Syrische Flüchtlinge in Athen

Endstation Athen

Rund eine Million Flüchtlinge sitzen in Griechenland fest. Ihre Lebensbedingungen sind miserabel, doch die europäische Flüchtlingspolitik verhindert eine Weiterreise.

Nachdem am 20. Januar neun Kinder und drei Frauen aus Afghanistan und Syrien ihr Leben vor der griechischen Insel Farmakonisi verloren haben und ein Mann vor dem Urlaubsparadies Rhodos ertrunken ist, werden die Stimmen von Menschenrechtsorganisationen, die das Vorgehen der griechischen Regierung und der EU gegen Migranten kritisieren, immer lauter.
Während die Behörden offiziell behaupten, das Boot sei bei einer Rettungsaktion gesunken, zeugen die Aussagen der Überlebenden eher von einem weiteren illegalen Abschiebeverfahren, einem sogenannten push back, bei dem die Flüchtlinge von der Küstenwache – in diesem Fall trotz meterhoher Wellen – in türkische Gewässer gedrängt werden sollten, damit der griechische Staat sich des Problems entledigen kann. Als zwei der Flüchtlinge über Bord gingen und die anderen versuchten, sie zu retten, kenterte das kleine Boot. Selbst dabei sollen die Beamten nach den Schutzsuchenden getreten haben.
Das Ägäische Meer vor Griechenland ist für viele Flüchtlinge das Tor zu Europa. Jedes Jahr kommen Tausende, fliehend vor Krieg und Verfolgung, hauptsächlich aus dem Nahen Osten und Afrika zumeist über die Türkei nach Europa. Seit 2010 in der Region des Grenzflusses Evros zwischen Griechenland und der Türkei ein über zehn Kilometer langer Grenzzaun errichtet wurde und 1 800 zusätzliche Einsatzkräfte sowie patrouillierende Boote hinzukamen, sank dort die Anzahl der Einwanderer um mehr als die Hälfte. Deshalb wagen immer mehr die riskante Überfahrt, zumeist in Schlauchbooten, zu einer der vor Griechenland liegenden Inseln. Wie viele Menschen dabei bisher ihr Leben verloren haben, ist ungewiss.
Der Eingang zu der kleinen Einzimmerwohnung im Untergeschoss des Mehrfamilienhauses ist klein und rutschig vom Regen. Hamoud leuchtet mit einer Petroleumlampe den Weg aus. Auch das Zimmer ist nur von einer batteriebetriebenen Handlampe beleuchtet, die Gesichter der Menschen sind kaum erkennbar. Es herrscht reges Treiben, aufgeregte Gespräche begleiten die herzliche Begrüßung, bevor auf einer Matte, die als improvisiertes Bett dient, Schwarztee in Plastikbechern serviert wird.
Zwölf Quadratmeter teilt sich Hamoud mit seinem Vater Raga, den beiden Schwestern Yamer und Lame und einer entfernten Bekannten, die alleine hierherkam, seit ihrer Ankunft in Athen vor drei Wochen. Es gibt keinen Strom, keine Heizung und kein fließendes Wasser. Vor zwei Monaten mussten sie ihr Viertel Yarmouk in Damaskus verlassen, nachdem sie dort unter regelmäßigem Beschuss fast vier Monate lang vom Militär umzingelt gewesen waren. Sie passierten 18 Stützpunkte, bis sie das Land verlassen konnten. Ungefähr 2 500 Euro pro Person hat sie der Weg bis hierher gekostet. In einem Truck haben sie die gefährliche Reise über Aleppo nach Istanbul auf sich genommen, um dann von der türkischen Seegrenze mit einem kleinen Boot, auf dem sich fünf Familien befanden, nach Ios, einer der kleinen Inseln vor Griechenland, überzusetzen. Der Vater ist bereits zwei Monate zuvor in den Libanon geflohen, um dort Arbeit zu finden. Seither haben sie keinen Kontakt mehr zu ihm. Ihr letztes Geld wurde ihnen bei der Ankunft auf einer der kleinen Insel abgenommen, dann wurden sie zwölf Tage lang eingesperrt, bevor sie eine sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis erhielten.

