Autoritäre Politik und politische Gewalt in Griechenland

Selbstmord auf Raten

Die griechische Regierung hat das Misstrauensvotum überstanden. Während das Linksbündnis Syriza noch nach überzeugenden Strategien gegen die Schuldenkrise sucht, versuchen die Neonazis, sich als Opfer politischer Gewalt zu profilieren.

Griechenland rutscht immer tiefer in eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise. Die Zweiparteien-Regierung von Antonis Samaras mag das Misstrauensvotum im Parlament am Sonntagabend gut überstanden haben, doch die anstehenden Austeritätsmaßnahmen üben enormen Druck aus – sowohl auf die Regierung als auch auf die Bürger.
»Ich vertraue keiner politischen Partei mehr«, sagt Despina K., 48 Jahre alt. Sie diskutiert gerade mit einer Freundin über die politische Lage, nachdem vorige Woche die Polizei im Morgengrauen in das Gebäude des ehemaligen staatlichen Rundfunks ERT einfiel, um das seit fünf Monaten von protestierenden Angestellten besetzte Gebäude zu räumen. Daraufhin reichte das Bündnis der ra­dikalen Linken, Syriza, einen Antrag für ein Misstrauensvotum ein. Begründet wurde er mit der andauernden Wirtschaftskrise und dem autoritären Vorgehen der Regierung.

Despina und ihre Freundin bleiben trotzdem misstrauisch: »Warum gerade jetzt und nicht viel früher? Krankenhäuser schließen, jeden Tag verlieren Hunderte Menschen ihren Arbeitsplatz, in unserem Land herrscht Chaos, und Syriza entscheidet sich erst wegen ERT, diesen Schritt zu machen?« Despina ist wütend. Sie ist seit mehreren Monaten arbeitslos. Die Möglichkeiten, einen Job zu finden, sind derzeit sehr gering. Die Arbeits­losigkeit hat einen neuen Rekordwert erreicht und liegt bei fast 28 Prozent, Tendenz steigend. Täglich schließen Geschäfte in jeder Ecke des Landes, griechische und ausländische Unternehmen ­verlassen das Land, Investoren bleiben aus. Das Arbeitsinstitut des größten Gewerkschaftsverbandes für den Privatsektor (INE/GSEE) schätzt, dass die Arbeitslosigkeit bis 2016 auf 34 Prozent steigen wird. Wegen der Sparprogramme der vergangenen vier Jahre haben die griechischen Arbeitnehmer rund 41 Milliarden Euro an Einkommen verloren, ihre Kaufkraft ist auf das Niveau von vor 14 Jahren gesunken. Vermutlich wird es zwei Jahrzehnte dauern, bis die Arbeitslosenquote in Griechenland wieder im einstelligen Bereich liegt. Aber auch wer eine Arbeit hat, wird nicht unbedingt bezahlt. Ein großer Teil der Angestellten im privaten Sektor muss mit erheblichen finanziellen Einbußen leben, weil viele Gehälter entweder gar nicht oder nicht vollständig ausgezahlt werden. Das INE/GSEE schätzt, dass über zwei Drittel der Angestellten seit mehr als drei Monaten auf ihr Gehalt warten. Trotzdem gehen sie weiterhin zur Arbeit. Aus Angst, da sie keine andere Hoffnung auf Beschäftigung haben.

Die Ärztin Natasa Koutsouri leitet die ambulante Station des Henry-Dunant-Krankenhauses in Athen, einer Privatklinik mit gemeinnützigem Charakter. Sie und ihre Kollegen arbeiten schon seit mehr als zehn Monaten ohne Bezahlung. »Man kann nicht einfach so aufgeben«, sagt sie. »In diesem Krankenhaus steckt ein Stück von jedem von uns. Außerdem ist es so, dass man, wenn man kündigt, nicht weiß, ob man woanders bezahlt wird.« Seit elf Jahren arbeitet die 46jährige im Krankenhaus. Nebenher hat sie noch eine eigene Praxis. Seit Beginn der Krise habe sich die Zahl der Patienten drastisch verringert, viele könnten sich eine private Krankenversorgung nicht mehr leisten, sagt sie.
Aber auch die Anzahl derjenigen, die wegen des Verlusts ihres Arbeitsplatzes keine Krankenver­sicherung mehr haben, wächst ständig. Bei einer Gesamtbevölkerung von rund elf Millionen hätten mehr als drei Millionen Griechinnen und Griechen keinen Zugang zum Gesundheitssystem, gab der Präsident des Nationalen Trägers für Gesundheitsleistungen (EOPYY), Dimitris Kontos, vor kurzem bekannt. Die nahe Zukunft Griechenlands sieht düster aus, obwohl die Regierung den Eindruck erwecken möchte, dass die Krise bald vorbei sein wird, um das Sparregime der Troika aus EU, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) fortzusetzen. Dieses sieht unter anderem vor, dass bis Ende kommenden Jahres 15 000 Staatsbedienstete entlassen werden. Die Troika verlangt zusätzliche Einschnitte von zwei weiteren Milliarden unter anderem durch neue Steuern und weitere Kürzungen der Renten.
Die Inspekteure der EU, der EZB und des IWF setzen ihre Prüfungen in Athen fort, während der Protest immer lauter wird. Einige Monate vor der Europawahl wachsen sogar in Brüssel die Zweifel an der ökonomischen Kompetenz der Troika. Im Wirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments soll nun aufgrund der bisherigen Fehlprognosen, etwa hinsichtlich der Entwicklung der griechischen Staatsschulden, ihre Effizienz überprüft werden. Immer mehr Experten betonen, dass alternative Wege aus der Schuldenkrise nötig seien, damit das Land nicht an den Abgrund geführt werde.
Doch auch innerhalb der Linken ist man hinsichtlich der parteieigenen Lösungsstrategien für die Schuldenkrise immer skeptischer. Manolis Glezos, altgedientes Mitglied von Syriza, sagte in einem Interview, dass die Partei noch keine überzeugende Antwort auf die Frage gegeben habe, woher sie im Fall einer Regierungsübernahme das notwendige Geld nehmen wolle, um ihr Programm umzusetzen. Glezos kritisierte auch den von Syriza eingeschlagenen Weg in Richtung ­einer einheitlichen Partei. Tatsache ist, dass das Linksbündnis es trotz des Unmuts in der griechischen Gesellschaft und der ständigen Fehlschläge der Politik der Troika nicht geschafft hat, die Bürgerinnen und Bürger ausreichend zu mobilisieren. Als am Sonntagabend im Parlament über den Misstrauensantrag abgestimmt wurde, hatte Syriza zu einer Demonstration vor dem Parlament aufgerufen. Rund 3 000 Menschen waren gekommen, sehr viel weniger als bei zu den Demons­trationen vom vergangenen Jahr gegen die Regierungspolitik. Viele Menschen in Griechenland finden es sinnlos, so zu protestieren. »Schluss mit dieser Form des Protestes!« sagt zum Beispiel die Demonstrantin Eleni. »Das nächste Mal, wenn wir auf die Straße gehen, bleiben wir da. Dann kommt es tatsächlich zum großen politischen Wechsel«, meint die 30jährige.

