Die Krise der türkischen Regierung

Fear and Loathing in Ankara

Die türkische Regierung versucht mit repressiven Maßnahmen, Kritik und Ermittlungen gegen führende Politiker wegen Korruption zu verhindern. Derweil spaltet sich das islamisch-konservative Lager.

Mittlerweile zweifeln nicht wenige in der Türkei an der geistigen Gesundheit von Recep Tayyip Erdoğan. Oppositionsführer Devlet Bahçeli von der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) bemerkte unlängst, die Kommentare des Ministerpräsidenten zum Korruptionsskandal schadeten dem türkischen Ansehen in der Welt mehr als die Vorwürfe selbst, sie seien Ausdruck gänzlicher Verwirrtheit. Böse Mächte aus dem Ausland machte Erdoğan in den vergangenen drei Wochen für die offensichtliche Verstrickung von Regierungsvertretern und ihren Verwandten in Betrügereien um Immobilienspekulationen und die Vergabe staatlicher Aufträge verantwortlich. Er faselte etwas von der griechischen, armenischen und israelischen Lobby und wirkte bei seinen zahlreichen Auftritten im türkischen Fernsehen wie ein angestrengt um Fassung ringender Paranoiker kurz vor dem Amoklauf. Richtige Entscheidungen trifft er schon lange nicht mehr. Die Strafversetzung von 16 Polizeichefs und die Entlassung von zehn Ministern und insgesamt 1 700 Polizeibeamten haben Erdoğan politisch ebenso wenig genutzt wie die Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen acht türkische Fernsehsender.

Im Zuge der Berichterstattung über den andauernden Korruptionsskandal forderte der Istanbuler Oberstaatsanwalt Turan Çolakkadı am Donnerstag vergangener Woche vom Obersten Rat für Hörfunk und Fernsehen in der Türkei (RTÜK) Vorkehrungen gegen »Nachrichten, die in die Privatsphäre des Einzelnen« eindringen würden. Konkret geht es um die Sender Halk TV, Samanyolu TV, Samanyolu Haber TV, Bugün TV, Kanaltürk TV, Fox TV, Kanal D und Cem TV. Sie hatten in den vergangenen Wochen genüsslich Nachrichten über der Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) nahestehende Personen und ihre Nebenverdienste verbreitet. Alle TV-Kanäle zeigten die Bilder von Schuhkartons mit 4,5 Millionen US-Dollar, die im Haus des Generaldirektors der staatlichen Halkbank gefunden wurden. Auch die zahllosen Banknoten im Schlafzimmer des Sohnes des Innenministers, Baris Güler, waren zu sehen.
Allein die politische Bandbreite der Fernsehsender, darunter linke, alevitische, nationalistische oder dem Islamistenführer Fethullah Gülen nahestehende Medien, verdeutlicht, weshalb sich die der AKP verbundenen Amtsträger in Panik befinden. Die prominente islamisch-konservative Journalistin Nazlı Ilıcak war bereits am 19. Dezember als Kolumnistin der regierungsnahen Tageszeitung Sabah entlassen worden, weil sie den Rücktritt der von den Korruptionsvorwürfen betroffenen Minister gefordert hatte, noch bevor Erdoğan diese schließlich entließ. Bereits während der Ausschreitungen um den Gezi-Park hatten sich etliche islamisch-konservative Intellektuelle von deren undemokratischer Niederschlagung und der Strafverfolgung von Demonstrierenden seitens der Regierung distanziert. Erdoğan verliert also Anhänger, es bleiben unfähige Getreue.
Der neu berufene türkische Justizminister Ali Aşlık etwa schreckt nicht einmal vor öffentlichen Drohungen gegen seine Staatsbeamten zurück. Der Istanbuler Oberstaatsanwalt Zekeriya Öz wurde unlängst wegen seinen Ermittlungen gegen Regierungsvertreter und ihre Angehörigen an den Gerichtshof des Istanbuler Stadtteils Bakırköy strafversetzt. Öz erklärte am Donnerstag voriger Woche in einer Presseerklärung, zwei von Erdo­ğan persönlich geschickte hohe Justizbeamte hätten ihn während seiner Ermittlungen bedroht. Es könne übel mit ihm enden, wenn er nicht die Finger von Angelegenheiten lasse, die ihn nichts angingen. Aşlık bestätigte am Freitag voriger Woche diese ungeheuerlichen Vorwürfe indirekt, indem er Öz über Twitter drohte, er werde enden wie sein Kollege Murat Gök. Der ehemalige Oberstaatsanwalt von İzmir war im April 2013 tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Davor hatte Gök in Korruptionsfällen ermittelt und war schließlich nach Samsun an die Schwarzmeerküste strafversetzt worden. Der forensische Bericht attestierte einen natürlichen Tod, was aber bis heute von vielen angezweifelt wird.

