Die deutsche Kommunikationsüberwachung

Spionieren ohne Quanten

Die Aufregung über den »NSA-Quantencomputer« ist groß. Dagegen bleibt die Kritik an staatlicher und privatwirtschaftlicher Schnüffelei in Deutschland aus.

Der Begriff »Vielfalt« gehört seit Jahren zum Standardrepertoire des deutschen Politjargons. Wer behauptet, dies sei nur eine ideologische Floskel ohne Bedeutung für den Alltag, irrt oder hat zumindest wichtige Veränderungen in der deutschen Sprache nicht gebührend registriert. So hat die sukzessive Schleifung der Bastionen des traditionellen Singularetantums zu einem gehörigen Zuwachs an Vielfalt – formal Gebildete sagen gern »Diversität« – geführt: In einer Welt der »Politiken« und der »Musiken« zu leben, erstaunt niemanden mehr. Auch Linke verwenden für unterschiedliche Betätigungsformen das Wort »Praxen«, als garantierten sie mit ihren Infoläden die ärztliche Versorgung.

Neuerdings gibt es auch »die Verkehre«, oder um es zu präzisieren, »Telekommunikationsverkehre«. Erstaunlich an der neuen Pluralschöpfung ist ihre Herkunft aus einem Milieu, das von heimischen Medien oft liebevoll als das der »Schlapphüte« bezeichnet wird. Der Bundesnachrichtendienst (BND) ist zwar keine Bundesprüfstelle für sprachgefährdende Umtriebe, aber auch als Auslandsgeheimdienst muss er ja seine Berichte in der derzeit gültigen Version der Landessprache vorlegen. Einen solchen Bericht überreichte der BND in den ersten Januartagen dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) des Bundestags und damit der Öffentlichkeit. Im Jahr 2012 habe er weltweit insgesamt »851 691 sogenannte Telekommunikationsverkehre ausgewertet«, meldete der Dienst mit berufstypischem Selbstbewusstsein. Nicht der Umfang der Spitzelaktivitäten sorgte diesmal für Aufsehen, sondern ihre vermeintlich relativ niedrige Anzahl. Immerhin waren ein Jahr zuvor noch 2,9 Millionen »Verkehre« einer Auswertung anheimgefallen.
Der Verzicht auf mehr als zwei Drittel der Überwachungen sollte den BND wohl als eine nach optimal sachlichen Kriterien arbeitende Institution dastehen lassen, ganz anders als die »Überwachungsmonster« jenseits des Atlantiks. Deshalb hatte man offenbar auch darauf verzichtet, die im Berichtsjahr ebenfalls geleistete Zuarbeit für die NSA in Form von monatlich etwa 500 Millionen »abgeschöpften« und weitergeleiteten Datensätzen zu erwähnen. Wozu der BND, einmal zu voller Leistungsstärke aufgelaufen, darüber hinaus fähig ist, zeigen die keineswegs verheimlichten Zahlen aus dem Jahr 2010. Damals fing der BND in freiheitlich-demokratischer Mission mehr als 37 Millionen E-Mails ab. Diese immense Zahl wurde damit begründet, dass es 2010 eine »weltweite Spamwelle« gegeben habe, wegen der das »automatische Selektionsverfahren« habe optimiert werden müssen.
Bekanntlich glaubt man in der Welt der Geheimdienste und ihrer faszinierten Beobachter nicht an den Zufall. Und so war es wohl auch nicht zufällig, dass anlässlich der Veröffentlichung des BND-Berichts in deutschen Massenmedien nicht auch die inländische Überwachung durch Geheimdienste und Polizei verhandelt wurde. Dann hätte nämlich die alltägliche Überwachung thematisiert werden müssen. So gab es allein 2012 insgesamt 16 463 richterliche Anordnungen zur polizeilichen Kommunikationsüberwachung. Dabei handelte es sich allein um Anordnungen in laufenden Strafverfahren. Die in keiner Statistik genannte Anzahl der »präventiv« durchgeführten Telefon- und Internetüberwachungen scheint für die überwiegende Mehrzahl der Medien ohnehin völlig uninteressant zu sein.

