Das internationale Treffen der selbstverwalteten Fabriken in Frankreich

Abwarten und Tee machen

In einer von der Belegschaft besetzten Teebeutelfabrik in Marseille fand ein internationales Treffen der »reaktivierten Betriebe« in Europa und Lateinamerika statt. Vertreter selbstverwalteter Fabriken diskutierten dabei über alternative Ökonomie und Produktionsverhältnisse im gegenwärtigen Kapitalismus.

Marseille Hauptbahnhof. Der Regionalzug in Richtung Toulon fährt stündlich. Nach zwei Stationen und 25 Minuten Fahrtzeit erreicht man Aubagne. Hier befindet sich nicht nur das Hauptquartier der französischen Fremdenlegion, die Kleinstadt wird auch traditionell kommunistisch regiert. Auf den Bussen, die vor dem Bahnhof warten, ist »Freiheit, Brüderlichkeit, Unentgeltlichkeit« zu lesen. Sie sind kostenlos. Mit der Buslinie 7 gelangt man von dort aus nach Gémenos, in den Ort, der seit einiger Zeit wegen einer besetzten Fabrik eine gewisse Aufmerksamkeit in der französischen Öffentlichkeit erregt.
Die Teebeutelfabrik Fralib liegt in einem Industriegebiet, in einem Tal zwischen zwei Hügelketten. Äußerlich unterscheidet die weiße, längliche, um einen rechten Winkel laufende Produktionshalle und das direkt am Eingang stehende Gebäude, in dem die Kantine und die Verwaltung untergebracht sind, nicht viel von vergleichbaren Anlagen. Die zahlreichen bereits verblassenden, auf die Gebäude und in ihrer direkten Umgebung gesprühten Slogans weisen jedoch deutlich darauf hin, dass der kapitalistische Alltag hier schon vor einiger Zeit durchbrochen wurde. »Fralib lebt!« ist direkt neben dem Firmenlogo zu lesen. An anderen Stellen wird zum Boykott des Lebensmittelkonzerns Unilever und der ihm gehörenden Teemarke Lipton aufgerufen. Das Konterfei Che Guevaras wurde auf dem Außengelände der Fabrik an zahlreichen Stellen mit Hilfe einer Sprühschablone angebracht. Viele Aufkleber der lokalen Gewerkschaftsgliederung der Confédération Générale du Travail (CGT), die den Arbeitskampf maßgeblich unterstützt, sind zu sehen.
Bereits vor zweieinhalb Jahren besetzten Teile der Belegschaft die Fabrik, um den Abtransport der Maschinen zu verhindern (Jungle World 49/2011). Der Lebensmittelkonzern Unilever, dem der Betrieb zu diesem Zeitpunkt gehörte, hatte zuvor angekündigt, die Produktion nach Polen zu verlagern. Den 182 Arbeiterinnen und Arbeitern wurde zwar der Erhalt ihrer Arbeitsplätze angeboten, dafür hätten sie aber nach Polen umziehen müssen, um dort zu deutlich niedrigeren Bezügen zu arbeiten. Kein Wunder, dass die Reaktion der Belegschaft nicht besonders positiv ausfiel. Einige der Arbeiterinnen und Arbeiter waren bereits Ende der neunziger Jahre wegen einer Produktionsverlagerung umgezogen. Damals hatte Unilever sein Werk in Le Havre, in Nordfrankreich, geschlossen. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde die Belegschaft vor die Wahl gestellt, eine Abfindung anzunehmen oder sich eine neue Existenz am anderen Ende des Landes aufzubauen. Viele der damals Betroffenen sind nun nicht mehr bereit, sich erneut den Konzernentscheidungen zu beugen.
»Ich wurde schon einmal von Le Havre verlagert«, erzählt einer von ihnen in dem Dokumentarfilm »Pot de Thé – Pot de Fer« von 2011, der auf labournet.tv mit deutschen Untertiteln zu finden ist. »Es bringt viele Schwierigkeiten mit sich. Der Umzug, die Entwurzelung, weit weg von der Familie zu sein. Jetzt habe ich mein Leben hier neu angefangen, ich habe Kinder. Wir sind Arbeiter, keine Roboter, die man überall mithin nehmen kann.« 76 Menschen kämpfen bis heute um ihre Arbeitsplätze. Erreicht haben sie bereits, dass die Region Marseille die Fabrikgebäude inklusive Inventar gekauft und ihnen überlassen hat. Irgendwann möchten sie die Produktion in Selbstverwaltung wieder aufnehmen.