Es sind nicht so sehr die Korruptionsvorwürfe, die die türkische Regierung in eine derart tiefe Krise stürzen. Eine korruptionsfreie Staatsführung hat es in der Türkei nie gegeben. Nach dem Militärputsch von 1980 bezogen pensionierte Generäle Luxusvillen in Florida, die ehemalige Ministerpräsidentin von der konservativen »Partei des Rechten Weges« (DYP), Tansu Çiller, entging 1996 einer Anklage wegen Einmischung in öffentliche Ausschreibungen und des Verschwindens von vielen Millionen US-Dollar aus der geheimen Reserve für Staatskrisen dank einer Koalition mit der Wohlfahrtspartei des Islamistenführers Necmettin Erbakan. Deren Parlamentarier stimmten gemeinsam mit jenen der DYP im Parlament gegen die Aufhebung von Çillers Immunität.
Die AKP versprach in den vergangenen zehn Jahren, alles besser zu machen. Es scheint, als hole Erdoğan nun seine Vergangenheit als Kronprinz Erbakans in den neunziger Jahren ein. Die Verteufelung des Westens und die Verklärung autoritärer Formen der Durchsetzung eigener politischer Ziele war die Doktrin islamistischer Politik. Ein Teil seiner Wählerschaft glaubt ihm das auch heute noch, die Mehrheit aber sicher nicht. Das Zerwürfnis mit den Anhängern des in den USA lebenden Islamistenführers Fethullah Gülen löste außerdem eine für die Regierung gefährliche Spaltung im islamisch-konservativen Lager aus. 49,8 Prozent der Stimmen bekam die AKP noch bei den Parlamentswahlen 2011. Nach einer aktuellen Umfrage des türkischen Meinungsforschungsinstituts Sonar sollen es jetzt nur noch 42 Prozent sein. Während der Proteste um den Gezi-Park im Sommer war die Zustimmung im August sogar auf 35 Prozent gesunken.
Bei den Kommunalwahlen im März wird besonders Istanbul ein wichtiger Index für die politische Stimmung in der Türkei sein. In der mittlerweile vor allem durch Binnenmigration auf 20 Millionen Einwohner angewachsenen Stadt leben Menschen aus allen Teilen des Landes. Neben den vielen Unzufriedenen ethnischer und religiöser Minderheiten und den empörten Kemalisten werden aber auch die Oppositionellen aus dem islamisch-konservativen Lager Stimmung gegen Erdoğan machen. Nicht nur die AKP, auch die Gülen-Gemeinde verfügt über ein Netzwerk von Schulen, Verlagen und einflussreichen Medien, die in erster Linie gebildetere konservative Muslime ansprechen.
Der ideologisch wenig greifbare Gülen ist geprägt vom liberalen Sufi-Islam, bedient gleichzeitig die türkischen Nationalisten und favorisiert ein neoliberales Wirtschaftsmodell. Tatsächlich ist Gülen so wenig greifbar, dass unterschiedlichste Menschen sich mit seiner »Gemeinde« identifizieren. Seit Jahren wird der Gülen-Bewegung eine Unterwanderung des Polizeiapparates und der Justiz nachgesagt. Die Massenentlassungen bei der Polizei und auch der Konflikt zwischen der Staatsanwaltschaft und der Regierung sind in diesem Zusammenhang zu sehen.