Stattdessen ist seit Jahresbeginn aufgeregt vom »NSA-Quantencomputer« die Rede, einer Megamaschine, die in der Lage sei, jede Verschlüsselung zu knacken und den bedauernswerten Deutschen jegliches Geheimnis, das sie sonst bedenkenlos der heimischen Obrigkeit anvertrauen, widerrechtlich zu entreißen. Das US-amerikanische Vorhaben, einen Quantencomputer zu nutzen, ist freilich die logische Konsequenz der Kontrollambitionen aller Regierungen, die in der Lage sind, ihre Interessen auch außerhalb ihres Territoriums durchzusetzen. Doch allein die USA verfügen derzeit über die materiellen Möglichkeiten zur Realisierung. Das Bestehen dieses Plans ist aber, anders als die Skandal­schreierei nahelegt, gar keine Neuigkeit. Mit der Veröffentlichung der von Edward Snowden in Besitz gebrachten Unterlagen im Sommer war die Information verfügbar und hätte bereits dann oder zu einem anderen früheren Zeitpunkt thematisiert werden können.
Die Empörung dürfte also weniger der Tatsache geschuldet sein, dass die USA in Zukunft über einen Quantencomputer verfügen könnten, sondern eher dem Umstand, dass Deutschland so bald keinen besitzen dürfte. Ohnehin muss die Kommunikationsüberwachung des deutschen Staats auch zukünftig auf Altbewährtes zurückgreifen: auf das staatliche Spitzelwesen. Ein moderner Staat wie der deutsche, der »Vielfalt« zu seinen Tugenden zählt, legt dabei im Zeitalter der Sparpolitik Wert auf persönliche Initiative, gerade in der Kommunikationsüberwachung. Da gibt es ehrenamtliche Netzpolizisten, die einsam virtuelle Weiten durchstreifen und unentgeltlich nach Kinderpornographischem oder Verfassungsfeindlichem spähen. Da gibt es aber zudem professionelle Freelancer mit hohem Einkommen, denn Leistung soll sich schließlich lohnen. Ein solcher ist der sogenannte Abmahnanwalt, ein nokturnes Wesen, denn meistens ist er während der Dunkelheit unterwegs, weil die Objekte seiner Netzkontrolle, die Täter, vor allem nach Feierabend an fremdem Eigentum vermeintlich sich vergehen. Der Abmahnanwalt ist Produkt eines leidenschaftlichen Zeugungsakts von freiheitlich-demokratischer Legislative und Internettechnologie, stimuliert vom humanitären Ideal der Rettung bedrohten Privateigentums, des Schutzes des Urheberrechts.
Wo die Sicherung kapitalistischen Eigentums an ihre technologischen Grenzen und damit nahezu an die Grenzen der Eigentumsdefinition stößt, wenn Nutzer im Internet Bilder, Musikstücke oder Filme kostenlos konsumieren oder herunterladen, kämpft der Abmahnanwalt gegen sinkende Profitraten. Gleich dem aus TV-Serien und Spielfilmen bekannten Kriminalermittler stehen ihm Helfer zur Seite, die ihrerseits die Diversität des deutschen Sicherheitsgefüges verkörpern. Da ist zunächst der Techniker, der oft mit seinesgleichen eine Anti-Privacy-Agentur betreibt und im Netz die IP-Adressen selbst der gewieftesten Urheberrechtsverbrecher zu ermitteln vermag. Dann ist da der ehrbare Rechtshüter, in Filmen und TV-Serien meist ein älterer Polizist oder eine jüngere Staatsanwältin, die, weder durch Sachzwang noch Korruption irritierbar, dem privaten Ermittler manche, auch juristische Brücke bauen. Diese Rolle wird in der Welt des Abmahnanwalts von Amtsrichtern ausgefüllt, die Internet-Provider dazu verdonnern, die postalischen Äquivalente der verdächtigen IP-Adressen herauszurücken. Ist dies geschehen, geht die Abmahnung als gültiger Rechtstitel an den Delinquenten, der in der Regel für seine Tat 100 bis 1 000 Euro zu entrichten hat. In der Praxis hat sich das deutsche Abmahngeschäft als Goldgrube erwiesen. Dem WDR zufolge beherrschen etwa 20 bis 30 Anwaltskanzleien dieses Marktsegment. Der »Bundesverband der Verbraucherzentralen« registrierte für 2012 ungefähr 4,3 Millionen Abgemahnte. Das wären bei den genannten Tarifen bis zu vier Milliarden Euro Umsatz im Jahr.

Jüngster Ausdruck unternehmerischer Vielfalt in der Branche ist die Metamorphose des Abmahnanwalts zu einem freiberuflichen Geheimagenten. Wie das geht, hat kürzlich ein Anwalt aus Regensburg gezeigt. Professionell sondierte er die Verdächtigen, Pornokonsumenten, also die Mehrzahl der Internetnutzer. Gezielt umkreiste er eine Tätergruppe, etwa 20 000 bis 30 000 Telekomkunden, lockte diese mit einem eigens konstruierten Link in die Falle und erfuhr so ihre IP-Adressen. Das Opfer, also er selbst, denn er hatte die Rechte an den Lockpornos gekauft, und sein Anwalt, also auch er selbst, erhielten dann vom ehrbaren Rechtshüter, der auch in der Internetversion dabei ist, diesmal als Richter des Kölner Landgerichts, die Verfügung, dass die Telekom die Adressen herausrücken müsse. Und dann hagelte es Abmahnungen. Gorgeous hätten die guys von der NSA wohl dazu gesagt.
Dummerweise zeigten sich einige Kunden der Telekom als Querulanten und schlugen öffentlich Krach. Auch Justiz und Medien finden das Vorgehen des Regensburgers mittlerweile degoutant und drohen dem innovativen Geschäftsmann mit harschen Konsequenzen. Vielleicht bleibt es beim Drohen, Vielfalt braucht schließlich Spielraum. Anders als bei den Amis und ihrem blöden Megacomputer.