Die »Fettsteuer« und der Kampf gegen den Siegeszug des Übergewichts in Mexiko

Ein Land auf Diät

Jeder dritte mexikanische Bürger gilt nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) als fettleibig. Damit hat Mexiko den USA den Rang abgelaufen und ist zum »dicksten Land der Welt« geworden. Die staatlichen Gesundheitsausgaben sind aufgrund von Diabetes und Herz- und Kreislauferkrankungen stark gestiegen. Nun wurde eine »Fettsteuer« eingeführt.

Das helle Summen des Mixers ertönt aus der linken Ecke des Tresens. Dort steht eine Kollegin von Lucero Belem Reyes Gutiérrez und bereitet Fruchtsäfte aus frischer Ananas, etwas Limonensaft, Zucker und Wasser vor. »Obst und Gemüse stehen auf unserem Speiseplan an erster Stelle«, sagt die Direktorin der Kindertagesstätte Roberto Alonso Espinosa, »wir kochen nur mit frischen Zutaten und versuchen, den Kindern Spaß an gesunder Ernährung zu vermitteln.« Es ist gerade Mittagszeit und rund 60 Kinder sitzen in dem freundlich gestalteten, hellen Esszimmer, dem comedor, in Lomas de Chamontoya. Das Stadtviertel liegt am Rande der mexikanischen Hauptstadt. Lärmend warten die Kinder auf ihr Essen oder machen sich bereits darüber her. Heute steht ein Ratatouille auf dem Speiseplan, dazu gibt es Tortillas und als Nachtisch etwas Obst. Hinzu kommen die Fruchtmixgetränke, in Mexiko licado oder batido genannt.
»Früher waren in jedem Haus hier die Mixer im Einsatz, um die frischen Früchte zu verarbeiten. Heute schaffen es die Frauen aus den umliegenden Stadtvierteln wie San Bartolo, La Era und Paraje El Caballito kaum mehr, Früchte zu kaufen, weil viele mehrere Jobs haben und nicht zum Einkaufen kommen«, meint Reyes Gutiérrez. Die diplomierte Lebensmittelchemikerin leitet den Montessori-Kindergarten, der dank der Hilfe einer Stiftung aus der nahegelegenen Stadt Puebla optimal ausgestattet ist. Nicht nur mit Spielzeug, das es den Kindern ermöglicht, frühzeitig Grundlegendes zu erlernen, sondern auch mit reichlich Platz zum Spielen und Lernen, wozu auch das gemeinsame Kochen in der Küche gehört. Auch zum Toben gibt es hier viel Platz: Zwischen den beiden mehrstöckigen Bungalow-Trakten, die das Areal links und rechts begrenzen, befindet sich eine Freifläche, auf der nach Herzenslust gekickt, getollt oder geturnt werden kann. Dahinter ist eine kleine Grünfläche, auf die sich Kinder wie Erzieher auch mal zurückziehen können.
Das ist ungewöhnlich in Mexiko, denn meist geht es in Kindergärten und Schulen sehr beengt zu. Bewegung steht nicht gerade oben auf der Prioritätenliste des Bildungsministeriums. »Das muss sich ändern, denn seit zwei Jahren sind wir das dickste Land der Welt. Wir haben die USA als Hochburg des Übergewichts abgelöst«, sagt Elsy Yaneth Silva Soto. Die Ernährungsberaterin ist gerade zu Besuch im Kindergarten von Lomas de Chamontoya, um sich einen Eindruck von der alltäglichen Arbeit mit den Kindern zu machen. Dazu gehört es, zu prüfen, ob das Präventionsprogramm, das sie gemeinsam mit den Spezialisten der »Jugendeinrichtung zur integralen Förderung« erarbeitet hat, auch greift.

