Das Prinzip Trinkgeld

Das schlechte Gewissen

Trinkgeld ist umstritten als Geste, an der sich Herr und Knecht beiderseits erkennen. Aber eine andere Trinkgeldpraxis ist möglich.

Schenken vollzieht sich selten aus freien Stücken. Das Geben und Nehmen geschieht zudem häufig nur verborgen. Zu eingebunden sind derlei Gesten in gesellschaftliche Rituale. Zu sehr ist der Konformitätsdruck verinnerlicht, keiner will beim Schenken schlecht dastehen. Fast nirgends zeigt sich das so deutlich wie bei der gebräuchlisten Form des Schenkens: dem Trinkeld. Nicht zu unterschätzen ist dieser Teil des materiellen Kreislaufs, dessen Volumen von Experten allein in Deutschland auf mehrere Milliarden Euro jährlich geschätzt wird, in den USA gar auf 15 Mil­liarden. Immerhin, wo auf zahlreiche Dienstleistungen eine gewisse, mancherorts standardisierte Summe draufgezahlt wird, wandert die Pinkepinke rege von Tasche zu Tasche.

Ob es nun Altruismus oder gar verdeckter Egoismus ist, der die Rationalität des Trinkgelds prägt, darüber sind sich Sozialforscher uneinig. Kein Zweifel besteht allerdings darin, dass jene Sitte von sozialen Normen geleitet ist. Unterschwellig eher als lästig empfunden, ist das Trinkgeld dennoch globale Normalität. Es gibt nationale Unterschiede, das grundlegende Prinzip ist jedoch in weiten Teilen der Welt wirkmächtig. Das war nicht immer so. War es in Deutschland einst üblich, dem Bahnschaffner etwas Geld in die Tasche zu stecken, hätte sein französischer Kollege dies als demütigend empfunden. So schildert es Winfried Speitkamp in seiner »Kleinen Geschichte des Trinkgelds«.

Zweifellos sollte Respekt gegenüber Lohnabhängigen walten, deren Arbeitskraft für die Befriedigung eigener Bedürfnisse unmittelbar genutzt, ja sogar dirigiert wird. Wie aber drückt sich solcher Respekt aus, wie wird er hergestellt? Hohe Löhne, die das Trinkgeld obsolet machen, aber auch besonders normierte Trinkgelder wie in den USA lindern gewiss den Druck, sich vor dem Gast zum Horst zu machen.

Der dabei bemühte Bericht Kurt Tucholskys über eine Erfahrung in Paris demonstriert die Bedeutung derartiger Gaben für die solziale Abgrenzung und Statuszuweisung. Zugleich verweist dies auf die Schattenseite des Trinkgelds. Tatsächlich war das Prinzip einst umstritten. Sein Siegeszug vollzog sich unter Bedingungen, in denen die Klassenwidersprüche offensichtlicher waren.

Bei Tätigkeiten, die einen sozusagen dienerischen Charakter hatten und deren Inanspruchnahme einem erlauchten Kreis vorbehalten war, traten sie besonders offen zu Tage. Gerade hier konnten sich, nach Hegelscher Lesart, Herr und Knecht beiderseits erkennen, an und für sich zu Bewusstsein kommen. Es ist bezeichnend, dass das Trinkgeld vor allem bei solchen Tätigkeiten – Koffertragen, Chauffieren, Kellnern – Anwendung fand. Als entledige sich die herrschende Klasse damit ihres schlechten Gewissens.

Entsprechend waren Trinkgelder durchaus Thema in fortschrittlichen Kreisen und der Arbeiterbewegung. Es entstanden sogar Organisationen für die Abschaffung des Trinkgeldes, wie die »Anti-Trinkgeld-Liga« in Deutschland. Für sie waren Trinkgelder aristokratische Relikte. Ebenso wie die Gewerkschaften forderten sie einen ordentlichen Lohn anstelle von Trinkgeld, um die Demütigung des Personals zu beenden. Insbesondere die Kellnerinnen galt es dabei zu schützen, die, angewiesen auf das Trinkgeld, häufig zu Willfährigkeiten bereit sein mussten.

