Autoren aus der Schweiz

Für immer Frisch

Jede Schülergeneration leidet aufs Neue am hohen Anteil von Schweizer Autoren im Curriculum. Die gelten bei heimischen Pädagogen als die besseren Deutschen. Warum ihnen damit nicht nur Unrecht getan wird, erklärt Magnus Klaue.

Ein Mann, der von seinem Leben gelangweilt ist, kommt auf eine jener Schnapsideen, die phantasielose Kreative noch heute für subversiv halten: Er ändert die Bezeichnungen der Gegenstände seines Alltags, weil er glaubt, damit auch diesen selbst zu ändern. Fortan sagt er zu seinem Bett »Bild«, zu seinem Stuhl »Wecker«, zu seinem Tisch »Teppich«, zu seiner Zeitung »Bett«, zu seinem Spiegel »Stuhl« und so weiter: »Der Mann fand das lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen und der Morgen ein Mann.« Doch irgendwann können die Menschen ihn nicht mehr verstehen, so dass er traurig wird und in Schweigen verfällt – »eine lustige Geschichte« ist das, wie ihr Autor versichert, also ganz und gar nicht.
Tatsächlich ist die Geschichte, die viele aus der eigenen Schulzeit kennen dürften, weder lustig noch traurig, sondern einfach nur doof. Ihr Titel lautet anspielungsreich »Ein Tisch ist ein Tisch«, doch anders als Gertrude Stein (»Rose is a rose is a rose«) und René Magritte (»Ceci n’est pas une pipe«) verharrt ihr Autor Peter Bichsel sprach- und erkenntnistheoretisch auf der Malen-nach-Zahlen-Ebene. Nicht nur ändert, wer sein Bett »Bild« oder seinen Kopf »Tonne« nennt, weder am Bett noch am Kopf etwas Wesentliches – außer dass letzterer mit ödem Nonsense beschäftigt und von Wichtigerem abgehalten wird –, er ändert auch an der Sprache nichts, weil sie nach wie vor im Modus bloßer Bezeichnung verharrt. Welches Wort man auf welchen Gegenstand pappt, ist von keinem Belang, solange die Worte nur als Aufkleber und die Objekte nur als deren Träger in Betracht kommen. Zu dieser witzlosen Witzigkeit passt die Biederkeit, in der der Protagonist gefangen ist. Nicht nur die Objekte seines Alltags (Bett, Stuhl, Tisch) sind aller Individualität entleert, auch die neuen Worte, die er dafür findet (»Bild«, »Wecker«, »Teppich«), entstammen derselben banalen Welt, ja die banalen Bezeichnungen der banalen Gegenstände werden einfach nur ausgetauscht, so dass die Zeitung nun »Bett« und der Spiegel »Stuhl« heißt. Bichsels Held ist kein Phantast, der an der ei­genen Abseitigkeit zugrunde geht, sondern der Positivist von nebenan, der noch die von ihm selbst kreierte Blödsinnssprache fleißig »übt« wie eine neue Mathe-Formel – er ist sprach- und erfahrungslos, so austauschbar wie die Worte und Dinge seines Alltags.
Dennoch fungiert die 1969 erschienene Erzählung im Schulunterricht bis heute als philosophisches Lehrstück über das fragile Verhältnis zwischen Wort und Wirklichkeit, gleichsam als dekonstruktivistischer Gassenhauer beim Weg der Jugend in die künftige Halbbildung. Dass ihr Autor ein Schweizer ist, erscheint angesichts dessen nicht mehr als Zufall, denn wann immer im Deutschunterricht nach einem Beispiel für jene irgendwie moderne Literatur gesucht wird, mit deren authentischen Vertretern man die Zöglinge nicht konfrontieren mag, wird hierzulande ein Schweizer bemüht. Neben Bichsel, der Jahrgang 1935 ist und damit fast noch zur jungen Garde im hiesigen Curriculum gehört, haben sich Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt als Allzweckwaffen im Klassen-Kampf der mediokren gegen die wirkliche Moderne bewährt. Nur weil alle Schulen der Nation sie im XXL-Pack aufkaufen, werden zünftige Abgähner wie »Andorra« und »Die Physiker«, »Homo faber« und »Mein Name sei Gantenbein« überhaupt noch nachgedruckt.
