Das Buch »Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens«

Verwirrung des Denkens

Der soziologische Sammelband »Konspiration« versucht sich an einer »Ehrenrettung des konspirologischen Gegenwartsdenkens«.

Einer, dem kürzlich der sichere Boden unter den Füßen weggezogen wurde, ist nach eigenem Bekunden Sascha Lobo. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schrieb er: »Stets habe ich hart gegen Verschwörungstheoretiker argumentiert, und jetzt lässt sich eine eventuelle Erpressbarkeit der jahrelang abgehörten Bundeskanzlerin nicht mehr als absurd ausschließen. Was für unglaublichen Pfosten bin ich im Netz begegnet, und aus heutiger Sicht war ihre Position zur Überwachung näher an der Realität als meine.« Man kann die seelischen Erschütterungen Sascha Lobos wahlweise als Hinweis dafür nehmen, dass sich die objektive Welt dem Bild nähert, »das der Verfolgungswahn von ihr entwirft«, wie Adorno Anfang der sechziger Jahre im Aufsatz »Meinung Wahn Gesellschaft« konstatierte – oder für die im selben Text gegebene Warnung davor, das Pathogene der Realität mit den Kriterien des gesunden Menschenverstandes begreifen zu wollen.
Etwa gleichzeitig mit den Enthüllungen von Edward Snowden hat es sich nun ein Sammelband zur Aufgabe gemacht, eine »Soziologie des Verschwörungsdenkens« vorzulegen. Der Band mit dem Titel »Konspiration« ist – vom Umfang her – der wohl ehrgeizigste Versuch der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland, sich soziologisch mit dem Thema auseinanderzusetzen. Im Klappentext heißt es, es werde der »Versuch einer soziologischen Ehrenrettung des konspirologischen Gegenwartsdenkens« gewagt.
In der Einleitung des Bandes behaupten die drei Herausgeber, Andreas Anton, Michael Schetsche und Michael Walter, in der Wissenschaft habe man sich, aufgrund der Furcht, seine Reputation zu beschädigen, bisher zu wenig mit dem Phänomen auseinandergesetzt. Wo dies doch geschah, habe eine »pauschale Abwertung des Verschwörungsdenkens« stattgefunden. Dieses sei durch Theoretiker wie Karl Popper, Daniel Pipes, Dieter Groh und Armin Pfahl-Traughber der »Unwahrheit, Krankhaftigkeit und Gefährlichkeit« bezichtigt worden. Essentialistische Zugänge, funktionalistische Erklärungen und pathologisierende Darstellungen hätten überwogen.
Die Herausgeber wollen sich stattdessen mit einer konstruktivistisch-wissenssoziologischen Methode dem Phänomen nähern. Sie orientieren sich an einem Leitsatz der Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann, wonach man sich soziologisch »mit allem zu beschäftigen habe, was in einer Gesellschaft als Wissen gilt, ohne Ansehen seiner Gültigkeit oder Ungültigkeit«. In einer ersten Definition werden Verschwörungstheorien als »disqualifiziertes Wissen« bezeichnet. Sie seien zuallererst heterodoxe, also häretische Wirklichkeitsbeschreibungen, die sich von orthodoxen Theorien »zunächst einmal lediglich durch den Grad ihrer gesellschaftlichen Anerkennung« unterscheiden. Und was orthodox, was heterodox ist, werde »letztlich diskursiv bestimmt«.
Oliver Kuhn definiert in seinem Beitrag gleichfalls rein relativistisch: »Der Begriff der Verschwörungstheorie ist ein Stigmatisierungsbegriff, welcher Aussagen über Verschwörungen bezeichnet, welche nicht als wahr aufgefasst werden (…). In dieser distanzierten Fassung geht es nicht mehr um die Frage, was Verschwörungstheorien ›sind‹, sondern ›wie‹ der Begriff benutzt wird.« Der Wahrheitsgehalt von Wissensbeständen spielt nach dem gewählten Ansatz, wie René König hinzufügt, »ohnehin eine untergeordnete Rolle«.
So weit, so wertfrei. Dürfen die Leser trotzdem auf eine Annäherung an den Inhalt dieser »Wissensform« hoffen? Sie dürfen. So ist das Verschwörungsdenken laut den Herausgebern wesentlich durch fünf Faktoren beeinflusst. Es gebe, kurz gesagt, reale Verschwörungen, deshalb ein berechtigtes Misstrauen der Menschen und den Wunsch nach plausiblen Erklärungen. Die Verantwortung des Einzelnen werde angenehm minimiert und das Internet biete Platz für heterodoxe Öffentlichkeiten. Die »wichtigste« Funktion von Verschwörungstheorien sei es, »menschliches Erleben und Handeln mit Sinn zu versehen«. Man versteht: Verschwörungstheorien haben »durchaus auch positives Potential«.
Nach dieser recht axiomatischen Einleitung beginnt das Buch mit einem halben Dutzend Fallstudien. Nach dem Motto: »Wer nicht von Verschwörungen reden will, soll auch von Verschwörungstheorien schweigen« werden der Mord an Kennedy, Gladio-Truppen in Italien, die »Bilderberger«, Aids, Verwirrungen innerhalb der Ufo-Szene und 9/11 behandelt. Wer im Verschwörungsdschungel nicht die Orientierung verliert, erfährt von der Schwierigkeit, Thesen über Konspirationen als wahr oder falsch zu qualifizieren (Kennedy, Aids, 9/11) und von tatsächlich existierenden Konspirationen – so im lesenswerten Artikel von Regine Igel über die Geheimloge P2 und Gladio-Truppen in Italien.
