»Angezogen  – Theorien der Mode« von Barbara Vinken

Die Lust am Stoff

In »Angezogen« tritt Barbara Vinken für eine Mode ein, die spielerisch Sinnlichkeit inszeniert ­und traditionelle Diskurse auf den Kopf stellt.

Nichts ist weiter von der Welt des Geistes entfernt als die Mode – zumindest wenn man vielen Philosophen der Neuzeit glaubt. Stellvertretend für sie steht Friedrich Nietzsche, der sich in »Menschliches, Allzumenschliches« leidenschaftlich über all jene ereifert, die kraft ihrer Kleidung aus der Masse hervorstechen. Wer mit extravaganten Schnitten und Stoffen auffällt, kann Nietzsche zufolge bestenfalls ein Stutzer oder ein Nichtstuer sein – oder, schlimmer noch, eine Frau. Während sich erfolgreiche Männer konsequent in schlichten Anzügen blicken ließen, protze das weibliche Geschlecht mit Üppigem und Kostbarem. Frauen benutzten Mode als Waffe, um ihre Geschlechtsgenossinnen auszustechen. Männer hingegen konzentrierten sich auf das Wesentliche: Leistung, Arbeit, Effizienz.
Berühmt dafür, ihre Vorlesungen mit netzbestrumpften Beinen zu präsentieren, trägt die Münchner Professorin Barbara Vinken in ihrem neuen Buch »Angezogen« genüsslich die vielfältigen Argumente zusammen, die Männer seit dem späten 18. Jahrhundert benutzt haben, um die unüberschaubaren Metamorphosen weiblicher Mode in Grund und Boden zu verdammen. Da ist zum Beispiel Rousseau, Vorläufer der modernen Pädagogik, der sich über die modebesessenen Frauen in Paris erregt. Für den aus dem calvinistischen Genf stammenden Philosophen sind die geschminkten Französinnen bestenfalls eines Harems würdig. Die zurechtgemachten Pariserinnen wirken in seinen Augen wie eine Verkörperung des Ancien Régime – wie ein Schlag ins Gesicht aufgeklärter Bürger. Rousseaus Begeisterung gilt den Frauen seiner Schweizer Heimat, deren Kleidung schlicht und natürlich sei.
Vinken lässt keinen Zweifel daran, dass Rousseaus Lob der Natürlichkeit nichts anderes als raffinierte Rhetorik ist: ein von Männern geschmiedetes Machtinstrument, das Frauen die Unterwerfung unter die neue Geschlechterordnung schmackhaft machen soll, die sie an Heim und Herd verbannt.
Je mehr die Autorin in den Diskursen der Vergangenheit forscht, umso mehr kommt sie einem fundamentalen Bruch auf die Spur. Anhand von Gemälden macht Vinken ihre These von einem historisch verankerten Rollentausch der Geschlechter anschaulich. Demnach ist die uns heute so vertraute Gleichsetzung von Frauen mit Mode ein vergleichsweise junges Phänomen. Anders als Barack Obama oder Winston Churchill setzte sich Ludwig XIV. mit seinen glänzend bestrumpften Beinen und kostbaren Stoffen noch derart prunkvoll in Szene, wie es mittlerweile nur noch Frauen erlaubt ist. Nach heutiger Lesart müssen alle Männer, die sich extravagant anziehen, Schwule, Dandys oder androgyne Paradiesvögel wie David Bowie sein. Der aufgedonnerte Sonnenkönig belegt, dass Extravaganz für heterosexuelle Männer erst in der Moderne zum Tabu wird. Erst seit der Französischen Revolution ist Mode »weiblich«. Eine Auszeichnung ist dies nicht. Modische Frauen werden zum Anachronismus, der an die Dekadenz des Adels erinnert und gegen den neuen politischen Grundsatz der Gleichheit verstößt.