Mancherorts kam es auch zu Trinkgeldstreiks von Bediensteten, in manchen Regionen der Welt sogar zu gesetzlichen Verboten des Trinkgeldes – wenn auch nicht von Dauer. Bekannt ist George Orwells Episode aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Im revolutionären Barcelona wurden viele Restaurants in Selbstverwaltung übernommen, und »niemand war ein Kriecher oder nahm ein Trinkgeld an«. Mit dem Massentourismus und der Expansion der Gastronomie verwischten schließlich die Klassenwidersprüche in solchen Dienstverhältnissen. So sieht sich »die Bedienung« – heute die hauptsächliche Adressatin von Trinkgeldern – einer heterogenen Kundschaft gegenüber, erbringt Dienste häufig unter Gleichen. Der dienerische Charakter der Arbeit bleibt jedoch erhalten, ebenso wie die Probleme von Gastronomiearbeitern, die mit Trinkgeldern verbunden sind. Dass Arbeitgeber häufig niedrige Löhne mit dem Verweis auf das Trinkgeld legitimieren, ist bekannt. Weniger bewusst ist vielen, dass das Trinkgeld die Belegschaft spaltet. So kann es dem Koch mit festem Lohn eher egal sein, wenn nicht viel los ist, er kann sogar nachlässig sein. Die Bedienung ist jedoch auf rege Betriebsamkeit angewiesen; sie sieht sich auch einem größeren Verhaltensdruck ausgesetzt. Mit der Integration von Trinkgeld in die Lohnstruktur entsteht eine perfide Abhängigkeit vom Gast: Man wird zur berüchtigten Arschkriecherei verdammt. Das Problem liegt natürlich im Restaurantsystem begründet, das dienerische Tätigkeiten voraussetzt. Ob man dieses jedoch gleich beseitigen sollte, wie es das britische Illustratorenkollektiv prole.info in einer klassenkämpferischen Broschüre propagiert?

Es gehört immerhin zu den Annehmlichkeiten des Lebens, sich zuweilen entspannt mit Speis und Trank versorgen zu lassen. Und nicht jeder Geist verträgt die Atmosphäre einer Vokü, die zuweilen noch vor dem Essen auf den Magen schlägt. Zweifellos sollte Respekt gegenüber Lohnabhängigen walten, deren Arbeitskraft für die Befriedigung eigener Bedürfnisse unmittelbar genutzt, ja sogar dirigiert wird. Wie aber drückt sich solcher Respekt aus, wie wird er hergestellt? Hohe Löhne, die das Trinkgeld obsolet machen, aber auch besonders normierte Trinkgelder wie in den USA lindern gewiss den Druck, sich vor dem Gast zum Horst zu machen. Aber Hinz und Kunz schnippen dennoch penetrant mit dem Finger und drangsalieren die Kellnerin mit frivolen Sprüchen. Mit Respekt hat das wenig zu tun. Hier zeigt sich das eigentliche Problem, das weder durch höhere Löhne noch durch festgelegte Trinkgelder gelöst werden kann. Solche Rezepte vermögen es, die Macht des konsumierenden Tyrannen zu schwächen, nicht aber, diesen auch angemessen zu disziplinieren. Dass das möglich ist, machen einige herzliche Gaststätten vor. Sie belohnen gute Gäste mit ein, zwei, vielen Schnäpsen oder anderen Leckereien. Dadurch wird dem Gast respektvolles Verhalten auch in der Zukunft eingeschärft, und das hier gern überreichte Trinkgeld verliert sogar seine Unziemlichkeit. Wenn das die soziale Norm wäre, dann erhielte das Konzept Trinkgeld wieder, nein, endlich Sinn.