»Der Anständige«, ein Film über Heinrich Himmler

»Es gibt doch noch Gerechtigkeit«

Penetrant berief sich Heinrich Himmler auf die vermeintlich deutschen Tugenden Anstand, Güte und Ordnung. Vanessa Lapas dokumentarischer Film »Der Anständige« rekonstruriert, wie sich das Selbstverständnis des SS-Reichsführers in der Planung und Durchführung des Völkermords spiegelt.

Mehr als 40 Jahre lang lagen die Tagebücher und Briefe Heinrich Himmlers unter dem Bett einer Wohnung in Tel Aviv. Wie sie dorthin gekommen waren, ließ sich nicht mehr herausfinden. Offizielle Stellen in Israel konnten ihre Echtheit bestätigen. 2007 erwarb der Shoah-Überlebende David Lapa die Hinterlassenschaft. Als seine Tochter, die Regisseurin Vanessa Lapa, die Dokumente sichtete, entstand die Idee zu einem Film. Sie begann, nach passendem Filmmaterial zu suchen. Fündig wurden sie und ihre Mitarbeiter vor allem in privaten Archiven. Vergangenen Sonntag stellte sie ihren Film »Der Anständige« im Forum der Berlinale im Kino International vor.
Der Film rekonstruiert das Privatleben des jungen und des erwachsenen Himmler und sein Verhältnis zu seinen Eltern, seiner Ehefrau, seiner Tochter, seinem Adoptivsohn und der Geliebten. Was sie einander in Briefen mitteilten und für sich notierten, lesen die Schauspieler Sophie Rois und Tobias Moretti sowie Morettis Kinder Antonia und Lenz. Der Film umfasst die Zeit von Himmlers Geburt und Taufe bis wenige Wochen vor seiner Festnahme durch britische Soldaten und seinem kurz darauf erfolgten Selbstmord.
Der Zuschauer erfährt, wie Himmlers Vater die Geburt seines Sohns freudig dessen Taufpaten, dem Prinzen Heinrich von Bayern, mitteilt. Wie der Schüler Himmler sich selbst tadelt, weil er schon eine Woche nicht mehr Tagebuch geführt hat. Wie sehr es dem Landwirtschaftsstudenten auf die Stimmung drückt, als er feststellen muss, dass er in seiner Verbindung nicht beliebt ist. Dass ihm Magenprobleme lange, schlimme Nächte bescheren. Dass es ihn fassungslos zurücklässt, wie Oscar Wilde Homosexualität idealisiere. Dass Homosexuelle den Staat »zersetzen« und es deshalb besser sei, sie »auf der Flucht« erschießen zu lassen.
Was der Reichsleiter der SS und Polizeichef, der die Vernichtung der Juden so pflichtbewusst wie eifrig plant und durchführt, formuliert, ist erwartbar und macht dennoch fassungslos. Wenn ihm Rüstungsminister Albert Speer nach anfänglichem Zögern zusagt, Stahl für den Ausbau des Vernichtungslagers Auschwitz zu liefern, ruft Himmler aus: »Es gibt doch noch Gerechtigkeit.« Wenn die Tochter klagt, dass Papi so selten da sei, schreibt er aufmunternd zurück, dass er »den nächsten Brief aus Russland« schicken werde. Später beschwert sich die Tochter Gudrun, dass alle Orden bekommen, nur ihr Vater nicht. Obwohl er sie doch so verdient hätte.
Der Regisseurin geht es nicht einfach darum, ganz besonders nah an Himmler heranzuzoomen, sein Privatleben darzustellen oder seine Biographie neu zu schreiben. Sie zeigt, wie gut das Böse und die Normalität miteinander auskommen können.
Himmler agiert in seiner Doppelrolle selbstbewusst. Er hat keine Fragen, sondern eine Sehnsucht nach dem Mittelalter. Da gab es noch edle, hilfreiche und gute Germanen und die dazugehörige Ideologie. Er vermisst jemanden, der die Deutschen wieder dorthin zurückbringt. Kurz darauf werden fast alle seine Wünsche erfüllt. Er liest »Mein Kampf« und trifft den Autor des Buches, Adolf Hitler. Himmlers Selbstbild bekommt von nun an immer mehr Glanz. In seiner privaten Umgebung verbietet er es nicht, wenn man ihn nach dem Frankenkönig »König Heinrich« nennt.
Er hat keine Zweifel, sondern beschwert sich über die angeblich hoffnungslos verkommene Jugend. Er braucht keine Antworten, denn er gibt viel lieber Zahlen vor. Die Briefe an seine spätere Frau nummeriert er. Jedes deutsche Paar soll mindestens vier Kinder bekommen. Neue SS-Mitglieder müssen mindestens 1,70 Meter groß sein, zwei Bürgen haben und einen »reinrassigen« Stammbaum, der mindestens bis 1750 zurückreicht. In den nächsten drei Tagen wird er mit Hitler in sechs Städte reisen.
Mehrere hundert Schreiben hat Lapa gesichtet und kein einziges ist darunter, dass die Möglichkeit eines anderen Lebensweges auch nur andeutet. Alle Juden sollen vernichtet werden; anschließend beträchtliche Teile vom Rest der Menschheit, damit ein paar Auserwählte unter sich bleiben können. Das ist die »Revolution«, von der Himmler spricht.
Seine Angehörigen profitieren in ihrem Alltag nicht nur von der Machtfülle des Familienoberhauptes, auch ihre Wahrnehmung verändert sich. Tochter Gudrun etwa behilft sich bei einer Schulaufgabe mit einem Spickzettel. Ihre Lehrerin entdeckt das, sagt aber nichts. Gudrun findet das Verhalten der Lehrerin »anständig«. Sie kommt nicht auf die Idee, dass die Lehrerin so handelt, weil sie weiß, was ihr blüht, wenn sie der Tochter des zweitmächtigsten Mannes im Deutschen Reich Schummeln im Unterricht nachweist.
Manchmal kippt der Sprechton von Rois und Moretti ins Klamottenhafte. Etwa, wenn sie ihn ihren »ganz Wilden« nennt und er ihr eine wundervolle »Rache« verspricht, sobald er nach Hause kommt. Aber vielleicht lässt sich das nicht ganz vermeiden, wenn das schlimmste Grauen und das Anzügliche in einer Person zusammenkommen.
Am Schluss ist nur noch das Grauen übrig. Da geht der gesprochene Ton Morettis in die Originalaufnahme der Rede über, die Himmler im Oktober 1943 in Posen vor etwa 200 SS-Offizieren gehalten hat. Es handelt sich um die vielleicht schlimmste, entsetzlichste Rede, die je gehalten worden ist. Himmler kommt auf die »Ausrottung des jüdischen Volkes« zu sprechen. Er weist sein Publikum an, »in der Öffentlichkeit nie darüber (zu) reden«. Die Rede enthält schon das ganze Schweigen der Nachkriegszeit über die vorangegangenen Ereignisse, wenn Himmler feststellt, »dass wir uns untereinander nie darüber unterhalten haben, nie darüber sprachen«. Weiter heißt es: »Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1 000 daliegen. Und dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, hat uns hart gemacht und ist ein niemals genanntes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt.« Die Vernichtung als »Ruhmesblatt« derjenigen, die »anständig geblieben« sind – Vanessa Lapa zeigt, wie sich das Selbstverständnis Himmlers, anständig und gerecht zu sein, in der Planung und Durchführung des Massenmordes spiegelt.

Der Anständige, Regie: Vanessa Lapa, Israel/Deutschland/Österreich 2014.