Geschenke und Klassengesellschaft

Nichts zu danken

Das Geschenk spielte eine wichtige Rolle bei der Enstehung und Festigung der Klassengesellschaft. Die Bourgeoisie mag allerdings nichts mehr verschenken.

»Ihr versteckt euch wieder in euren Häusern, fickt Tag und Nacht, obwohl es Arbeit zu tun gibt!« Vermutlich wären Sie ziemlich verärgert, wenn Ihr Chef Sie, einen Gong schlagend, mit einer solchen Mahnung am frühen Morgen wecken würde, vor allem wenn Sie bis spät in die Nacht gefeiert haben. Es waren wohl auch nicht alle Siuai begeistert über den Auftritt ihres mumi Soni, den der Ethnologe Douglas Oliver 1939 beobachtete. Gemindert hat ihren Groll wohl das Wissen, dass es Soni war, der sie am Vorabend bewirtet, selbst am wenigsten gegessen, sich aber am Morgen als erster aufgerafft hatte. »Ich sage euch, das Fest gestern war gar nichts«, schloss Soni seinen Weckruf. »Das nächste wird wirklich groß.«
Sein Coaching, wie man es heute wohl nennen würde, ist typisch für Gesellschaften im Übergang vom Häuptlingstum zu Herrschaft und Klassengesellschaft, den der Kulturanthropologe Marvin Harris in seinem Buch »Cannibals and Kings. The Orgins of Cultures« beschreibt. Die auf den Solomonen lebenden Siuai betrieben Ackerbau und Viehzucht, konnten also mehr erwirtschaften, als für den unmittelbaren Verbrauch notwendig war. Für das Ansammeln von Vorräten musste aber mehr gearbeitet werden, als unbedingt nötig war, und die Menschen dazu anzutreiben, war der Job des mumi.
Wer sich dazu berufen fühlte, musste zunächst seine Familie und einige Freunde als Helfer gewinnen. Das war nicht einfach, denn auch die enge Gefolgschaft eines mumi musste mehr arbeiten und und durfte weniger konsumieren als andere. »Wir essen Sonis Ruhm«, sagten dessen Helfer. War die erste Hürde genommen, musste der angehende mumi sein Talent als Motivationstrainer und Eventmamager unter Beweis stellen. Denn zwingen konnte er niemanden zur Mehrarbeit, und mit dem vagen Versprechen auf sozialen Aufstieg hätten sich die Siuai nicht zufriedengegeben. Sie erwarteten, dass der mumi ihnen das gemeinsam erwirtschaftete Mehrprodukt schenkte. Wehe dem mumi, der bei seinem Fest nicht so viel Fleisch und Sago-Mandel-Pudding bereitstellte, dass auch in den Magen des Gierigsten nichts mehr passte.

Obwohl diese Verhältnisse einem freiwilligen Zusammenschluss der Produzenten näher kommen als die Zustände im Kapitalismus, sollten sie nicht idealisiert werden. Zu den traditionellen Aufgaben eines mumi gehörte es beispielweise auch, räuberische Kriegszüge zu organisieren, und seine Position beruhte auf dem Patriarchat. Doch die weite Verbreitung der Rückgabe des Mehrprodukts, deren bekanntestes Beispiel der Potlatch ist, belegt, dass die Aneignung des Mehrprodukts durch eine Oberschicht und die soziale Ungleichheit ebenso wenig selbstverständlich sind wie deren Akzeptanz.
Den Homo sapiens gibt es seit etwa 40 000 Jahren, die ersten Klassengesellschaften entstanden vor kaum mehr als 5 000 Jahren. Über deren Ursprung gibt es diverse Theorien, doch sind sich Forscher und Forscherinnen mittlerweile weitgehend einig darüber, dass nicht plötzlich ein Genius auf die Idee kam, Könige, Steuern und Hinrichtungen einzuführen und dann alle begeistert mitmachten. Vielmehr erfolgte der Übergang von der ökonomisch egalitären zur distributiven und später hierarchischen Gesellschaft schrittweise. Das Geschenk spielte dabei eine wichtige Rolle. Es ist geronnene Arbeit, und jeder Herrscher ist bestrebt, sich als Verwalter des Allgemeinwohls darzustellen, der nicht nur nimmt, sondern auch gibt. Und lange nachdem sich eine herrschende Klasse etabliert hatte, erwarteten die Menschen die Rückgabe wenigstens eines Teils dessen, was ihnen genommen worden war, und konnten sehr ungehalten werden, wenn sie leer ausgingen.

