Minimalkonsens Trauer

Sie stehen wieder auf dem Freiheitsplatz in Armeniens Hauptstadt Eriwan, direkt vor der Oper: Anhänger des Oppositionsbündnisses Armenischer Nationalkongress, unabhängige Gegner von Präsident Sersch Sargsjan, ein paar Studenten, Veteranen des Berg-Karabach-Kriegs gegen Aserbaidschan. Blauer Zigarettendunst steigt über die Köpfe der Menschenmenge, wie fast überall in einem Land, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung raucht. Einige schwenken die armenische Trikolore, andere recken Schilder in die Höhe, auf denen »Elections now!« steht. Es sind vor allem grauhaarige Männer in dunklen Lederjacken, die den Tiraden der Oppositionspolitiker lauschen. Augenscheinlich sind weniger Menschen gekommen als bei den Massenprotesten der vergangenen Jahre. Doch die Probleme sind die selben: steigende Lebensmittelpreise, Korruption, die schlechte wirtschaftliche Lage, der Vorwurf der Wahlfälschung, die Inhaftierung von Oppositionellen. Zudem ist es der sechste Jahrestag der Demonstrationen gegen die Wahl Sargsjans, bei denen am 1. März 2008 zehn Menschen getötet wurden. Auf Strafverfahren gegen die Täter warten die Hinterbliebenen bis heute. Das Gedenken an die Opfer ist eines der wenigen Themen, bei dem sich die Oppo­sition einig ist. Als sich die Menge vom Freiheitsplatz zur Mesrop-Maschtoz-Avenue schiebt, schaffen es die Spalier stehenden Polizisten kaum, den Verkehr aufzuhalten. »Sersch, du Mörder«, brüllt die Menge, während Taxis und Kleinbusse hupend an der Demonstration vorbeiziehen. Dann werden fast alle Marschierenden ruhig, als sie sich der Alexander-Mjasnikjan-Statue nähern. Vor zwei Kränzen bleiben sie stehen, legen Hunderte weißer Rosen nieder. Zeichen der Trauer für die zehn Todesopfer. Eine weinende Frau hat sich an die Spitze der Menge gestellt, vor ihr ein Tross Fotografen. Mit einem Feuerzeug setzt sie das auf Pappe gemalte Konterfei Sargsjans in Flammen. 20 Sekunden Wärme gegen die Kälte der Regierung.