten vor allem Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit.

Politische, aber auch private Konflikte und Ausein­andersetzungen werden seit dem Sturz Mubaraks äußerst gewaltsam in der Öffentlichkeit geführt. Ägypten könnte man überspitzt als Land von Millionen autoritären Charakteren bezeichnen, aufgewachsen und sozialisiert unter dem Regime Mubaraks, in Strukturen von Unterwürfigkeit, Verstellung, Gewalt und Ohnmacht. Andersdenkende gelten als eine Bedrohung, die man im Ernstfall mit Fäusten, Knüppeln oder Macheten attackiert. Die Folterung von Gegendemonstranten durch Islamisten am Ittihadiya-Palast zeugt ebenso von der Verrohung wie die grassierenden sexuellen Übergriffe auf Frauen und die Lust, mit der ein von den Medien aufgestachelter Mob im August »Terroristen« jagte und »Islamistinnen« vergewaltigte.
Auf politischer Ebene bedeuten Nachfragen, Abweichen und erst recht Kritik Verrat. Politiker wie Mohammed al-Baradei und Amr Hamzawy sowie »revolutionäre« Organisationen wie die »Jugend des 6. April« wurden wegen ihrer Kritik an der brutalen Räumung der Protestlager und am Jubel für das Militär und die Politik al-Sisis als »Vaterlandsverräter« stigmatisiert, verleumdet und verfolgt. Ihnen, die als erste und in aller Konsequenz gegen die Herrschaft Mubaraks wie gegen die Muslimbrüder Stellung bezogen hatten, wurde nun der »Verrat an der Revolution« vorgeworfen – von denjenigen, gegen die sich diese »Revolution« gerichtet hatte, den Vertretern des »tiefen Staates« aus Sicherheitsapparat, Wirtschaft, Medien und Politik.
Das trifft auch auf den in Ägypten berühmten Fernsehsatiriker Bassem Youssef zu. Er ist bekannt für seine scharfzüngige Satire, die im Namen von Freiheit und Menschenwürde die Militärherrschaft und danach vor allem islamistische Demagogen und ihre Ideologie aufs Korn genommen hatte. Während der Herrschaft Mursis war er wegen Diffamierung der Religion und Beleidigung des Präsidenten angezeigt und vor Gericht gebracht worden. Als er nun vergangene Woche den Militärchef und Verteidigungsminister al-Sisi und dessen nationalistische Rhetorik parodierte, waren zahllose Zuschauer schockiert. Mehrere Organisationen und Einzelpersonen zeigten ihn wegen Diffamierung des Militärs an und monierten, er habe Lügen verbreitet und dem Land geschadet. Der private Sender CBC distanzierte sich von seiner Sendung: Man stehe hinter den »Grundlagen des Nationalgefühls und des Volkswillens« und bemühe sich, keine Inhalte auszustrahlen, die das Nationalgefühl oder »Symbole des ägyptischen Staates« verhöhnen – gleichzeitig unterstütze man natürlich die Freiheit der Medien.
Es ist erwähnenswert, dass unter den Beschwerdeführern die Organisation ist, die für eine Präsidentschaft von al-Sisi wirbt. Dieser soll sich in der Verfassungskommission gerade Immunität auserbeten haben. Dort wollen die koptische Kirche und die islamische Universität al-Azhar derweil »Religionsfreiheit« nur für ihre monotheistischen Religionen verankern. Das Innenministe­rium ist erfreut über die von der Regierung geplante massive Einschränkung des Demonstra­tionsrechts. Die »zweite Revolution« war wohl leider vor allem eine Konterrevolution.