Schätzungsweise eine Millionen Flüchtlinge leben bereits in Griechenland, bei einer Gesamtbevölkerung von rund elf Millionen Menschen. Die von der EU – allen vor­an Deutschland – diktierte drastische Sparpolitik verschärft die sozialen Konflikte. Der griechische Staat ist mit der Anzahl an Flüchtlingen völlig überfordert. Überfüllte Haftlager, alltägliche gewalttätige Angriffe der rechtsextremen Gruppen um die Partei »Goldene Morgenröte« auf die Flüchtlinge und nicht zuletzt die sozialen Kürzungen im Staatshaushalt bringen die Schutzsuchenden in eine ausweglose Situation und führen bei vielen zu einem Zustand der permanenten Angst. Seit Dezember vergangenen Jahres setzt Griechenland auch das umstrittene European Border Surveillance System (Eurosur) ein, das mit Hilfe von Satelliten, Drohnen und Hubschraubern in enger Zusammenarbeit mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex Schmuggel und illegalisierte Migration überwachen und beenden soll.
Es ist zu erwarten, dass Flüchtlinge künftig auf immer gefährlichere Routen ausweichen müssen und der Grenzschutz mit dem Eurosur-Informa­tionssystem, für das bis 2020 mit 244 Millionen Euro Einrichtungs- und Betriebskosten veranschlagt wurden, nun schon viel früher und einfacher als bisher »illegale« Einwanderer zurückdrängen wird. Dieses push back ist eine weitere Strategie der EU, ihre Pufferzone auszubauen und die Verantwortung Ländern zuzuschieben, von denen Flüchtlinge menschenverachtend und erniedrigend behandelt oder gar in Staaten deportiert werden, in denen ihr Leben bedroht ist – etwa von Libyen nach Mali.
Auch das kürzlich in Brüssel unterzeichnete Abkommen mit der Türkei, die nun eine Rücknahme von Flüchtlingen, garantiert, die über ihre Grenze versuchen, nach Europa zu kommen, und im Gegenzug auf eine Visa-Freiheit für ihre Bürger im Schengen-Raum hoffen kann, macht deutlich, dass die EU ihre Grenzen mit immer rigideren Mitteln abschottet. Das eigentliche Problem wird damit nicht gelöst, sondern nur vor die »Festung Europa« ausgelagert. So flossen zum Beispiel auch EU-Subventionen an die Türkei zur Beschaffung neuester Wärmebildtechnik, während Li­byen im vergangenen Jahr 30,3 Millionen Euro zur Verbesserung seiner Grenzsicherung erhielt. Ähnliche Projekte sind in Algerien und Tunesien geplant.
Die, die es trotzdem schaffen, nach Griechenland zu kommen, werden polizeilich erfasst, bevor sie in eines der Aufnahmelager gebracht werden, wo sie bis zu eineinhalb Jahre festgehalten werden können. Die Bedingungen in den Lagern sind menschenverachtend, die hygienischen Zustände meist miserabel und im Umgang der Wärter mit den Inhaftierten gibt es oft willkürliche Polizeigewalt. Abschreckung ist ein beliebtes Mittel der griechischen Behörden, um eventuell nachkommende Freunde und Familienmitglieder der Fliehenden davon abzubringen, auch ihr Glück zu versuchen.

Eyad hat es nur aufgrund seiner Hartnäckigkeit hierher geschafft. Er sitzt still in einer Ecke des Zimmers im Athener Stadtteil Omonia. Er ist Syrer und hat es erst bei seinem dritten Versuch geschafft, nach Griechenland zu kommen. »Ich habe früher als Anwalt in Damaskus gearbeitet und führte ein zufriedenes Leben«, erzählt er und zieht an seiner Zigarette. Bei einer Bombendetonation in seinem Wohnviertel wurde das Bein seines Bruders zerfetzt. Als Eyad ihn eines Tages im Krankenhaus aufsuchte, um gesammelte Blutspenden abzuliefern, fand er im Zimmer seines Bruders nur einen Soldaten vor. Eyad wurde festgenommen. Es folgten sieben Monate, in denen er gefoltert wurde, dann kam er in Einzelhaft. Die Wärter schlugen ihn mit Stahlseilen, er musste mit 30 Leuten in einer Zelle schlafen. Wochenlang war es dort seine Aufgabe, die Toten, die das Gefängnispersonal in den Toiletten ablegte, herauszutragen.
