Stammesmilizen, Islamisten und Demokratisierung in Libyen

Die Macht der Milizen

In Libyen erschweren Stammesmilizen und Islamisten den Aufbau demokra­tischer Strukturen. Bei der Wahl zum Verfassungsrat war die Beteiligung gering.

Viele Libyerinnen und Libyer meinten zunächst, ihre Revolution würde viel schneller und einfacher zu einer stabilen Demokratie führen als diejenigen in den Nachbarländern. »Wir haben Öl, wir haben keine religiösen Konflikte, wir haben kein Islamistenproblem, weil wir sowieso konservative Muslime sind«, fasste ein junger Revolutionär in Bengasi vor fast drei Jahren die Vorzüge Libyens zusammen. Zu dem Zeitpunkt herrschte bereits Katerstimmung in Tunesien und Ägypten. »Die Krise« gefährdete die Revolution: Die Touristen blieben weg, Investoren hielten sich zurück. Die Armen wurden nach der Revolution noch ärmer – dabei waren gerade sie für Brot und soziale Gerechtigkeit auf die Straße gegangen. Der Optimismus vieler Libyer sollte sich jedoch in nahezu jedem Punkt als unbegründet herausstellen: Es gibt ein Islamistenproblem, es gibt religiöse und ethnische Konflikte, das Öl sprudelt nur, wenn Mi­lizen nicht gerade die Produktion blockieren.

Dabei hatten die libyschen Revolutionäre zunächst vieles richtig gemacht. Im August 2011, als noch um die Hauptstadt Tripolis gekämpft wurde, stellte der Nationale Übergangsrat einen Plan auf. Statt wie in Tunesien und Ägypten sofort eine Wahl auszurufen, entschied man sich, die Dinge nicht zu überstürzen. Der Rat zog seine Schlüsse aus den Diskussionen in den Nachbarländern, wo säkulare Politiker warnten, schnelle Wahlen würden zu einem Sieg der Islamisten führen – was dann auch geschah. In Libyen hatten die Muslimbrüder zwar keine gut ausgebaute Basis wie in Ägypten und nicht einmal eine Tradition wie die islamistische Partei al-Nahda in Tunesien, aber das Emirat Katar pumpte viel Geld in ihren Aufbau.
Mehr als ein halbes Jahr dauerte es in Libyen, ein Wahlgesetz zu schreiben. Dabei herausgekommen ist eines der fortschrittlichsten Gesetze weltweit hinsichtlich der Beteiligung von Frauen – zumindest auf den ersten Blick. Nicht nur muss wie in Tunesien jeder zweite Listenplatz an eine Frau gehen, es muss auch jede zweite Liste von einer Frau angeführt werden. Doch eine 50prozentige Beteiligung von Frauen kam dabei nicht heraus. Denn um den Islamisten den Sieg zu erschweren, sollte nur ein Drittel der Parlaments­sitze über Parteilisten vergeben werden, der Rest ging an sogenannte Unabhängige.
Das Wahlgesetz stützte damit die Stammesstrukturen, denn als Unabhängige wurden in der Regel Stammesführer gewählt. Das war nicht nur für die Frauenquote schlecht, sondern verstärkte auch eines der Probleme, die zum jetzigen Chaos führen. Viele Stämme haben ihre eigenen Milizen, mit denen sie versuchen, Vorteile für sich zu erpressen. Verspätete Industrialisierung und starke Unterdrückung der Bevölkerung durch die italienische Kolonialmacht verzögerten die Auflösung der Stammesstrukturen. Muammar al-Gaddafi, der das Land 40 Jahre diktatorisch regierte, versuchte die Macht der Stämme zunächst zu brechen. Doch schon Mitte der siebziger Jahre änderte er seine Strategie und legte die Kommunalverwaltung fast komplett in deren Hände. So konnte er sie gegeneinander ausspielen und seine Macht sichern. Vor allem aber entzog er sich der Verantwortung für die dysfunktionale Verwaltung. In dem Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas verfielen öffentliche Gebäude und Straßen.
Der Mangel an Verwaltungsstrukturen ist das zweite große Hindernis auf dem Weg zur Demokratisierung. Wie Gaddafi in seinem Grünen Buch darlegte, hielt er nichts von Staat, Verfassung und dergleichen. In der angeblichen Basisdemokratie hatte nur einer das Sagen: Gaddafi. Nach seinem Sturz wurde nur langsam angefangen, Strukturen aufzubauen. So fahndete etwa der Übergangsfinanzminister anfangs mit nur drei Mitarbeitern nach Gaddafis weltweit verstreutem Vermögen. Trotzdem schaffte es die Übergangsregierung, ihren Plan einzuhalten: Im Juli 2012 wurde ein Parlament gewählt, im August ein Präsident und im September ein Ministerpräsident.
Doch inzwischen läuft nichts mehr nach Plan. Das Parlament sollte baldmöglichst eine verfassunggebende Versammlung wählen. Doch die Abgeordneten entschieden, die Bevölkerung dieses Organ wählen zu lassen. Am 20. Februar fand die Wahl statt. Die Bevölkerungsgruppen der Amazigh und Toubou boykottierten die Wahlen, weil sie fanden, die ihnen gewährte Anzahl an Sitzen sei zu gering. Nur eine Million der 3,4 Millionen Wahlberechtigten registrierte sich – und nicht einmal die Hälfte davon wählte letztlich.
Die Kandidaten waren vielen unbekannt. Den Wahlbürgern leuchtete womöglich aber auch nicht ein, welchen Sinn die beste Verfassung hat, wenn der Staat keinerlei Macht besitzt. Al-Qaida nahestehende Gruppen kontrollieren weite Teile des Südens des Landes und haben in den Küstenstädten Derna und Sirte kleine »Kalifate« errichtet. In Tripolis versuchen Milizen der Muslimbrüder immer wieder, die Macht an sich zu reißen. Im Frühjahr 2013 stürmte die von ihnen dominierte Miliz »Libyens Schild« das Parlament und besetzte zwei Ministerien. Sie forderte ein Gesetz, das Amtsträger unter Gaddafi von politischen Ämtern ausschließt. Das Parlament beugte sich mit nur fünf Gegenstimmen und schloss damit einige der engagiertesten Oppositionellen gegen Gaddafi von der Politik aus.

