Darren Cunningham alias Actress

Der Autor der Maschine

Ein großer Unbekannter und seine eigene Handschrift: Auf »Ghettoville« ruft Actress das Ende der Musik aus.

In der elektronischen Musik verschwindet der Musiker hinter dem Werk – gerade wegen der vermeintlichen Anonymität elektronischer Musik wird dies immer wieder behauptet. Der wahre Star sei mittlerweile der Club, man schaue sich nur das Gewese um das Berliner Berghain an; und wenn nicht der Club, dann habe zumindest das Label den Künstler aus dem Rampenlicht verdrängt: Pan-Records ist in aller Munde. Oder war es doch Hyperdub?
Natürlich entspricht dieses Geraune nicht der Realität. Mögen einige Bereiche elektronischer Musik weitgehend ohne das Interesse am Künstler auskommen, stehen Musiker mit ihrem Image doch noch immer im Zentrum der Vermarktungsstrategien. Auch solche, die versuchen, sich dem Prinzip zu entziehen – eben weil sie es tun. Zu diesen mysteriösen Wesen gehört auch Darren Cunningham, besser bekannt als Actress.
Wenn Cunningham überhaupt Interviews gibt, verbleiben seine Antworten meist im Ungefähren. Er hat kein Facebook-Profil, auf Sound­cloud sucht man ihn vergeblich und seinen Account bei Twitter kann nur einsehen, wer von ihm persönlich freigeschaltet wurde. Dennoch oder gerade deshalb erzeugte die Ankündigung seines jüngsten Albums »Ghettoville« Anfang November Schockwellen, wie sie in der Welt elektronischer Musik eher selten sind.
Es gab viel Aufregung um eine Abfolge von Buchstaben und Ziffern. »R.I.P. Music 2014«, hieß es kryptisch am Ende der ohnehin schon nicht sehr konkret gehaltenen Mitteilung. Kündigte da jemand seinen Rückzug aus der Musikwelt an? Bei genauerem Hinsehen wäre auch damals schon klar gewesen, was Cunningham selbst später richtigstellte: Nicht auf das Ende seines musikalischen Schaffens sollte sich die Mitteilung beziehen, sondern auf das Ende der Musik selbst. Cunningham trägt dick auf und zielt mit der Formulierung vermutlich auf die Herauslösung seiner Kompositionen aus allen musikalischen Zusammenhängen. »Ghettoville« zumindest geht einen Schritt in diese Richtung.
Die mediale Rezeption von Actress gibt Aufschluss darüber, inwiefern sich der Kosmos elektronischer Musik in den vergangenen Jahren verändert hat. Anfangs wurde Actress weitgehend ignoriert. Seinem ersten Album, »Hazyville«, wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt, das zweite, »Splaszh«, ließ die Musik­redakteure 2010 um Worte ringen. Immer wieder fiel dabei der Begriff Dubstep, manchmal stand noch ein »Post« davor. Zomby, ein weiterer mythenumwobener Engländer, der stets maskiert auftritt, wurde als musikalische Referenz genannt, der US-amerikanische Beat-Poet Flying Lotus ebenso. Wirklich zutreffend aber war keiner dieser Vergleiche.
Man scheint sich inzwischen damit abgefunden zu haben, dass der Sound von Actress sich abhebt von allem, sei es auch musikalisch auf den ersten Blick verwandt. Wo Zomby sich klar im britischen Bass Continuum bewegt und Flying Lotus merklich vom HipHop beeinflusst ist, tendiert Actress eher in Richtung der mathematischen Soundtüfteleien von Autechre – einem Duo, das häufiger schon mit dem dräuenden »Ende der Musik« in Verbindung gebracht wurde – und den verschiedenen Inkarnationen von Richard D. James. Cunninghams Musik schlicht auf Dubstep zu beziehen, das würde sich 2014, nach Skrillex und Rusko, wohl niemand mehr trauen.
Cunningham wäre Fußballprofi geworden, wäre seiner Karriere nicht eine Verletzung in die Quere gekommen. In einem Interview mit Debug spricht er über die akustische Wahrnehmung des Fußballplatzes: der Ball, das Wetter, die Zuschauer am Rand – all das sei Sound, sagt er. Überhaupt denke er immer in Sound. Eine Aussage, die andeutet, wie sein musikalisches Konzept aussieht. Mag sie auch noch so vage und kokett sein.
»Vier Alben, und die Töne und Kompositionen beinhalten keine entschlüsselbare Sprache mehr«, hieß es in der Ankündigung von »Ghettoville«. Lässt sich bei vielen Veröffentlichungen mit etwas Hörerfahrung nachvollziehen, wie die Musik wohl entstanden sein mag, ist der Grad klanglicher Abstraktion bei Actress sehr hoch. Cunningham selbst soll seine Musik mal als »R ’n’ B concrète« bezeichnet haben. Wie die Musique concrète von Pierre Schaeffer basiert Cunninghams Entwurf tatsächlich auf Loops und Samples, auf dekontextualisierten und meist grob verfremdeten Ausschnitten anderer Tondokumente. Wo House, Techno und HipHop Samples und Loops zielgerichtet einsetzen, ist Cunninghams Zugang weniger funktionalistisch – er ist auf der Suche und will den Klang erforschen.
Der Vergleich zu Autechre und Richard D. James mag auch an dieser Stelle auf der Hand liegen. Dabei entspricht Autechres Zugang zu Loops und Samples eher dem eines Architekten, der mit Hilfe von Zirkel und Lineal den perfekten Zusammenklang plant. James dagegen ist ein vom Sound Besessener, seine Musik zu Klang gewordene Hyperaktivität. Über ihn wird erzählt, er habe während eines Interviews plötzlich den Raum verlassen, weil er das Knarzen einer Tür auf dem Flur hörte, das er unbedingt aufnehmen musste. Dann wieder sieht man James auf der Bühne in einem großen Sofa versinken – er raucht und lässt die Nadel des Plattenspielers über ein Stück Schmirgelpapier kratzen.
Eine solche liebenswürdige Verschrobenheit scheint Cunningham fremd. Er wühlt sich durch Berge von Geräuschmaterial, fügt Bruchstücke zusammen, nur um das Konstrukt wenig später wieder zu zerlegen. Die ersten Entwürfe für »Ghettoville« erschienen ihm nach eigener Aussage zu technoid. Er hat sie so lange zerhäckselt, bis in den meisten Fällen nur noch wabernde Nebelschwaden aus schleppenden Drumloops, Hallräumen und minimalen Melodiefetzen übrig blieben.
Cunningham sieht »Ghettoville« als Nachfolger seines ersten Albums »Hazyville«, was sich nicht nur im Titel, sondern auch mit der Cover-Gestaltung widerspiegelt. Außerdem ist die Platte deutlich getragener als die beiden vorangegangenen. Wo »Splaszh« und »R.I.P.« auf ihre eigene Art hypnotisch waren und sich so anhörten, als sei man auf den falschen Drogen in den richtigen Club geraten, ist »Ghettoville« eher der Soundtrack eines einsamen nächtlichen Spaziergangs durch postindustrielle Metropolen. »Ghettoville« mag anders klingen, in seiner Wirkung aber ähnelt das Album den Veröffentlichungen von Burial doch.
Gleichzeitig aber lässt sich in jedem Sample die für Cunningham typische herumeiernde Verspultheit und Liebe zu den kleinsten Sounddetails erkennen. Eine persönliche Handschrift, mit der er einen Gegenentwurf zum Anonymitätsprinzip des Techno liefert: Autoren-Techno sozusagen.

Actress: Ghettoville (Werkdiscs/Rough Trade)