Das Verfassungsreferendum in Ägypten

Neue Verfassung alter Schule

Mit einem Verfassungsreferendum versucht die ägyptische Militärregierung sich demokratisch zu legitimieren. Dass tatsächlich mehr Rechtsstaatlichkeit und eine Überwindung der gesellschaftlichen Konflikte folgen, ist fraglich.

Am 14. und 15. Januar wurde den 50 Millionen wahlberechtigten Ägypterinnen und Ägyptern zum zweiten Mal binnen 13 Monaten ein Verfassungsentwurf zum Referendum vorgelegt. Menschenrechtsorganisationen sehen im gegenwärtigen Entwurf allenfalls punktuelle Verbesserungen zur von der Regierung Mohammed Mursis forcierten Verfassung vom Dezember 2012. Im aktuellen Entwurf werden die Rechte von Frauen gestärkt, in anderen Bereichen bleibt hingegen hinreichend Raum für staatliche Willkür. Eine der Kernforderungen der Revolte von 2011, die Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten, ist weiterhin unerfüllt. Auch die Privilegien der Armee haben Bestand. So muss das Militär sein Budget nicht offenlegen, unantastbar bleiben auch die zahlreichen Unternehmen des Militärs, die nach verschiedenen Schätzungen zwischen 25 und 40 Prozent der ägyptischen Gesamtwirtschaft ausmacht.
In der Lesart der herrschenden Militärregierung ist das Verfassungsreferendum ein elementarer Schritt im Übergangsprozess zu einer demokratischen Ordnung – in den Augen ihrer Kritiker nur der Versuch, die Willkürherrschaft des Militärs hinter einer demokratischen Fassade zu verstecken. Vor dem Referendum hat die Übergangsregierung unter Interimspräsident Adli Mansour und General Abd al-Fattah al-Sisi die Repression gegen ihre politischen Gegner verschärft. Einen Anschlag auf eine Polizeistation in Mansoura, bei dem 15 Menschen ums Leben kamen, nahm die Regierung zum Anlass, die Muslimbruderschaft zur terroristischen Organisation zu erklären – auch wenn sich die islamistische Splittergruppe Ansar Bait al-Maqdis zu der Tat bekannte. Mit dem Verbot der Bruderschaft machen sich alle, die für die Organisation auf die Straße gehen, strafbar und gehen das Risiko langer Haftstrafen ein. Die rituellen Freitagsdemonstrationen der mehrheitlich islamistischen »Anti-Coup-Allianz«, die die Wiedereinsetzung Mursis ins Präsidentenamt fordert, endeten Anfang Januar mit mindestens einem Dutzend Toten und zahlreichen Festnahmen.

In diesem Klima der Repression verlagert sich ein Teil der politischen Aktivität in die Universitäten. Aufsehen erregte in den vergangenen Tagen die Studentenbewegung SAC (Students against the coup), mit den Muslimbrüdern affiliierte Studierende, die die Militärregierung ablehnen und die Wiedereinsetzung Mursis fordern. Ihre bisher größte Kampagne war der Versuch, die Jahresexamen Ende Dezember zu boykottieren. Dabei blockierten sie an manchen Universitäten den Zugang zu Gebäuden und hielten damit auch Studenten vom akademischen Betrieb ab, die nicht mit Mursi und den Muslimbrüdern sympathisieren. Die Kampagne eskalierte, als die Leitung der Universität al-Azhar in Kairo, die als führende Institution des sunnitischen Islam gilt, die Sicherheitskräfte des Innenministeriums auf den Campus rief. Vier Studenten kamen ums Leben, landesweit wurden Hunderte verhaftet.
Linke und liberale Studentengruppen, die weder mit den Muslimbrüdern noch mit dem Militär sympathisieren, machten zwar die SAC für die Eskalation verantwortlich, verurteilten jedoch auch die Festnahmen von Studenten und die Präsenz der Sicherheitskräfte auf dem Campus. Für eine Solidarisierung mit den Anhängern der Muslimbrüder ist die Distanz zu den Islamisten jedoch zu groß. In den Augen vieler Mitglieder von Studentengruppen wie al-Midan oder der »Revolutionären Front« sind die Muslimbrüder eine faschistoide Organisation, die die Ziele der Revolution dem eigenen Machtanspruch geopfert hat.
Doch auch die liberale und linke Opposition gerät zunehmend ins Visier der Autoritäten. So wurden unter anderem führende Protagonisten der »Bewegung 6. April«, die während des Sturzes Hosni Mubaraks eine treibende Kraft gewesen waren, zu dreijährigen Haftstrafen verurteilt. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen »die Organisation eines unangemeldeten Protestes vor« und nahm damit Bezug auf das erst im Oktober erlassene »Protestgesetz«. Demnach muss eine Demonstration drei Tage im Voraus angemeldet und eine Genehmigung von den Behörden beantragt werden – die selten ausgestellt wird.
Während im Revisionsprozess gegen die mutmaßlichen Mörder des Bloggers Khaled Said die siebenjährigen Haftstrafen für die Verurteilten neu verhandelt werden, wurden Demonstranten vor dem Gericht in Alexandria wegen Verstoßes gegen das »Protestgesetz« zu zweijährigen Haftstrafen verurteilt. Said wurde im Sommer 2010 zum Symbol für die Repression, weil er von Sicherheitsbeamten zu Tode geprügelt wurde, nachdem er die Annahme von Bestechungsgeldern durch Polizisten in Alexandria gefilmt hatte. Nicht wenige sehen in der Anteilnahme für seinen Fall eine der initialen Triebkräfte für den Aufstand gegen Mubarak.