Aus dem Häuptling, der im Stil eines mumi agiert, wird ein Herrscher, wenn es ihm gelingt, eine persönliche Kontrolle über die angesammelten Ressourcen zu erlangen und die Verteilung einzuschränken. Im nächsten Schritt festigt der Anführer seine Position, sein Amt wird in seiner Familie erblich, die Abgabe und damit die Mehrarbeit werden verpflichtend. Nunmehr kann der Anführer Menschen dafür entlohnen, seinen Willen durchzusetzen, und sich auch für den persönlichen Bedarf aus den Vorräten bedienen. Er entwickelt das Interesse, mehr Ressourcen anzusammeln, sei es durch Erhöhung der Abgaben oder durch Eroberung. Nun ist seine Hütte ein »großes Haus« – die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Pharao – geworden, ein Palast. Doch um seinem Palast den Frieden zu erhalten, muss er weiter schenken.
Bei einer Hungernsot Vorräte zu verteilen, galt immer als Pflicht des Herrschers. In einem zentral und straff organisierten Herrschaftssystem war das Geschenk jedoch häufig nur noch ein Mittel, die Loyalität von Angehörigen der Oberschicht zu sichern, denn was gewöhnliche Bauern über ihn dachten, konnte dem Pharao gleichgültig sein. So beschenkte er vornehmlich die Götter, also die Priester, die ein unabhängiges Machtzentrum bildeten. Doch schon eine antike Großstadt konnte ein Unruheherd sein, deshalb bot man den Bürgern Roms Brot und Spiele – die Getreidespende, die kein Mittel der Armenversorgung war, sondern auch den Wohlhabenden zukam, und das Amüsement in Kolosseum und Theater. Von einem römischen Würdenträger wurde erwartet, dass er einen beachtlichen Teil seiner Einkünfte für öffentliche Bauten, Gelage und Spiele ausgab. Vom Spottgesang im Kolosseum bis zum Aufstand reichten die Mittel, ihn an diese Verpflichtung zu erinnern.

Die Feudalherren Europas entwickelten im Feudalismus Jahrhunderte später erneut eine Geschenkkultur. Die wichtigste Eigenschaft eines Adligen war neben der Kriegstauglichkeit seine Freigebigkeit. Sie hatte sich, selbst wenn er sich dafür hoffnungslos verschulden musste, im opulenten Gastmahl zu erweisen, bei dem auch wertvolle Geschenke verteilt wurden. Die Bevölkerung konnte am Rand teilhaben, ebenso wie bei Turnier und Parade.
Überwiegend werden in der etablierten Klassengesellschaft Privilegierte mit Geschenken bedacht, die dem Herrscher seinen Posten streitig machen könnten. Viele moderne Diktatoren arbeiten noch immer mit diesem System, wobei das Geschenk heute auch eine Bergbaukonzession, ein Ministerposten oder eine andere lukrative Einnahmequelle sein kann. Wer vor dem Zugriff des Diktators sicher ist, wird das in der Regel Korruption nennen. Wo im parlamentarisch verwalteten Kapitalismus die Geschenkkultur aufhört und die Bestechung anfängt, wird in Deutschland derzeit im Prozess gegen Christian Wulff debattiert.
Als kurz nach Beginn der Finanzkrise die Idee aufkam, Konsumgutscheine zu verteilen, wurde dieser Vorschlag in Deutschland umgehend als populistisch gebrandmarkt und verworfen. Obwohl der Kapitalist weit weniger ein Meritokrat ist als der mumi, steht er unter viel geringerem Druck, vom angeeigneten Mehrprodukt wieder etwas herauszurücken. Da die Bourgeoisie sich nicht als herrschende Klasse sehen will, glaubt sie, niemandem etwas zu schulden. Auch ihre engere Gefolgschaft ist nicht damit zufrieden, die Ehre des Chefs zu essen.
Dass der Wunsch, verehrt zu werden, bei den Häuptlingen noch immer vorhanden ist, belegt das Sponsoren- und Mäzenatentum. Hier wird allerdings deutlich, wie schwer sich die Bourgeoisie mit dem Schenken tut. Wenn etwa der Soft­wareunternehmer Hasso Plattner die Hasso-Plattner-Stiftung für Softwaresystemtechnik gründet, kann das kaum als Ausdruck von Freigebigkeit gelten. Aber auch die Bill & Melinda Gates Founda­tion ist eher eine Investmentgesellschaft, die einen Teil ihres Vermögens – nach US-Stiftungsrecht mindestens fünf Prozent im Jahr – für wohltätige Zwecke ausgibt. Die Siuai hätten Gates wohl nicht als mumi akzeptiert.