Besonders aufschlussreich sind jene Texte Vinkens, die dem üblichen Lamentieren der Männer über modische Frauen widersprechen. So ging der 1884 geborene britische Psychoanalytiker John Carl Flügel wie Vinken davon aus, dass in einer Zeit, in der alle Menschen Brüder werden (sollen), von Männern verlangt wird, auf die »glänzenden, heiteren, raffinierten und abwechslungsreichen Formen des Schmückens« zu verzichten. Die Modeabstinenz wird von Flügel als große männliche Entsagungsleistung ausgelegt. Allein der an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Frau sei es fortan erlaubt, im Spiel mit Stoffen und Silhouetten ihren ganzen Körper erotisch zu akzentuieren. Von Männern hingegen werde erwartet, ihre Körperlichkeit zu sublimieren. Das neue Ideal männlicher Uniformität werde mit einer Unterwerfung der eigenen Sinnlichkeit bezahlt: einem Verlust an Lust.
Faszinierend sind auch Vinkens Ausflüge in männliche Subkulturen, die sich dem Gebot der Modeabstinenz mit List widersetzen. So etwa der von Alain Mabanckou beschriebene Kongolese aus der Pariser Vorstadt, der im Designer­anzug seine Krokodillederschuhe spazieren führt. Der afrikanische Dandy, nach einer Elitetruppe der französischen Armee auch »Sapeur« genannt, verstößt im vollen Bewusstsein gegen alle Regeln der Modeabstinenz, indem er die Eleganz seiner Kleidung zum alleinigen Maßstab seines Daseins macht. Eine unverzeihliche Modetorheit? Keineswegs. Für Vinken sind die schwarzen Dandys, die für ihren Stil hungern, Rebellen: »So zersetzen, unterminieren sie in ihrer unheimlichen Mimesis (…) die koloniale, bürgerliche Ordnung der Geschlechter und der Klassen. Denn die Sapeurs verkleiden sich – als Kolonialherren.« Dem rassistischen Diskurs des Westens schlagen die Sapeurs mit ihren auf Hochglanz polierten Lederschuhen ein Schnippchen.
In die Sphäre der Haute Couture begibt sich Vinken, wenn sie sich Designern wie Martin Margiela, Alexander McQueen und der Japanerin Rei Kawakubo zuwendet. Besonders im Kapitel über das enfant terrible McQueen, der 2010 freiwillig aus dem Leben geschieden ist, gelingt ihr eine eindringliche Analyse von Kleidern, die über die nicht selten einfallslose Wiederkehr längst verblühter Epochen hinausweisen. Sie zeigt, wie der Sohn eines Londoner Taxifahrers Mode benutzt hat, um von der Leidensgeschichte seiner Vorfahren aus dem schottischen Hochland zu erzählen. Anders als viele seiner Kollegen ruft McQueen nicht einfach eine Wiederkehr des schottischen Kilt aus. Kate Moss im spektakulären Fetzenkleid wird in der Kollektion »Highland Rape« zur schottischen Witwe, die ihren von englischen Soldaten getöteten Mann sucht. McQueen interpretiert sein blutbesudeltes Modespektakel als Anklage gegen einen vergessenen »Völkermord«.
Was in Vinkens überaus anregendem Buch über die Mode fehlt, ist eine schlüssige Auseinandersetzung mit den Folgen des globalisierten Kapitalismus. Das Internet hat zu einer Beschleunigung der Abfolge modischer Trends geführt, die mit dem Begriff der »Saison« nicht mehr erfasst werden kann. Viele Modehäuser erweitern ihre Angebote fast täglich und rufen insbesondere Frauen zum permanenten Konsum ohne Rücksicht auf Ressourcen auf. »Angezogen« ist den ausgebeuteten Textilarbeiterinnen aller Welt gewidmet, doch diese Geste wirkt halbherzig. Was Vinken brillant gelingt, ist ein kluges und flammendes Plädoyer für eine Mode, die den Geist mit dem Stoff verbindet und unserer Welt Lust und Schönheit schenkt.

Barbara Vinken: Angezogen – Theorien der Mode. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2013, 255 Seiten, 19,95 Euro