Eine aktuelle Umfrage des Instituts Pulse RC sieht Syriza als erste Partei mit 24,5 Prozent und Nea Demokratia knapp hinter ihr mit 23,5 Prozent. An dritter Stelle kommen die Neonazis von Chrysi Avgi mit 10,5 Prozent. Dahinter folgen die Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok), die Kommunistische Partei und die konservative Anel. Die Demokratische Linke, die bis Juni zur Regierung von Samaras gehörte, würde demnach nicht einmal ins Parlament einziehen.
Die Neonazis von Chrysi Avgi haben es sogar geschafft, auch nach dem Hassmord an dem antifaschistischen Aktivisten und Rapper Pavlos Fyssas am 18. September und der Aufdeckung der Straftaten von Parteimitgliedern nicht an Stärke einzubüßen. Der Mord an zwei Mitgliedern von Chrysi Avgi Anfang November hat zudem die Angst vor einer Eskalation der politisch motivierten Gewalt in Griechenland geschürt.
Zwei Unbekannte waren am Abend des 1. Novembers mit einem Motorrad vor das Büro der Nazi-Partei im Athener Vorort Neo Iraklio gefahren. Einer von ihnen schoss auf die Personen, die vor dem Eingang standen. Ein 22- und ein 27jähriger wurden tödlich in den Kopf und die Brust getroffen, ein dritter Neonazi schwer verletzt. Seit diesem Ereignis versucht die Führung von Chrysi Avgi, sich als Opfer zu inszenieren und gemäßigte Positionen einzunehmen. Pressesprecher Ilias Kasidiaris kündigte an, "falls" Mitglieder der Partei an rassistischen Angriffen teilgenommen haben sollten, werde er sie aus der Partei werfen. Er verschwieg, dass Parteimiglieder bereits Migranten angegriffen haben und betonte, die Partei habe mit Faschismus oder Nazismus nichts zu tun. Deren Mitglieder – zumindest die Parteiführung – bemühen sich nun, sie als »seriöse« rechtsextreme Partei zu profilieren. Die militärische Mentalität soll gegen ein sanftes Lächeln getauscht werden. Trotzdem forderte der Vater des vor dem Parteibüro ermordeten Giorgos Fountoulis, dass kein Politiker und keine Partei zu der Beerdigung kommen sollten, auch nicht die alten Kameraden von Chrysi Avgi.
Es erscheint wie ein hämisches Augenzwinkern gegenüber den Gefolgsleuten, dass die Parteiführung jüngst ein Foto der zwei Toten veröffentlichte, auf dem beide mit T-Shirts zu sehen sind, auf denen die von vielen NS-Verbrechern während der Nürnberger Prozesse verwendete Formel »Nicht schuldig im Sinne der Anklage« prangte. Und während um die »guten Jungs«, die »unschuldig ihr Blut gelassen haben«, getrauert wurde, fanden auch Gedenkveranstaltungen statt, bei denen Nazisymbole aus Kerzen geformt und die Verstorbenen als Mitglieder der Eingreiftruppen, die Migranten durch die Straßen jagten, geehrt wurden. Als hätten sie den Angehörigen der Toten, die sich explizit keine politische Instrumentalisierung der Morde wünschten, ins Gesicht geschrien: »Wir sind Nazis und wir sind stolz drauf!«
Yiannis Mavris, ein anerkannter politischer Analytiker des Landes, fasst die Situation in einem Interview mit The Press Project wie folgt zusammen: Chrysi Avgi sei inzwischen im Staat verankert. Die Partei habe so viel Spielraum gewonnen, weil sie ein Mittel zum Zweck der Regierung geworden sei, die sich in der Krise nicht anders zu helfen wusste, um die Bürgerinnen und Bürger von den Sparmaßnahmen abzulenken, denn zugestimmt hätte niemand dieser Form des Selbstmords: »Wir leben unter einer virtuellen parlamentarischen Demokratie. Dies wirft ganz klar die Frage nach einem neuen autoritären Etatismus auf, der Analogien zur Situation vor der Diktatur hat.«