Seit dem Sommer haben die Ereignisse in Ägypten die libyschen Muslimbrüder nochmals radika­lisiert. Ihre Milizen erhielten erhebliche Verstärkung von aus Ägypten geflohenen Muslimbrüdern. Im Oktober entführte die »Schild«-Miliz den Ministerpräsidenten Ali Zeidan. Obwohl die Muslimbrüder nur zehn Prozent der Sitze im Parlament erringen konnten, hatten sie gehofft, den Regierungschef stellen zu können. Doch ihre Koalition mit anderen islamistischen Parteien reichte nicht aus. Die Entführung Zeidans sollte ein Putsch werden, doch erneut zeigten viele Libyer, dass sie wenig von islamistischer Gewaltherrschaft halten. Die Stadträte von Bengasi und Misrata verurteilten die Entführung scharf, mehrere Stadt- und Stammesmilizen erklärten, sie würden die Freilassung Zeidans erkämpfen. Kurz darauf kam er wieder frei.
Auch im November zeigte die Bevölkerung, dass sie nicht gewillt ist, Milizengewalt hinzunehmen. In Tripolis kontrollierte seit dem Sturz Gaddafis die Misrata-Miliz das ehemalige Villenviertel Gharghour. Immer wieder kam es zu Scharmützeln mit anderen Milizen. Am 15. November rief der Stadtrat von Tripolis die Bevölkerung zu einem Protesttag auf. Doch die Misrata-Miliz feuerte auf die Demonstrierenden und tötete 47 von ihnen. Der Konflikt nahm bürgerkriegsähnliche Züge an, als gegnerische Milizen das Villenviertel belagerten und die Stadt Misrata daraufhin Verstärkung für ihre Miliz nach Tripolis entsandte. Doch zwei Tage später, als im ganzen Land gegen das Vorgehen der Misrata-Miliz protestiert wurde, zog diese komplett aus Tripolis ab. Die Episode, so blutig sie auch war, zeigte eines: Die meisten Milizen und auch die Muslimbrüder lenken ein, wenn sie merken, dass die Stimmung in der Bevölkerung sich gegen sie wendet. Das gilt nicht für die al-Qaida-Milizen. Viele Bewohner von Derna und Sirte verlassen diese Städte, um den Terrorkalifaten zu entkommen.
Zeidan bat daher die Nato 2013 um Hilfe. Seit Sommer überfliegen US-Drohnen die Wüste zwischen Niger und Bengasi. Die USA bilden zudem die libysche Armee aus. Auch Großbritannien, Italien und die Türkei haben Ausbilder entsandt. Frankreich schickt Militärhilfe. Die EU unterstützt den Aufbau einer Grenzpolizei. Al-Qaida lässt sich vertreiben, wenn die Nato-Mächte das wollen. Das haben die französischen Streitkräfte in Mali vorgeführt. Schwieriger wird es werden, den bisher kaum existierenden Staat aufzubauen und Parlament und Regierung trotz des Störfeuers der Muslimbrüder arbeitsfähig zu halten.