Eine solche direkte Infragestellung der Verfügungsgewalt der Unternehmer über die Produktionsmittel durch die sie bedienenden Lohnabhängigen ist weltweit eine Ausnahme. Und doch geschieht es immer wieder, in verschiedenen Ländern und auf unterschiedliche Art und Weise. Am 31. Januar und 1. Februar fand in der Produktionshalle der Teebeutelfabrik in Gémenos, direkt neben den Fließbändern, ein internationales Treffen unter dem Motto »The Economy of the Workers« statt.
Dort wurden Erfahrungen ausgetauscht. Es beteiligten sich Arbeiter und Arbeiterinnen von selbstverwalteten Betrieben sowie Aktivisten und Wissenschaftler aus Europa und Lateinamerika. Insgesamt nahmen bis zu 200 Personen an den Workshops und Podiumsdiskussionen teil. Es war das erste Treffen dieser Art in Europa. 2007 und 2009 fanden bereits entsprechende Konferenzen in Buenos Aires, 2011 in Mexiko-Stadt und im Sommer 2013 in João Pessoa im Norden Brasiliens statt. Eine zentrale Rolle bei der Organisation dieser Veranstaltungen spielte seit Beginn eine Arbeitsgruppe der »Offenen Fakultät« der Universität von Buenos Aires. Diese forscht seit 2002 zum Thema der empresas recuperadas, der reaktivierten Betriebe, die nach ihrer Schließung durch die Besitzer von den Belegschaften besetzt und wieder in Gang gesetzt werden. Die letzte Untersuchung der Arbeitsgruppe zur Situation in Argentinien, wurde im November 2013 abgeschlossen. »Derzeit gibt es in Argentinien 310 reaktivierte Betriebe, in denen über 15 500 Arbeiter tätig sind«, sagt der Sozialwissenschaftler André Ruggeri, Leiter der Gruppe. Der Mittvierziger mit lockigen schwarzen Haaren und Vollbart beschäftigt sich mit dem Phänomen bereits seit der argentinischen Wirtschaftskrise von 2001, als außerordentlich einflussreiche Bewegungen entstanden, die zeitweise (sozial-)staatliche Funktionen übernahmen. Im Zusammenhang mit den damit einhergehenden sozialen Konflikten konnten sich die empresas recuperadas zunächst als soziale Bewegung etablieren. Seitdem gelang es, eine Rechtsprechung durchzusetzen, die die Übernahme von Betrieben durch die Belegschaft und die Enteignung der ehemaligen Besitzer durch den Staat unter gewissen Umständen ermöglicht. Diese Vorgänge sind alles andere als widerspruchsfrei, denn in Argentinien ist die Wirtschaft bekannterweise immer noch nach kapitalistischen Prinzipien organisiert. Die Reaktivierung der Betriebe stellt zwar einige dieser Prinzipien in Frage, zum Beispiel das Privateigentum, andererseits konkurrieren die empresas recuperadas weiterhin mit anderen Unternehmen auf dem Markt und sind denselben Sachzwängen ausgesetzt. Die reaktivierten Betriebe sind heute nicht nur als soziale Bewegungen eine Institution geworden, sondern sie sind auch innerhalb des argentinischen Rechtssystems institutionalisiert. Weltweit ist dieses Phänomen in Argentinien sicherlich am stärksten ausgeprägt, doch auch in anderen Ländern kommen Arbeiterinnen und Arbeiter in ähnlichen Situationen auf ähnliche Ideen: »In Brasilien hat eine Forschungsgruppe mit unserer Unterstützung eine entsprechende Erhebung durchgeführt«, sagt Ruggeri, Sie haben 70 reaktivierte Betriebe mit um die 8000 Beschäftigten gezählt«, sagt Ruggeri. »In Uruguay werden derzeit Daten erhoben. Man geht dort von etwa 30 Betrieben mit ungefähr 2 000 Beschäftigten aus. In anderen Ländern gibt es vereinzelte Fälle, aber es ist derzeit noch nicht möglich, das Phänomen dort quantitativ zu erfassen. Der Unterschied zu anderen Ländern besteht insbesondere darin, dass die empresas recuperadas in Argentinien eine eigene Identität bekommen haben«, sagt Ruggeri.