Nach seiner Freilassung war er ein gebrochener Mann. Er weiß bis heute nicht, was mit seinem Bruder passiert ist und ob dieser überhaupt noch lebt. Am 10. November unternahm er zusammen mit seiner Mutter und 25 anderen Syrern und Afghanen seinen ersten Versuch, nach Griechenland zu gelangen. In griechischen Gewässern wurden sie von einem kleinen Boot angesteuert. Die Besatzung war freundlich zu ihnen, verteilte Kekse und Wasser. Unerwartet tauchte aber ein großes Boot auf, maskierte Polizisten waren an Bord, ein Sonderkommando. »Als wir auf das Boot kamen, sollten die Männer sich ausziehen. Sie wurden von Frauen und Kindern getrennt und mussten sich mit dem Gesicht zum Boden hinlegen, während die Grenzbeamten über uns drüberliefen«, schildert Eyad den Umgang der griechischen Behörden mit ihnen. »Ein Polizist hielt mir seine Waffe an die Schläfe, während ein anderer ihn anfeuerte, indem er ihm ›Schieß! Schieß!‹ zurief.«
Eyad berichtet, dass den Flüchtlingen alles abgenommen wurde. Wer sich dagegen wehrte, wurde mit der Waffe ins Gesicht geschlagen. Er hatte fast 20 000 Euro bei sich, seine gesamten Ersparnisse. Insgesamt wurden der Gruppe über 32 000 Euro, ihre Telefone und ihre Ausweise abgenommen. Einige der Frauen wurden von den Polizisten sexuell belästigt. Die Grenzschützer montierten anschließend den Motor des kleinen Bootes ab und zogen es zurück in türkische Gewässer, wo die Flüchtlinge völlig sich selbst überlassen wurden. Nur durch Glück hatten die Beamten das Mobiltelefon von Eyads Mutter nicht entdeckt, so konnten sie die türkische Küstenwache verständigen, die sie auf das Festland brachte und notversorgte.
Eyads zweiter Versuch verlief ähnlich, nur dass ihm diesmal nichts mehr abgenommen werden konnte. Er erzählt, wie der Fahrer des Bootes damals so lange verprügelt wurde, bis ihm Blut aus den Augen lief. Als er es beim dritten Mal mit einem schnellen kleinen Boot auf die Insel Lesbos schaffte, hatte er so viel Angst, wieder abgeschoben zu werden, dass ihn sechs Männer aus dem Polizeibus herauszerren mussten, um ihn in das Haftlager zu bringen.
Der kürzlich veröffentlichte Bericht von Pro Asyl mit dem Titel »Pushed Back« bestätigt, dass illegale Abschiebungen in Griechenland keine Ausnahme sind. Sie verstoßen gegen die EU-Menschenrechtskonventionen von Februar 2012. Mehr als 90 Flüchtlinge, die Opfer illegaler Abschiebungen waren, hat die NGO in Griechenland, der Türkei und Deutschland befragt. Dabei stellte sich heraus, dass nahezu alle Flüchtlinge, die über die Türkei nach Griechenland einwandern wollten, unter massiver Gewaltanwendung zu leiden hatten und zudem oft von der griechischen Küstenwache beraubt wurden. Die geschilderten Vorfälle haben sich alle im Einsatzgebiet der Agentur Frontex, die durch den EU-Außengrenzenfonds finanziert wird und eng mit den griechischen Behörden zusammenarbeitet, ereignet.

Zean, ein syrischer Journalist, lebt und arbeitet seit etwa zwei Jahren in Athen. In seinem Büro stehen die syrische und die griechische Flagge zusammengerollt in der Ecke. Wie bei den meisten Flüchtlingen war seine Vorstellung von Europa eine andere. Zean kommt aus Aleppo und hat dort die letzte oppositionelle Zeitung mit herausgebracht. Fast drei Jahre lang konnten sie die Zeitung Youth Thoughts, die mit einer gedruckten Auflage von 500 Stück begann und innerhalb kürzester Zeit auf nahezu 20 000 oft auf Daten-CDs verteilte Exemplare anstieg, auf Spendenbasis publizieren. Am 12. November wurden fast alle bedeutenden Mitarbeiter der Zeitung verhaftet. Zean verbrachte mehrere Monate in syrischen Gefängnissen, wurde gefoltert, geschlagen und monatelang in Einzelhaft gesteckt. »Ich wundere mich oft selbst, dass ich noch lebe«, sagt er, »es gab Zeiten, in denen keine Stelle an meinem Körper nicht grün und blau war von den Schlägen der Gefängniswächter.« Er verbrachte Monate im Krankenhaus und hat noch heute starke gesundheitliche Probleme. Oft leidet er unter Gedächtnisverlust.
