Rassistische Diskriminierung in Großbritannien

In der rechtlosen Zone

Die Diskriminierung Angehöriger ethnischer Minderheiten geht in Großbritannien auch nach den Londoner Riots von 2011 weiter.

Man sieht den Polizisten an, dass sie sich fehl am Platz vorkommen. »Wer sind die Mörder?« ruft Stafford Scott Hunderten Protestierenden zu. »Die Polizisten sind die Mörder!« antworten diese. Es ist der 11. Januar, zwei Tage zuvor hatte eine gerichtliche Untersuchung ergeben, dass die Erschießung Mark Duggans im August 2011 rechtmäßig gewesen war. Die Geschworenen waren zum Schluss gekommen, dass Duggan zwar unbewaffnet gewesen sei, als ihn die tödlichen Schüsse trafen, dass der Schütze jedoch von einer Bedrohung ausgegangen sei und deshalb korrekt gehandelt habe. Die Angehörigen und Freunde Duggans reagierten mit Wut und Fassungslosigkeit – wie kann von einem unbewaffneten Mann eine Bedrohung ausgehen? Bei der Untersuchung kamen viele Ungereimtheiten ans Licht. So sagte der Schütze, er habe die Pistole in Duggans Hand genau gesehen. Wie ist sie dann mehrere Meter weiter weg hinter einem Zaun gelandet? Kein anderer Polizist sah eine Schusswaffe durch die Luft fliegen. Zudem sagte ein Augenzeuge, Duggan sei ohne Waffe aus dem Auto gestiegen und habe die Hände in die Luft gehoben. Scott, ein Freund der Familie und Community Worker, nennt das Urteil »pervers«. Die Familie Duggans hat zu einer Mahnwache vor dem Polizeiposten in Tottenham im Norden Londons aufgerufen. Hier begannen im Sommer 2011 die Londoner Riots, als die Angehörigen des Opfers von der Polizei eine Erklärung dafür forderten, weshalb Duggan erschossen worden war. Die Wut der Protestierenden ist auch heute zu spüren: Wieder habe die Polizei den Tod eines schwarzen Mannes verschuldet, lautet der Vorwurf, und wieder entgingen die Verantwortlichen einer Strafe.

Die letzte – und einzige – Verurteilung von britischen Beamten wegen eines Todesfalls liegt Jahrzehnte zurück: 1971 wurden zwei Polizisten zu mehreren Monaten Haft verurteilt, nachdem sie einen schwarzen Mann monatelang schikaniert und schließlich so heftig verprügelt hatten, dass er starb. Seit 1990 sind nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Inquest knapp 1 500 Menschen in Polizeigewahrsam oder bei Polizeiaktionen ums Leben gekommen, aber kein Polizist ist jemals im Gefängnis gelandet. Unter den Todesopfern finden sich unverhältnismäßig viele Angehörige ethnischer Minderheiten.
Schlagzeilen machen manche Todesfälle, doch die Benachteiligung schwarzer Bürgerinnen und Bürger ist alltäglich und zieht sich durch das gesamte Rechtssystem. Ein neuer Bericht der Equality and Human Rights Commission hält fest, dass Personenkontrollen inklusive Durchsuchungen, das sogenannte stop and search, in den vergangenen drei Jahren zwar weniger wurden, dass die Diskriminierung ethnischer Minderheiten jedoch weitergehe. Noch immer ist die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei durchsucht zu werden, für Menschen asiatischer Herkunft doppelt so hoch wie für Weiße und für Menschen afrokaribischer Herkunft sogar sechsmal so hoch. Zudem ist die Wirksamkeit von stop and search höchst fraglich: Jedes Jahr werden 1,2 Millionen Menschen durchsucht, aber nur neun Prozent der Durchsuchungen führen zu einer Festnahme. Die Diskriminierung lässt sich nach Angaben von Release, einer Organisation für die Reform der Drogengesetzgebung, auch bei Drogendelikten feststellen: Wird man in London mit Kokain erwischt, kommt man als Weißer meist mit einer Verwarnung davon, während man als Schwarzer damit rechnen muss, strafrechtlich verfolgt zu werden. Und wenn es schließlich zu einer Verurteilung kommt, sind ethnische Minderheiten erneut benach­teiligt: Dem Justizministerium zufolge werden schwarze Straftäter mit größerer Wahrscheinlichkeit ins Gefängnis gesteckt als weiße, und das Strafmaß fällt höher aus.