Die Teilnehmer des internationalen Treffens finden sich in der Produktionshalle von Fralib in Arbeitsgruppen zusammen. Sie tragen Jacken, Mützen und Schals, denn in Südfrankreich ist es kühl an diesem Wintertag. Die meisten Teilnehmer kommen aus Italien, Spanien und Frankreich. Aber auch aus Argentinien, Brasilien und Mexiko sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angereist, um ihre Forschungsergebnisse vorzustellen. Sie tauschen sich darüber aus, wie sich die selbstverwalteten Betriebe in Europa effektiver koordinieren können, welche Art der Unterstützung sie wirklich benötigen. Zwischen den Maschinen und Fließbändern hängen Transparente. Einzelne Teilnehmer flanieren am Fließband entlang. Sie betrachten neugierig die für sie augenscheinlich fremde Fabrikumgebung. In einem Workshop wird über die Idee eines Solidaritätsfonds diskutiert. Dieser soll den reaktivierten Betriebe in Europa Geld für Investitionen zur Verfügung stellen und neuen Projekten beim Aufbau helfen. Einige Teilnehmer versprechen sich davon eine gewisse Unabhängigkeit von den Zwängen des Marktes, die vielen reaktivierten Betrieben zu schaffen machen, denn sie verfügen in der Regel über weniger Kapital als die Konkurrenz. Ob eine Unabhängigkeit vom Markt tatsächlich möglich ist, scheint allerdings fraglich. Zumindest die Konkurrenzfähigkeit könnte aber wohl gesteigert werden. Diskutiert wird auch über das Vorhaben, eine Übersichtskarte zu erstellen, auf der alle reaktivierten Betriebe in Europa mit einigen grundlegenden Informationen verzeichnet sind. Viele europäische Projekte wissen nichts voneinander, einige wissen bislang noch nicht einmal, dass sie reaktivierte Betriebe sind.

Aus Thessaloniki sind Arbeiter der selbstverwalteten Fabrik VIO.ME angereist. Nachdem der Mutterkonzern, die Keramikfirma Philkeram, die Schließung des Betriebs verkündet hatte, besetzte die Belegschaft 2011 die Anlage. »Am Anfang haben wir uns an Politiker und Gewerkschaftsbürokraten gewandt und sie um Unterstützung gebeten. Das war reine Zeitverschwendung«, sagt ein Arbeiter von VIO.ME im Rahmen Podiumsdiskussion. »Nun konzentrieren wir uns auf die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft.« Dies sei sogar in den internen Strukturen berücksichtigt worden: »Solidarische Kunden, die regelmäßig eine bestimmte Menge abnehmen, haben das Recht, als Beobachter und Berater an den Belegschaftsversammlungen teilzunehmen.« Seit einem Jahr produziert VIO.ME nun in Selbstverwaltung ökologische Reinigungsmittel. Damit können die Arbeiter ein stabiles, wenn auch geringes Einkommen erzielen.
Auf dem Podium sitzen auch Leute von Pilpa, einer besetzten Eiscremefabrik aus Carcassonne in Südfrankreich, sowie von Officine Zero, einer ehemals stillgelegten und nun ebenfalls besetzten Industrieanlage in Rom. Das Gelände gehörte der Instandhaltungsfirma Rail Service Italia, die dort Nachtzüge reparierte. Doch die Fabrik wurde nicht in ihrer ursprünglichen Funktion wieder in Betrieb genommen. Nach der Besetzung im vergangenen Jahr ist dort ein soziales Zentrum entstanden, wo gemeinsam mit den Anwohnerinnen und Anwohnern der umliegenden Wohnviertel entschieden wird, wie diese Infrastruktur am besten im Sinne aller Beteiligten genutzt werden kann. Unter anderem werden auf dem Gelände nun alte Elektrogeräte gesammelt und recycelt. Diese Wiederaufnahme von Beziehungen mit dem sozialen Umfeld ist ein wichtiges Kennzeichen der reaktivierten Betriebe in Europa wie in Lateinamerika.