Im aktuellen Revisionsprozess widerspricht der Verteidiger der mutmaßlichen Mörder Augenzeugenberichten und den weithin verbreiteten Bildern der entstellten Leiche Saids: Said sei nicht durch Gewalteinwirkung ums Leben gekommen, sondern durch Drogenkonsum. Außerdem sei er Opfer eines »zionistischen Komplotts« gewesen. Die Tatsache, dass drei Jahre nach dem Sturz Mubaraks derartige Verschwörungstheorien selbst in dem stark von der Öffentlichkeit begleiteten Prozess gegen die Mörder Saids bedient werden, ist ein Indiz dafür, wie rege Anhänger des alten Regimes wieder an der öffentlichen Debatte teilnehmen.
Der vorläufige absurde Höhepunkt dessen war die über 45 Minuten lange, vom Fernsehsender Al Tahrir ausgestrahlte Debatte zwischen einem Verschwörungstheoretiker mit dem Künstlernamen Ahmed Spider, einem bekennenden Anhänger des alten Regimes, und einer Werbepuppe von Vodafone. Darin warf Ahmed Spider der Puppe – mehr als Vodafone selbst – vor, kodierte Botschaften zu senden, die zu Terroranschlägen aufforderten. Sein persönlicher Feldzug gegen die Werbepuppe von Vodafone wurde in der ägyptischen Blogosphäre spöttisch kommentiert. Doch nach Berichten der ägyptischen Tageszeitung Daily News Egypt hielt dies die Staatsanwaltschaft nicht davon ab, Ermittlungen gegen Vodafone aufzunehmen. In der aktuellen Stimmungslage scheint der Übergangsregierung des Militärs jeder Schritt recht, um sich als unentbehrliche Ordnungsmacht im »Kampf gegen den Terrorismus« zu präsentieren.
Vielen Ägypterinnen und Ägyptern ist das Verhalten der Staatsanwaltschaft im Falle der Vodafone-Puppe vor allem peinlich. Und nicht wenige Demonstrierende, die am Sturz Mubaraks beteiligt waren, sehen sich in diesen Tagen in Ägypten politisch nicht vertreten. Eine Stimmung des Überdrusses ist vor allen unter jenen jungen Leuten weit verbreitet, die sich nach dem Sturz Mubaraks Hoffnungen auf eine graduelle Reform des Staatsapparates und eine allmähliche Verbesserung ihrer Zukunftschancen machten. Walaa Kamal, die in Kairo für eine internationale Firma arbeitet, kommentiert die Ereignisse so: »Der Staat ist verrückt geworden. Die Staatsanwaltschaft verfolgt Theorien von Spinnern. Und am vergangenen Freitag starben wieder einmal 19 Menschen auf der Straße. Wofür? Für nichts. Für die Politik.«