Dass sich die Fronten innerhalb des islamisch-konservativen Lagers verhärten und allerhand schmutzige Einzelheiten über die zügellose Macht- und Geldgier der Brot und Wasser predigenden Staatselite ans Licht kommen, kann jedoch nur dann positiv genutzt werden, wenn es eine überzeugende politische Alternative gibt. Die bietet momentan nur die außerparlamentarische Opposition. Es ist noch nicht abzusehen, wie die heterogene Bewegung um die Gezi-Proteste wählen wird, die im Herbst gegründete Gezi-Partei wird erst bei dem Parlamentswahlen 2015 kandidieren. Dass immer noch über ein Drittel der Bevölkerung einer autoritären und korrupten Führung vertraut, liegt an der sich seit Jahrzehnten verschärfenden ungerechten Verteilung der Ressourcen. Die AKP hat daran zwar nichts verändert, aber in den Städten in die Infrastruktur investiert und die eigene Anhängerschaft bevorteilt. Die Gezi-Proteste richteten sich gegen die gnadenlose Abrisspolitik der islamisch-konservativen Stadtverwaltung in Istanbul. Der Gezi-Park steht noch, dafür wurden die Altbauten des Viertels Tarlabaşı zu einem Drittel abgerissen. Viele der ehemaligen Bewohner, vor allem Kurden und Roma, wurden am Stadtrand in Hochhäusern des öffentlichen Wohnungsbaus angesiedelt und sind sogar froh darüber, nun in Neubauten mit funktionierender Infrastruktur zu leben. Manche von ihnen bekommen zudem Jobs auf anderen Baustellen.
Die arme Bevölkerung interessiert das eigene ökonomische Schicksal meist mehr als politische Korrektheit. Korrupt war die städtische Baupolitik immer, in den Zeiten des Oberbürgermeisters Bedrettin Dalan von der DYP flossen in den achtziger Jahren umgerechnet Millionen von Euro zweifelhafter Herkunft für die Gewinnung von Bauland. 2011 wurde das gesamte in der Türkei befindliche Vermögen Dalans per Gerichtsbeschluss beschlagnahmt. Es bleibt abzuwarten, ob jetzt auch die Machenschaften der AKP ans Licht kommen werden. Erdoğans Schwiegersohn, Berat Albayrak, sitzt im Aufsichtsrat der Çalık Holding, die Tarlabaşı und viele andere Viertel in und um Istanbul umbaut. Bereits 2007 bekam Çalık Holding staatliche Aufträge im Bauwesen in Höhe von einer Milliarde US-Dollar. Diese offensichtliche Vorteilsgewährung ist nicht einmal Teil des aktuellen Korruptionsskandals.
Die EU kritisierte in der vergangenen Woche insbesondere die von der AKP geplanten Gesetzesreformen. Sie dienen teilweise dazu, die gerade als Anpassung an EU-Normen durchgeführten Reformen wieder zu revidieren. So soll die Justiz künftig nicht mehr heimlich gegen Regierungsmitglieder ermitteln dürfen. Die AKP ermöglicht gleichzeitig eine Kontrolle des Internet und eine Beobachtung von Usern ohne Gerichtsbeschluss. Per Gerichtsbeschluss wurde die Internet-Plattform Vimeo am 8. Januar zeitweilig gesperrt. Der neue EU-Minister Mevlüt Çavuşoğlu erklärte am Freitag voriger Woche unverblümt, die EU solle nicht so unüberlegt Kritik an der mutmaßlichen Korruption und den Justizreformplänen üben, die Türkei sei ein sich an Rechtsstaatlichkeit orientierendes Land. Zum derzeitigen Zeitpunkt ist das ein Kommentar, der zeigt, wie sehr die Reformpolitik der AKP auf Posen beruht. Anders als der ehemalige EU-Minister Eğemen Bağış, der aufgrund von Vorwürfen in das Handelsembargo unterlaufende Ölgeschäfte mit dem Iran verwickelt zu sein gerade abgesetzt wurde, ist Çavuşoğlu ein Politiker mit EU-Erfahrung und einem Doktortitel von der London School of Economics. Das bedeutet allerdings nur, dass diese Riege von AKP-Politikern den Jargon und die Spielregeln der europäischen EU-Lobby verstanden hat, ihre autokratischen politischen Ziele und Methoden aber dennoch nach Gutdünken mit pseudodemokratischen Phrasen bemäntelt. Die AKP wird mit allen Mitteln versuchen, die eigene Macht zu erhalten und die Opposition zu entmachten. Ob die türkischen Wählerinnen und Wähler bei den Kommunalwahlen im März die Dominanz der AKP in der Mehrheit der Kommunen brechen können, wird ein Indikator für die Demokratiemündigkeit der Türkei sein.