Gérard Cazorla ist Gewerkschaftssekretär des Betriebskomitees und Mechaniker bei Fralib. Er ist weißhaarig, trägt eine Brille und hat eine gemütliche Ausstrahlung. Dass er auch sehr ungemütlich werden kann, hat er in den vergangenen Jahren immer wieder unter Beweis gestellt: »Wir möchten anders produzieren als Unilever«, sagt er, während er an einem Tisch im Büro des Verwaltungstraktes sitzt, »ohne chemische Zusatzstoffe und mit einem regionalen Bezug«. Die Belegschaft von Fralib hat einen Businessplan entwickelt. Man möchte sich zukünftig auf die Produktion von Lindenblütentee konzentrieren. Die Rohstoffe dafür können in der näheren Umgebung hergestellt werden, lange, unter ökologischem Gesichtspunkt schädliche Anfahrtswege würden damit wegfallen. Die sozialen Beziehungen innerhalb der Produktionskette wären weniger stark vermittelt. Die Produkte möchte man vor allem regional absetzen. Bislang ist dies jedoch noch Theorie. »Wir benötigen die Rechte an der Marke Eléphant, ausreichend Startkapital, um in Rohstoffe investieren zu können, und eine Nachfrage, die eine annähernde Auslastung der Maschinen in Aussicht stellt. Andernfalls sind wir nach einem halben Jahr pleite«, sagt Cazorla nüchtern.
Eléphant und Lipton sind die beiden Teemarken, die vor dem Konflikt in Gémenos produziert wurden. Die Belegschaft fordert von dem Konzern nun noch – neben der Zahlung von Abfindungen, die sie als Anschubfinanzierung nutzen möchten – die Überlassung der Markenrechte für Eléphant, da es sich dabei um eine traditionelle und etablierte französische Marke handele, deren Produktion nicht nach Polen ausgelagert werden dürfe.
In der Debatte über die Verlagerung der Teeproduktion schwingt ein gewisser Nationalismus mit. Ausdruck davon ist ein Koffer, der an der Wand in der Werkskantine von Fralib hängt. Er ist mit den polnischen Nationalfarben sowie dem Wort »No!« bemalt. Abgesehen davon scheint man aber der Versuchung, an nationalistische Affekte anzuknüpfen, widerstehen zu können, obwohl diese in Frankreich momentan durchaus sehr wirkungsmächtig sind. Die Arbeiterinnen und Arbeiter von Fralib möchten in erster Linie ökologisch und regional produzieren. Ob eine solche alternative Ökonomie, wie sie von ihnen und den meisten anderen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Treffens angestrebt wird, im Rahmen des Kapitalismus tatsächlich realisiert werden kann, ist allerdings fraglich. Zumindest wurde am ersten Februarwochenende ein Grundstein für einen europaweiten Austausch zwischen den Betrieben, Projekten und Menschen gelegt, die es ausprobieren möchten. Den Versuch ist es allemal wert.