Lee Jasper glaubt, dass der Rassismus in Großbritannien schlimmer wird. Der 55jährige Sohn eines Jamaikaners und einer irisch-sierra-leonischen Mutter beriet den früheren Londoner Bürgermeister Ken Livingstone in Sachen Gleichstellung und ist Vorsitzender der Kampagne Black Activists Rising Against the Cuts, die sich gegen die Sparpolitik der Regierung einsetzt. »Früher war der institutionelle Rassismus etwas unan­genehm, aber man hatte sich daran gewöhnt«, meint Jasper. »Heute ist er unerträglich. Das rassistische Profiling kommt einer Schikane der schwarzen Community gleich.« Fast zweieinhalb Jahre nach den Riots, die einer Studie des Guardian zufolge zu einem erheblichen Teil durch jene rassistische Diskriminierung ausgelöst wurden, habe sich daran nichts geändert – im Gegenteil. Die Ursache sieht Jasper nicht zuletzt in der Aus­teritätspolitik der Regierung: »Die Abstriche im öffentlichen Sektor umfassen auch Stellenstreichungen bei der Polizei, die entsprechend weniger Kapazitäten zur Verbrechensbekämpfung hat.« Wegen der Einsparungen muss die Polizei heute mit zwölf Prozent weniger Beamten auf der Straße und knapp einem Viertel weniger Unterstützungspersonal auskommen als noch vor vier Jahren. Dies führt zu Frustration bei den Beamten, doch die hauptsächlichen Opfer dieser Entwicklung sind Jasper zufolge Angehörige ethnischer Minderheiten: »Die Polizei muss ihre Zielvorgaben erfüllen, und die Polizisten tun dies, indem sie schwarze Jugendliche ins Visier nehmen, weil sie wissen, dass das Justizsystem unabhängig von der Beweislage prädisponiert ist, schwarze Tatverdächtige zu verurteilen.«
Anstatt sich nach den Krawallen mit dem Unmut in den betroffenen Communities abzugeben, hätten die Behörden die Polizeiarbeit militarisiert, schreibt Liz Fekete vom Institute for Race Relations. Das bedeute zum Beispiel, dass die Menschen in Tottenham als Bewohner einer »recht­losen Zone« gebrandmarkt würden. Im Zuge der »Operation Withern«, der Polizeioperation anlässlich der Riots von 2011, sind bislang 250 Bewohnerinnen und Bewohner Tottenhams fest­genommen worden. Der Londoner Polizei zufolge werden rund 86 Prozent der Angeklagten verurteilt, im Zusammenhang mit den Riots sind mehr als 1 000 Freiheitsstrafen verhängt worden. Zudem sei es wegen der nationalen Sicherheitsprogramme schwieriger geworden, Informationen über Todesfälle in Polizeigewahrsam zu erhalten, meint Fekete. Im Fall Duggans etwa lehnten die 31 Polizeibeamten, die am Tatort anwesend waren, direkte Interviews mit der Aufsichtsbehörde (Independent Police Complaints Commission) ab und beantworteten stattdessen Fragen schriftlich. Die Vorsitzende der IPCC kritisierte dieses Verhalten und beschrieb den Befragungsprozess als »zutiefst unbefriedigend«.

Die Mahnwache am 11. Januar endet friedlich – die Angehörigen Mark Duggans lassen weiße Tauben in den Himmel fliegen. Die Polizei hält sich im Hintergrund und ist in den folgenden Tagen auf Versöhnung aus: Die Aufsichtsbehörde kündigt an, das Vorgehen der Polizei bei dem tödlichen Einsatz zu überprüfen, und die Innenministerin plant, die Anwendung von stop and search zu beschränken, um das Verhältnis zu ethnischen Minderheiten nicht weiter zu strapazieren.
Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Politik der harten Hand ein Ende findet. Vorige Woche veröffentlichte die Association of Chief Police Officers ein Papier, in dem sie das Innenministerium um Erlaubnis bat, bis zum Sommer Wasserwerfer einzusetzen. Zwar gebe es keine Hinweise, dass schwere Krawalle ausbrechen könnten, aber es sei »anzunehmen, dass die laufenden und zukünftigen Sparmaßnahmen zu anhaltenden Protesten führen werden«. Der Londoner Bürgermeister Boris Johnson unterstützt die Pläne – er meint, dass in manchen Situationen Wasserwerfer von Nutzen sein könnten. Es wäre das erste Mal, dass auf dem britischen Festland Wasserwerfer zum Einsatz kommen – bislang war dies auf Gebiete in Nordirland beschränkt.