Der Boykott durch die jüdischen Gemeinden war überfällig

Holocaust-Gedenken ohne Juden

Das Verhältnis zwischen der ungarischen Regierung und den jüdischen Gemeinden ist angespannt wie nie zuvor. Der Boykott des staatlichen Holocaust-Gedenkjahres ist eine überfällige Reaktion auf den virulenten Antisemitismus.

Die rechtsnationale Regierung Ungarns hatte 2014 zum Holocaust-Gedenkjahr ausgerufen und damit viele Kritiker überrascht. In Anbetracht ihrer Geschichtsklitterung scheiterte aber die Kooperation mit den jüdischen Gemeinden, die nun die Veranstaltungen boykottieren. Zunächst hatten nur einzelne Organisationen und Gemeinden ihren Rückzug aus dem Programm des Holocaust-Gedenkjahrs bekanntgegeben, dann folgte auch der Dachverband der jüdischen Gemeinden (Mazsihisz), der sich aus dem Organisationskomitee zurückzog und den zentralen Gedenkveranstaltungen fernbleiben will. Der Dachverband spricht im Hinblick auf die vergangenen Jahre von einer unverändert negativen Praxis der Erinnerungspolitik.
Ausgeblendet wird in ihr vollständig die Rolle des Reichverwesers Miklós Horthy als Verbündeter Nazi-Deutschlands, der auch nach der Besatzung im März 1944 im Amt verblieb. Ungarn war unter seiner Ägide das erste Land, das sogenannte Judengesetze einführte. Später wurden 100 000 jüdische Männer in Arbeitsbrigaden zwangsrekrutiert, 40 000 von ihnen starben. Vergessen wird auch gerne die Deportation von mindestens 18 000 Juden und deren Ermordung durch deutsche Soldaten beim Massaker im ­ukrainischen Kamenets-Podolski, das bereits Ende August 1941 stattfand.
All dies geschah noch vor dem Einzug der deutschen Truppen. Es war die ungarische Gendarmerie, die ab Mai 1944 unter Aufsicht Adolf Eichmanns die Deportation von 437 000 ungarischen Jüdinnen und Juden in nur 56 Tagen maßgeblich in die Tat umsetzte. »Sie wurde«, so schreibt das Jerusalemer Museum für den Holocaust, Yad Vashem, »durch die volle Kollabora­tion der ungarischen Behörden bis Juli 1944 ermöglicht.« Das alles wird von der ungarischen Regierung offensiv verdrängt. In Ungarn findet mit der Einweihung unzähliger Horthy-Denkmäler derzeit ein nationalistischer Geschichtsrevisionismus enormen Ausmaßes statt.

In Anbetracht dessen schien ein klares Signal von Seiten der jüdischen Gemeinden – wie es nun mit dem einstweiligen Boykott erfolgte – fast überfällig: Neben den Bedingungen, dass der Bau des umstrittenen Denkmals zur Erinnerung an die deutsche Besatzung abgebrochen wird, fordert die Mazsihisz, dass auch ein weiteres Projekt in seiner derzeitigen Konzeption eingestellt wird: das als »Haus der Schicksale« titulierte Holocaust-Gedenkzentrum. Es ist im ehemaligen Bahnhof des achten Budapester Bezirks als Erinnerungsort geplant, auch dabei ir­ritieren die Geschichtsauffassung und die thematische Schwerpunktsetzung. Die Regierung von Viktor Orbán hat den Bau des Besatzungsdenkmals inzwischen ausgesetzt und in einer Antwort an die Mazsihisz die weitere Debatte auf die Zeit nach den Anfang April anstehenden Wahlen vertagt.
Unterdessen war Ungarns Botschafter in Israel Mitte Februar ins israelische Außenministerium einbestellt und nach Medienberichten mit Kritik am gegenwärtigen ungarischen Revisionismus und Antisemitismus konfrontiert worden, der die Rolle des Landes im Zweiten Weltkrieg relativierend umdeute.

Neben diesen Vorkommnissen wirft auch die Debatte in den Medien kein gutes Licht auf die gegenwärtige Situation in Ungarn. Der erneut im Verdacht des Antisemitismus stehende Zsolt Bayer, ein Freund Orbáns und Mitbegründer des Fidesz, vertrat in der rechten Zeitung Magyar Hírlap die Ansicht, dass eine weitere Entschuldigung für die während des Holocausts verübten Verbrechen nicht nötig sei. Seit 1990 hätten die jeweiligen Regierungen und die christlichen Kirchen bei zahlreichen Gelegenheiten ihre institutionelle Verstrickung in den Holocaust anerkannt und sich dafür entschuldigt. Trotz allem hätten jüdische Organisationen gefordert, dass rechte Regierungen und ungarische Christen den Kopf neigten vor der eigenen Schande. Bayer war bereits mehrfach als rechter Hassprediger aufgefallen, etwa als er einem »Großteil der Zigeuner« absprach, Menschen zu sein. Die meisten von ihnen seien Tiere, die »nicht geeignet« seien, unter Menschen zu leben (Jungle World 12/2013).
Während Bayer nun einen historischen Schlussstrich ziehen will und die rechtsnationale Regierung eifrig Geschichtsklitterung betreibt, hielt die derzeit ansonsten verhältnismäßig moderat agierende Nazipartei Jobbik Mitte Februar im ungarischen Esztergom eine Wahlkampfveranstaltung in einer ehemaligen Synagoge ab. Im Mai 1944 war die jüdische Bevölkerung von Esztergom und Umgebung, über 500 Personen, verhaftet und wenig später in deutsche Vernichtungslager deportiert worden. Seitdem stand die Synagoge leer, seit 2006 wird das Gebäude als Kulturhaus genutzt. Der ungarische Rabbiner Báruch Oberlander kritisierte die Bürgermeisterin von Esztergom scharf dafür, die Versammlung nicht verhindert zu haben. Jobbik ist seit Jahren immer wieder durch antisemitische Provokationen aufgefallen, etwa 2012, als führende Politiker der Partei forderten, Listen der in Ungarn lebenden Juden, beziehungsweise von Juden mit israelischem Pass anzufertigen.
Einer Studie der Fundamental Right Agency zufolge hat fast die Hälfte der in Ungarn lebenden Juden bereits erwogen auszuwandern, weil sie sich nicht sicher fühlen. 30 Prozent gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten als Juden verbal oder körperlich attackiert worden zu sein.