Langweilig sind diese Bücher und Stücke nicht, weil sie konventionell, sondern weil sie konventionell modern sind. Sie haben die Verfahrensweisen der literarischen Moderne – Verfremdung, Collage, Absurdität, Episierung des Dramas, Zerfall der Erzählerinstanz – verinnerlicht, wie eben ein braver Schüler das jeweils anstehende Gedicht oder die jeweils abgefragte Formel kennt, um nicht vor der Klasse als Loser dazustehen. Wie die vermeintlich sprachkritische Reflexion sich bei Bichsel als schale Wiederholung von längst Bekanntem erweist, verstellen die kanonisierten Schulbücher von Frisch und Dürrenmatt im selben Moment die Erkenntnis, die sie scheinbar eröffnen. Musterbeispiel dafür ist Frischs 1961 uraufgeführtes, in den Schulen und Theatern noch heute als Analyse des Antisemitismus gehandeltes Drama »Andorra«, das Georg Kreisler mit prophetischer Schärfe schon 1963 in seiner Parodie »Sodom und Andorra« als pseudokritische Verharmlosung antisemitischen Ressentiments bloßgestellt hat. Gerade aber, weil es den Antisemitismus nicht analysiert, sondern rationalisiert, gilt es deutschen Pädagogen als Pflichtlektüre: Andri, Einwohner des fiktiven Staats Andorra, der eher die Schweiz als den realen Kleinstaat gleichen Namens meint, ist von seinem Vater unehelich mit einer Angehörigen des Nachbarvolks der »Schwarzen« gezeugt worden und wird als jüdischer Pflegesohn ausgegeben. Die Andorraner begegnen ihm mit Hass, so dass er, auch nachdem er seine wahre Herkunft erfahren hat, an seiner angeblich jüdischen Identität festhält. Schließlich wird er von den »Schwarzen«, dem selbst rassistischen Nachbarvolk, ermordet. Rückblickend rechtfertigen die Andorraner ihre Feigheit und ihr Wegschauen.
Frisch hat das Stück, das bei seiner Premiere vom Feuilleton unisono als meisterhaft gefeiert wurde – der Theaterkritiker Friedrich Luft pries schamlos die »Raserei der Zustimmung«, die dem Drama entgegenschlug – als Illustration der Maxime »Du sollst dir kein Bildnis machen« beschrieben. Ähnlich schlecht allgemein, vage allegorisch und diffus modern ist das Drama tatsächlich beschaffen. Seine von epischen Passagen und Rückblicken unterbrochene Form wird als verdinglichte Technik bei Brecht entlehnt; die Intention auf spontane selbstreflexive Erkenntnis, die Brechts Epischem Theater dem Anspruch nach innewohnt, verpufft jedoch, weil die am Ende gezogene Lehre dem demokratisch-antifaschistischen Konsens der frühen postfaschistischen Ära entspricht. Die Botschaft, dass man »Jude« nicht sei, sondern dazu gemacht werde, sich aber auch, in Wendung gegen den antisemitischen Wahn, zu dieser negativen Identität entscheiden könne, um gegen ihre Oktroyierung zu protestieren, ist der Abhub von Sartres Existentialismus. Indem das Stück aber Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Verachtung sozialer Außenseiter zu einem »Vorurteil« zusammenmanscht, bringt es den Antisemitismus als Phänomen zum Verschwinden: Nicht gegen das neidisch beäugte »Fremde« richtet dieser sich, sondern gegen die Erfahrung des Fremden im Eigenen, die die Grenze zwischen beidem als illusionär erweist; nicht dass man ihn als »anders« erkennen könne, sondern die Angst, dass dies nicht möglich sei, nicht die Sichtbarkeit, sondern die durch einen tendenziell endlosen Prozess der Identifizierung und Vernichtung aufzuhebende Unsichtbarkeit der »Juden« treibt die Antisemiten um.