Drei von zehn mexikanischen Kindern sind deutlich übergewichtig oder gar fettleibig. Das gilt mittlerweile als gesellschaftliches Problem und ist schon in den Kindergärten kaum zu übersehen. 15 der etwas über 60 Kinder, die im Kindergarten von Lomas de Chamontoya betreut werden, wiegen einige Kilo zu viel, sagt die Direktorin. Das soll sich ändern, und deshalb arbeiten Kindergarten und kirchlich finanzierte Jugendeinrichtungen zusammen. Tipps für das kohlehydrat­arme Kochen mit Kindern, aber auch Listen mit der jahreszeitlichen Verfügbarkeit von Gemüse und Früchten sowie Vorschläge für die ausgewogene Ernährung enthält eine Broschüre, die auch im Regal in der Küche steht.
Der Kindergarten gilt als Pilotprojekt. Einrichtungen, die eine eigene Küche und Sportflächen haben, sind in Mexiko überaus selten, aber dass man sich obendrein gezielt darum kümmert, Kindern und Eltern beizubringen, wie man sich gesünder ernährt, dürfte einmalig sein. »Wir beginnen gerade erst, die ersten Kindergärten und Schulen in Mexiko-Stadt mit Küchen auszustatten und uns um die Ernährung der Kinder zu kümmern«, so Mónica Hurtado. Die Frau von Anfang dreißig ist die Ernährungsberaterin der ­Regionalregierung von Mexiko-Stadt und alles andere als zufrieden mit der Entwicklung der vergangenen Jahre. »2011 haben wir in Mexikos Schulen erstmals eine Bestandsaufnahme gemacht und festgestellt, dass die Quote der Übergewichtigen auf 32 Prozent angestiegen ist. Das liegt zwar noch unter der Quote der Erwachsenen, ist aber mehr als alarmierend«, sagt die Ernährungsexpertin.
Sieben von zehn erwachsenen Mexikanern haben zu viel Speck auf der Hüfte und es ist unstrittig, woher das kommt: Tortas, tacos, gorditas und papas sind dafür verantwortlich. Diese kalorienhaltigen Speisen werden nahezu an jeder ­U-Bahn- und Bushaltestelle und sehr oft auch vor Schulen angeboten. Mit Ausnahme der tortas, den dick belegten Sandwiches, werden die mexikanischen Fast-Food-Klassiker in Öl frittiert: Papas sind vor Öl triefende Kartoffelchips, gorditas frittierte und mit Rind- oder Hühnerfleisch gefüllte Maisfladen und tacos knusprige Maischips, zu denen allerlei scharfe Soßen, Dips und Eintöpfe gereicht werden. »Das ist billig und macht satt, ist aber eher auf den Energiebedarf eines Bauarbeiters ausgelegt«, erklärt Mónica Hurtado. Comida chatarra, wörtlich »Schrottessen«, werden die Kalorienbomben von der Straße in Mexiko genannt. Jeder und jede weiß eigentlich, dass dieses Essen alles andere als gesund ist, aber es wird trotzdem konsumiert, und zwar reichlich.

Ein großes, auf Leinwand gesprühtes Graffito im Büro von Mónica Hurtado verdeutlicht die Situation. Darauf ist ein feister, genüsslich mampfender Mann zu sehen, der in der rechten Hand eine schäumende Getränkedose und in der linken ein dickes Sandwich hält. »Der typische Mexikaner unserer Zeit«, sagt die Ernährungswissenschaftlerin und deutet mit einem sarkastischen Lächeln auf das Bild.
Das Bild war das Geschenk eines talentierten Künstlers, den sie einst bei einer Veranstaltung traf und der inerhalb weniger Minuten mit der Spraydose die Problematik illustrierte. Auf 163 Liter pro Kopf beläuft sich mittlerweile der Konsum von Softdrinks in Mexiko – das ist Weltrekord. Dabei sind die Limos, die auf dem mexikanischen Markt erhältlich sind, in der Regel wesentlich kalorienhaltiger als in den USA. Zuckerfreie Erfrischungs- und Koffeingetränke gibt es in Mexiko nämlich selten. »Sie werden kaum angeboten und die großen Getränkekonzerne, ob Coca-Cola oder Pascual, tun sich schwer, ihre Rezepte zu ändern«, sagt Hurtado.
Mittlerweile leidet Mexikos Gesundheitssystem unter den Folgen des in den vergangenen 20 Jahren erfolgten Ernährungswandels. »Während früher Limonaden nur zu Familienfeiern gekauft wurden, stehen die zuckersüßen Softdrinks bei einigen Familien bereits zum Frühstück auf dem Tisch«, sagt Armando Ahued, der Vorgesetzte von Frau Hurtado. Ahued hat im November 2012 die zweite Klinik für an Obesitas-Erkrankte in Mexiko-Stadt eröffnet.

