Die wirtschaftliche Lage im Westjordanland

Arbeit statt Autonomie

Im Westjordanland wünschen sich manche Palästinenser die Situation vor 1993 zurück, als die israelische Armee noch die gesamten Palästinensergebiete direkt kontrollierte. Das liegt unter anderem am Klientelismus der Palästinensischen Autonomiebehörde.

Das erzkonservative Hebron steht nicht gerade in dem Ruf, der Präsenz der israelischen Armee gegenüber besonders aufgeschlossen zu sein. Die größte Stadt des Westjordanlandes ist geteilt in einen Sektor, der von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) kontrolliert wird, und einen anderen, den die israelische Armee mit im Schnitt 1 000 Soldaten unter Kontrolle hält. Der Grund dafür ist die Anwesenheit von 400 nationalreligiösen jüdischen Siedlern. Die Begräbnisstätte Abrahams, Isaaks und Jakobs – der Vorväter des Judentums – soll sich der religiösen Überlieferung zufolge in Hebron befinden. Die Siedlerinnen und Siedler in Hebron verstehen ihre Anwesenheit dort als religiöse Pflicht, um die Kontinuität des Judentums in der Stadt zu gewährleisten. Diese nahm mit einem Pogrom im Jahr 1929 ein Ende und wurde 1967, nach der israelischen Eroberung und Besetzung des Westjordanlandes, durch eine Gruppe von Siedlern wieder aufgenommen. Bis 1993, dem Beginn der Friedensverhandlungen in Oslo, kontrollierte die israelische Armee die gesamte Stadt, seitdem nur noch jenen Teil, in dem die Siedler leben und sich die religiösen Stätten befinden.

Ob sich gerade in dieser geteilten Stadt Menschen nach der Zeit vor den Osloer Friedensverhandlungen zurücksehnen, als die Stadt vollständig unter der Kontrolle der israelischen Armee stand, scheint fraglich. Doch Ghareeb Daana ist genau dieser Ansicht. Er ist ein ehemaliges Mitglied der linken PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine) und damit Teil einer Minderheit im von Clanrivalitäten geprägten und politisch von Islamisten dominierten Hebron. Sein Cousin verbrachte 17 Jahre in israelischen Gefängnissen, Daana selbst ist mittlerweile auf zivilgesellschaft­liche Arbeit umgestiegen, seine NGO organisiert einen Austausch zwischen palästinensischen und europäischen Jugendlichen. Seine Behauptung klingt gewagt: Es ließen sich zehn wahllos ausgesuchte Menschen auf der Straße fragen, ob die Zeit der direkten israelischen Besatzung vor 1993 jener der gegenwärtige Herrschaft der PA vorzuziehen sei – jeder werde die Frage bejahen. Eine daraufhin vorgenommene Stichprobe bestätigt seine Behauptung. Ghareeb Daana hingegen scheint seiner eigenen These nicht ganz Glauben schenken zu wollen. »Seltsam. Die Leute wollen die Besatzung«, murmelt er.
Doch was lässt die Menschen in Hebron die Zeit vor 1993 rückblickend in solch positivem Licht sehen? Der erste Grund ist offenkundig: Die Arbeitsmöglichkeiten in den Palästinensergebieten waren in den neunziger Jahren weitaus besser als heute. Bis zum Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 pendelte ein Fünftel der arbeitsfähigen männlichen Bevölkerung des Westjordanlandes täglich nach Israel, um dort vor allem im Industriesektor, in handwerklichen Berufen und in der Landwirtschaft zu arbeiten.
Die Palästinenser waren billige Arbeitskräfte für die israelische Wirtschaft, doch zugleich brachten die meisten von ihnen ein höheres Einkommen nach Hause, als sie es im Westjordanland verdient hätten. Als Reaktion auf die Selbstmord­anschläge der zweiten Intifada betrieb die damalige israelische Regierung eine größtmögliche räumliche Trennung zwischen Palästinensern und Israelis. Seit dem Jahr 2002 wurde die Sperranlage zum Westjordanland gebaut und die isra­elischen Behörden verschärften die Bedingungen für die Ausstellung von Arbeitsgenehmigungen für Palästinenser. So bleibt heute der überwiegende Teil der Palästinenser im wirtschaftlich chancenarmen Westjordanland eingeschlossen. Währenddessen waren in den vergangenen Jahren vor allem Arbeitsmigranten aus Afrika, China und den Philippinen im israelischen Billiglohnsektor tätig.

Die ökonomische Situation im Westjordanland stagniert derweil auf niedrigem Niveau. Das landwirtschaftlich und von Kleinbetrieben geprägte Westjordanland hat kaum eine industrielle Basis. Zudem kommt ein Großteil der konsumierten Waren aus israelischer Produktion. Israelische Firmen haben sich den palästinensischen Markt fast völlig erschlossen, was die Expansionschancen von palästinensischen Kleinbetrieben stark reduziert. Dies stößt auf gegensätzliche Reaktionen unter den Bewohnerinnen und Bewohnern: Während einige Palästinenser die ökonomische Dominanz Israels in den Palästinensergebieten als Form der Besatzung betrachten, bevorzugen andere im Zweifelsfalle doch die qualitativ meist höherwertigen Waren aus israelischer Produktion.
Doch das wirtschaftliche Potential der Palästinensergebiete wird nicht nur durch die Folgen der Besatzung und die Dominanz israelischer Firmen stark eingeschränkt. Auch die tief verwurzelte Klientelwirtschaft der Palästinensischen Autonomiebehörde trägt ihren Teil zur schlechten wirtschaftlichen Lage im Westjordanland bei. »Die PA ist nicht an einem Wirtschaftswachstum interessiert, das an ihren eigenen Firmen vorbei geht. Sie versucht, jede unternehmerische Konkurrenz kleinzuhalten«, sagt Daana.

Der Haushalt der Palästinensischen Autonomiebehörde ist von ausländischen Geldtransfers abhängig – fünf Milliarden Euro hat allein die EU seit 1994 überwiesen. Ein dauerhaftes Wachstum hat dies nicht bewirkt. In Ramallah, dem Sitz der PA, hat sich eine Immobilienblase gebildet, die Einfallstraßen in die Stadt sind von neuen, oft zehngeschossigen Gebäuden gesäumt. Charakteristisch für diese oft halbfertigen Neubauten sind die leeren Fensterhöhlen – die meisten der Gebäude stehen leer. Zugleich ziehen immer mehr Einheimische von der Stadt ins Umland. Die Mieten sind so drastisch gestiegen, dass viele sie nicht mehr bezahlen können.
60 000 Menschen im Westjordanland bekommen ihr Gehalt von der Autonomiebehörde. Geschichten von Lehrern, die wegen der üblichen zwei- bis dreimonatigen Verzögerung der Gehaltszahlungen nicht zum Unterricht erscheinen, weil sie die paar Schekel für die Busfahrkarte lieber sparen, sind an der Tagesordnung.
Daana geht davon aus, dass sich die Wut auf die Autonomiebehörde früher oder später Bahn brechen wird: »Wenn es zu einer erneuten Intifada kommt, wird sich diese nicht gegen Israel richten, sondern gegen die Autonomiebehörde.«