Die Kritik an staatstragend-massenmedialer Apologetik gerät zuweilen zu einem Gejammer über fehlende Forschungsgelder für eigene, angeblich »hochspannende« und »äußerst interessante« Themen. Solche seien das Bilderberger-Treffen oder neue Erkenntnisse in der Ufo-Szene. Gerd Hövelmann beschwert sich in seinem Artikel zum Kennedy-Mord über »szientistisch-skeptizistische Exzesse« und darüber, dass »die seit langem tief begraben geglaubte Adornosche Phantasie von der ›Metaphysik der dummen Kerle‹ noch oder wieder in voller Blüte« stehe.
Auf die Fallstudien folgen zwei (diskurs-)theoretische Kapitel. Zunächst weist Michael Walter den Massenmedien anhand ihres Umgangs mit Verschwörungstheorien über 9/11 eine »affirmative Haltung gegenüber dem gesellschaftlichen Status quo« zu. Heterodoxe Positionen würden als »häretisch« ausgegrenzt und deren Vertreter als »illegitime Sprecher« des Diskurses verwiesen. David Coady schlägt in dieselbe Kerbe: Verschwörungstheorien hätten einen »unverdient schlechten Ruf, einen schlechten Ruf, der das Produkt einer antidemokratischen Propaganda ist«. Kritik am Verschwörungsdenken ist für ihn offenbar nur als »Staatspropaganda« denkbar.
Im Weltbild nicht nur dieser beiden Autoren scheint es keinen Platz für utopische Phantasie zu geben. Das »emanzipatorische Potential heterodoxer Erklärungsmodelle«, von dem die Herausgeber phantasieren, scheint schlicht in seinem heterodoxen Status begründet zu liegen. Dieser demokratische Pragmatismus, der sich fast durch den gesamten Band zieht, erinnert stark an das Diktum von Chantal Mouffe in »Über das Politische«: »Daher kommen wir, wenn wir das demokratische Projekt verteidigen und radikalisieren wollen, nicht darum herum, das Politische in seiner antagonistischen Dimension anzuerkennen und den Traum von einer versöhnten Welt, die Macht, Souveränität und Hegemonie überwunden hätte, aufzugeben.«
Auf »teilweise beunruhigende Schnittstellen« zwischen akademischer Postmoderne und Verschwörungsdenken hat Daniel Kulla bereits 2007 in seinem Buch »Entschwörungstheorie« hingewiesen. Passend dazu findet sich in »Konspiration« ein Beitrag des Medienwissenschaftlers Matthias Hurst, in dem er feststellt, dass »Verschwörungsdenken zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr die Ausnahme (…) darstellt, sondern zum Regelfall geworden« und »ein Baustein der postmodernen Befindlichkeit« sei. Diese Diagnose, für die der vorliegende Band ein treffliches Beispiel ist, bietet allerdings auch Hurst keinen Anlass für eine Kritik des Verschwörungsdenkens.
Dieses profitiert stattdessen noch vom folgenden Beitrag Sascha Pommrenkes, in dem dieser die »Kampfbegriffe« Rationalität und Vernunft mit dem relativistischen Hinweis, dass »alles Denken« schließlich gefühlsmäßig und irrational sei, ablehnt. Man könnte sagen, dass der Beitrag Pommrenkes, in dem immerhin einmal das Wort »Bedürfnisstrukturen« auftaucht, noch am nächsten an Adornos Erkenntnis heranreicht, dass alles Denken Übertreibung und die »Tendenz zur pathischen Meinung aus der normalen herauszulesen« sei. Während aber Adorno, um nur ein Beispiel zu nennen, dem Nazi(-Mitläufer) und Gründer des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP), Hans Bender, in einer Fernsehsendung über Astrologie 1958 damit entgegentrat, man müsse »den Irrsinn als solchen bezeichnen«, gar von einer »astrologischen Gefahr« sprach, richtet sich der vorliegende Sammelband im Gegensatz dazu fast ausschließlich gegen einen »orthodoxen Diskurs«.
Das erstaunt nicht, wenn man weiß, dass zwei der drei Herausgeber, Michael Schetsche und Andreas Anton, am IGPP zu Themen wie Esoterik, Okkultismus und Magie forschen. Anton ist zudem im Vorstand, Gerd Hövelmann im erweiterten Vorstand der Gesellschaft für Anomalistik. Auch der Ufo-Forscher Ingbert Jüdt ist dort aktiv. Pommrenke und Marcus Klöckner wiederum publizierten in der aktuellen Ausgabe des konspirologischen Magazins Hintergrund von Ronald Thoden.
Ziemlich genau das, was Adorno vor einem halben Jahrhundert der damaligen Wissenssoziologie und manchen Empiristen vorwarf – dass sie »noch dem Wahn gegenüber aufgeschlossen« seien und »sogar die pathischen Vorurteile gelassen verzeichnen« würden –, wird in »Konspiration« auf rund 350 Seiten mit wissenschaftlichem Jargon exerziert. Überflüssig zu erwähnen, dass eine Soziologie, die keine falschen Meinungen kennt, auch nicht den Drang verspürt, real über sie hinauszukommen.

Andreas Anton, Michael Schetsche und Michael Walter (Hrsgg.): Konspiration: Soziologie des Verschwörungsdenkens. Springer VS, München 2013, 347 Seiten, 34,99 Euro