Doch um den Antisemitismus als pädagogische, volksmehrheitlich abgesegnete Parabel auf die Bühne zu bringen, muss man ihn selber unsichtbar machen – und das gelingt Frisch, Kreisler hat es gesehen, gerade durch seine epigonale Adaption moderner dramatischer Formen. In ähnlicher Weise hat Frisch schon 1957 in »Homo faber« mit der Geschichte des Ingenieurs Walter Faber, der unabsichtlich eine inzestuöse Verbindung mit seiner ihm unbekannten Tochter eingeht, eine Blaupause für die so überraschungs- wie erkenntnislose ­pädagogische Beschäftigung mit dem instrumentellen, rationalen, männlich-westlich-logozentrischen Sozialcharakter geliefert, bei der nebenher, dank intertextueller Einarbeitung des Ödipus-Mythos, auch noch das übrige kulturelle Wissen der Eleven abgefragt werden kann. Und wie sich 1964 in »Mein Name sei Gantenbein« der beziehungsgeschädigte Erzähler wechselnde Identitäten »erfindet«, überführt »Homo faber« die in nicht radikaler, sondern lockerer Auflösung der epischen Form gespiegelte Identitätskrise des Protagonisten in eine Selbstfindungskur, die dafür sorgt, dass der Identitätszerfall das Lesepublikum nie überfordert. Auch die vermeintlich groteske Umkehrung, die in Dürrenmatts ebenfalls 1961 uraufgeführtem Stück »Die Physiker« aus Wissenschaftlern Geisteskranke und aus Unvernünftigen Vernünftige macht, provoziert keine Erkenntnis, sondern bringt im Gegenteil die Erkenntnis des realen Verschlungenseins von Vernunft und Wahn auf einen satirischen Automatismus herunter, der über die Einsicht hinwegtäuscht, der er dienen soll.
All diese Werke sind Beispiele einer moderaten, ihren ehemals lebendigen Impuls zum Schema verdinglichenden Moderne, für die auch ein Großteil des Œuvres der einzigen schulbuchtauglichen Österreicherin, Ingeborg Bachmann, steht, die nicht nur Frischs bedauernswerte Lebensabschnittspartnerin, sondern auch populäre Vertreterin des Ich-leide-also-bin-ich-Feminismus gewesen ist, indem sie, zuvorderst in ihrem »Todesarten«-Zyklus, die gesellschaftliche Unterdrückung von Frauen ebenso pathetisch wie munter mal mit dem Schicksal der Schwarzen, mal der Juden, mal der Psychiatriepatienten analogisierte. Indessen hat Bachmann zumindest in ihrem Roman »Malina« eine für die österreichische Literatur charakteristische Eleganz und Schärfe in der kritischen Reflexion von Sprache bewiesen, die sie, anders als ihre schlechtere Hälfte, für den Lehrplan wenig attraktiv macht. Der nämlich verlangt nach thematisch tauglichen und sprachlich möglichst öden Büchern.
Nicht die österreichische Literatur, die den Deutschen stets zu nuanciert oder zu derb, zu dekadent oder zu böse, zu direkt oder zu kryptisch war, und auch nicht die Bundesrepublik, die außer Arno Schmidt und Gottfried Benn jahrzehntelang statt Literaten eigentlich nur schreibende Pfaffen im Geiste Heinrich Bölls kannte, sondern nur die Schweiz scheint jene Mischung aus Mäßigkeit und Moderne hervorgebracht zu haben, die man den Schülern hierzulande als deutschsprachige Avantgarde einzureden vermag – als hätte die notorische Neutralität dieses Landes, seine Verbindung von Bodenständigkeit und Anarchismus, Klein- und Freigeisterei, auch auf seine Dichter abgefärbt, die in hiesigen Lehrplänen gleichsam als outgesourcte bessere Deutsche und Exempel einer ganz und gar heimischen und trotzdem irgendwie avancierteren Literatur figurieren. Dass auch das nicht die ganze Wahrheit ist, zeigt sich daran, was aus der Schweiz hierzulande beharrlich nicht gelesen wird: nicht Dürrenmatts Parteinahmen für Israel aus den siebziger Jahren, nicht Frischs kritische Einlassungen über die restaurativen Tendenzen der Gruppe 47; erst recht nicht die kompromisslos zarten, trügerisch harmlosen Zeilen des beglückendsten und traurigsten Schweizers aller Zeiten, Robert Walser, oder die von trostlos realistischer Phantastik grundierte Prosa von Franz Böni, einem Wahlverwandten des frühen Thomas Bernhard; alles Texte, an denen man, ohne die Formen und Techniken der literarischen Moderne auch nur zu kennen, erfahren könnte, was Literatur ist. Aber diesem Zweck hat der Deutschunterricht noch nie gedient.