Fettsucht ist in Mexiko seit Jahren auf dem Vormarsch und zwischenzeitlich waren unter den zehn schwersten Menschen weltweit vier Mexikaner. Darunter auch Manuel Uribe, der mit 592 Kilogramm einst der schwerste Mann der Welt war und heute wenig erfolgreich darum kämpft, abzuspecken. Auf Menschen wie Uribe ist das Angebot der beiden Kliniken in Mexiko-Stadt ausgerichtet: »Fettleibige, die ihr Leben ändern wollen und dafür operative und psychologische Hilfe benötigen«, so Armando Ahued.
Deren Zahl nimmt zu und mit ihnen die Ausgaben für Gesundheit in Mexiko. Sieben Prozent des Gesundheitsetats belaufen sich auf Ausgaben, die direkt auf Übergewicht, Essstörungen, Fettsucht und Fehlernährung zurückzuführen sind. Neun Prozent sind es in den USA, aber es ist absehbar, dass die Mexikaner die Amerikaner auch in dieser Statistik überholen werden. Ein Problem, das den Politikern in Mexiko-Stadt in den vergangen drei Jahren langsam bewusst wurde. Nun setzen sie auch Sanktionen: Anfang November beschlossen die Abgeordneten, eine Steuer von acht Prozent auf Lebensmittel mit mehr als 275 Kalorien pro 100 Gramm zu erheben. Die vorgesehene 20prozentige Steuer auf Softdrinks, die eine heftige Debatte und großen Widerstand auslöste, fand jedoch keine Mehrheit. Kleine Tante-Emma-Läden, die um ihre Umsätze bangten, waren für die großen Konzerne, die die Verantwortung für die Verfettung der Gesellschaft ablehnten, ersatzweise in den Kampf gezogen. Doch ohnehin verfügen die großen Unternehmen der Lebensmittelindustrie über beste Kontakte zum politischen Establishment. Der ehemalige Präsident Vicente Fox war einst sogar Generaldirektor bei Coca-Cola, auch der derzeitige Präsident, Enrique Peña Nieto, will die großen Konzerne einbeziehen.
Das sei typisch für die Regierung, meinen viele in Mexiko. »Sie versucht, es der Industrie recht zu machen. Dabei würde es ja schon reichen, wenn die Softdrinks in Mexiko weniger süß wären«, ärgert sich Reyes Gutiérrez. Sie plädiert dafür, Wasserspender in Schulen und Kindergärten aufzustellen und Softdrinks daraus zu verbannen. In ihrem Kindergarten ist das längst passiert. Diese Forderungist in Mexiko immer wieder zu hören. Doch Konzerne wie Coca-Cola, Kellogg’s und andere sorgen über das Sponsoring von Sportstätten oder auch von Schulfrühstücken dafür, dass ihre Produkte oder zumindest Logos weiterhin zu sehen sind. Miese Praktiken, urteilen Experten wie Mónica Hurtado.
Sie ist ohnehin nicht sonderlich begeistert von dem Modell der Besteuerung. »Dahinter gibt es doch kein Konzept. Das Geld ist schlicht nicht für Verbesserungen an den Schulen, für Kantinen und neue didaktische Konzepte vorgesehen. Ein Armutszeugnis«, schimpft sie und plädiert für mehr Anstrengungen im Bereich der Bildung, die Sensibilisierung der Lehrer und eine bessere Ausstattung der Schulen. Es gebe nur eine Stunde Schulsport pro Woche, wovon oft nur wenige Minuten Sport getrieben werde, das sei zu wenig, kritisieren Lehrer und Bildungsexperten.

Deshalb hat die Regierung von Mexiko-Stadt Dinge wie den Fahrrad-Sonntag eingeführt, an dem mehrere Hauptverkehrsstraßen für Autos gesperrt sind und die Bewohner der Hauptstadt Fahrrad fahren, joggen oder skaten. Auch Gymnastikkurse in öffentlichen Parks werden angeboten und in Anspruch genommen. 500 Menschen, die gemeinsam die Oberschenkel dehnen, sind keine Seltenheit. Und auch eine »Nahrungsmittelampel« hat das Sekretariat für Gesundheit der Stadt ins Leben gerufen. Sie soll die Bewohner der Hauptstadt informieren, welche Lebensmittel täglich und welche nur maximal dreimal pro Woche verzehrt werden sollten.
So will Mexikos Metropole zumindest ein Zeichen setzen. Auch die lokale Polizei hat der Bürgermeister auf Diät gesetzt. In den Kantinen der meist kompakten Ordnungshüter wird besser und vor allem mit weniger Fett gekocht und Gymnastik am Arbeitsplatz wird zumindest angeboten. »Auch zu Fuß, statt nur im Dienstwagen, muss mittlerweile ermittelt werden«, scherzt Mónica Hurtado.
Die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto ist da noch nicht so weit. Dabei muss sie früher oder später für Versäumnisse in der Gesundheitspolitik zahlen. Die Kosten steigen enorm: Sechs Milliarden US-Dollar wurden 2012 für die direkten Folgen von Übergewicht oder Fettleibigkeit aus­gegeben. 2013 dürften es mehr sein, denn fast jeder zehnte Mexikaner leidet an Diabetes, was längst zur häufigsten Todesursache im Land geworden ist.
»Problematisch ist dabei«, so Reyes Gutiérrez, »dass viele Haushalte auf billige Fertiggerichte und Fast Food von der Ecke angewiesen sind. Sie können es sich kaum leisten, zu Hause zu kochen, weil die Zutaten immer teurer werden, die industriellen Fertigprodukte aber erschwinglich bleiben.« Das hat zur Folge – das bestätigt auch die UN-Organisation für Ernährung (FAO) –, dass Fertiggerichte Gemüse und Obst aus den in Mexiko verbreiteten kleinen Supermärkten längst verdrängt haben. In den Regalen von Oxxo oder 7 Eleven finden sich vor allem Chips, Kekse, Softdrinks, Fertiggerichte und der obligatorische Fast-Food-Stand. »Und die Ständer mit den Produkten für die Kleinen sind perfekt angebracht«, klagt Reyes Gutiérrez und öffnet den Kühlschrank in der Küche, um einer Mutter eine Schale mit Ananasecken zu geben. Lebensmittel, die übrig sind, gibt sie hin und wieder alleinerziehenden Müttern oder arbeitslosen Eltern mit. Wie angesichts dieser Bedingungen die Ernährung des zweitgrößten Landes Lateinamerikas wieder ins Lot kommen soll, ist ihr völlig unklar.