Nach Griechenland kam er zu Fuß über die Landesgrenze und nur durch Glück musste er keine hohen Beträge an Schlepper zahlen. Er verbrachte vier Monate in einem der größten Aufnahmezentren namens Korinthos, das etwa 65 Kilometer nordwestlich von Athen entfernt liegt. Flüchtlinge berichteten ausnahmslos von extrem schlechten Lebensbedingungen dort: Es mangelt an grundlegenden Dingen wie Decken, medizinischer Versorgung und ausreichenden Nahrungsmitteln. »Der Boden dort ist so schwarz vor Dreck, den müsste man mit einem Meißel bearbeiten, um ihn wieder sauber zu bekommen. Die Wärter behandeln einen, als sei man ein Tier«, erzählt Zean. »Als ein Bekannter von mir einmal nach Seife fragte, wurde er sofort mit einem Elektroschocker angegriffen!«
Doch die Schuld gibt der Journalist nicht nur den griechischen Behörden: »Ganz Europa muss sich für die Behandlung und die dramatische Situation der Flüchtlinge verantwortlich fühlen«, sagt er, »denn selbst die Meldungen der illegalen Abschiebungen, die schon jahrelang stattfinden, werden nicht beachtet und fallen meist unter den Tisch. All das zur Verfügung stehende Geld wird für Sicherheitskräfte, Grenzschutz und die Aufnahmezentren ausgegeben, anstatt es für humanitäre Zwecke sinnvoll einzusetzen.«
Am Abend treffen wir uns mit Angehörigen der kurdischen Gemeinschaft in einem Fast-Food-Restaurant. Unter den Anwesenden ist auch ein 24jähriger Syrer, der anonym bleiben möchte. Sein Gesicht ist von Narben gezeichnet. Er hat Anfang November versucht, mit einem kleinen Boot nach Italien überzusetzen, das jedoch schon in einer Meerenge im Westen Griechenlands in der Nähe der Insel Lefkas kenterte. Dabei starben zwölf Menschen, die in der Kabine eingesperrt waren, darunter auch vier Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Einige der Ertrunkenen waren Bekannte des jungen Syrers, auch sein Cousin war unter ihnen. Mit 14 weiteren Menschen konnte er von der griechischen Küstenwache gerettet werden. Diese vermutet, die Flüchtlinge hätten versucht, auf das offene Meer zu gelangen, von wo aus sie mit einem größeren Schlepper nach Ita­lien gebracht werden sollten.
Es war auch für ihn nicht der erste Versuch, weiter nach Europa vorzudringen. Viele Flüchtlinge in Athen waren ursprünglich auf der Durchreise, denn kaum einer von ihnen erhofft sich ein besseres Leben in Griechenland, in dessen Sozialsystem nicht einmal Einheimische auf die Unterstützung des Staates hoffen können und wo es in den überfüllten Suppenküchen immer öfter zu handgreiflichen Auseinandersetzungen um Nahrungsmittel kommt. Doch das Dublin-II-Abkommen, das eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Binnenstaaten unmöglich macht, und die strengen Kontrollen an den Grenzen zu den anderen europäischen Staaten lassen die Flüchtlinge auch hier auf immer gefährlichere Routen ausweichen.
In dem Restaurant organisiert die kurdische Gemeinschaft die Finanzierung der Verschiffung der Toten in ihre syrische Heimat. Die Stimmung ist gedrückt. Bevor wir gehen, antwortet der junge Syrer auf die Frage hin, was er denn nun machen wird, mit einem strengen Blick, doch voller Überzeugung: »Ich habe schon ein weiteres Boot bezahlt und werde nächste Woche wieder versuchen, nach Italien zu kommen.« Dies zeigt, in welche ausweglose Situation Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, aufgrund der fehlgeschla­genen europäischen Flüchtlingspolitik gedrängt werden.