Staatliches Gedenken und Geschichtsrevisionismus

Und der Turul fliegt weiter

Die ungarische Regierung versucht, die jüdischen Gemeinden für den Streit um das »Holocaust-Gedenkjahr« verantwortlich zu machen. Dabei wird die staatliche Gedenkpolitik von Geschichtsrevisionisten und mit nationalistischer Rhetorik vorangetrieben.

Nach dem Anschluss Österreichs flüchtete meine Familie im Sommer 1938 nach Ungarn. Für ein Jahr lernte ich in einem jüdischen Internat in Debrecen Ungarisch. Nach dem Ausbruch der Massenhysterie in der Ostmark schien Ungarn ein Land des Friedens zu sein. Auch wenn schon die ersten Juden diskriminierenden Gesetze beschlossen wurden, merkte ich als Internatsschüler nichts vom im Lande grassierenden Antisemitismus. Als ich jedoch Anfang September 1939 – der Weltkrieg war gerade ausgebrochen – auf dem Weg zum jüdischen Gymnasium in Budapest als »stinkender Jude« von den Schülern eines christlichen Gymnasiums beschimpft wurde, war ich als Elfjähriger jäh in der ungarischen Wirklichkeit gelandet.

40 Jahre später lernte ich in Budapest einige Mitglieder der demokratischen Opposition kennen und fing an, über die ungarische Gesellschaft kritisch zu berichten, was dazu führte, dass ich 1980 ausgewiesen und 1981 mit Einreiseverbot belegt wurde. Anfang 1983 erreichte das Wiener Außenamt – ich war damals Redakteur des offiziellen Organs der jüdischen Gemeinde –, dass ich wieder einreisen durfte, wenn ich über ein nicht umstrittenes Thema berichte. Ich schlug vor, über die Massenmedien und den 100. Jahrestag der Ritualmordbeschuldigung in Tiszaeszlár zu schreiben. Der Chef der Presseabteilung des Budapester Außenministeriums reagierte pikiert: »Herr Pfeifer, wir werden Ihnen nicht gestatten, den Antisemitismus aus Wien nach Ungarn zu importieren, wir haben dieses Problem ein für alle Mal 1945 gelöst.«
Tatsächlich gab es im Gegensatz zur DDR, zur CSSR und zu Polen in Ungarn nach 1956 keinerlei antisemitische Kampagnen und an der Oberfläche schien es so, als ob der virulente Antisemitismus, der noch nach der Befreiung zu blutigen Pogromen führte, eine Sache der Vergangenheit sei. Die Machthaber und die meisten jüdischen Ungarn glaubten, wenn man das Thema Antisemitismus nicht erwähne und das Wort »Jude« nicht ausspräche, würde das Phänomen von selbst verschwinden. Doch gerade das führte zu einem Wiederaufleben des Verdrängten nach der Wende.

Die von Viktor Orbán angeführte Partei Fidesz konnte seit dem Wahlsieg im Jahr 2010 mit positivem Bezug auf das halbfeudale, antisemitische und revisionistische Horthy-Regime bislang erfolgreich von ihrer Kleptokratie ablenken. Ein Beispiel: 2012 hielt Orbán in Südungarn eine Rede bei der Einweihung eines Turul-Denkmals, die Aufmerksamkeit erregte. Der Turul ist ein adlerartiger Vogel, der die Vorfahren der Magyaren aus Asien in das Karpatenbecken geführt haben soll. Orbán sagte bei der Einweihung der Skulptur, die den Turul mit einem Schwert in den Klauen auf einer zwölf Meter hohen Säule zeigt, das Urbild gehöre »zum Blut und zum Heimatboden« der Ungarn. Er würzte dies mit einem Schuss Revisionismus: »Dieses Denkmal will uns sagen, dass es nur ein einziges Vaterland gibt, und zwar jenes, welches dazu fähig ist, alle Ungarn diesseits und jenseits der Trianon-Grenzen in einer einzigen Gemeinschaft zu vereinigen.«
Liest man heute in der Györi Nemzeti Hirlap (GNH), der christlich-nationalen Tageszeitung, die zwischen 1936 und 1944 das Organ des Horthy-Regimes war, merkt man schnell, dass die meisten Elemente der Rhetorik Orbáns von der »nationalen Einheit« und der Landesgrenzen nicht achtenden »Volksgemeinschaft der Ungarn« sowie der »wir Ungarn – sie Juden«-Diskurs und der Bezug auf die »ungarische Rasse« aus jenen trüben Quellen stammen. Bereits vor Orbáns Rede hatte die Nazipartei Jobbik den Turul als Symbol gebraucht und illegal landauf, landab Turul-Denkmäler errichtet. Und so signalisiert der ungarische Ministerpräsident, dass er keine ideologische Trennlinie zu Jobbik zieht.
»Turul« hieß auch der antisemitische und antikommunistische Studentenverein während der Horthy-Periode, der forderte, das Numerus-Clausus-Gesetz von 1920 – mit dem die Zahl der jüdischen Studenten an ungarischen Universitätenbeschränkt wurde – in ein »Numerus-Nullus-Gesetz« umzuwandeln, und dies mit antijüdischen Krawallen und dem Herausprügeln von jüdischen Studenten erreichen wollte. Die GNH schilderte, wie der nationalsozialistische Politiker Ferenc Rajniss bereits Anfang 1937 für »Turul« über »die Judenfrage« Vorträge hielt und sich einen Staat »auf der Grundlage der Arbeit« wünschte. Das Blatt berichtete immer wieder von ungarischen Bürgern, die Juden aus dem »Reich«, die von den Behörden interniert wurden, nach Ungarn schmuggelten, sowie von der Verurteilung von Ungarn, die dabei erwischt wurden. Nicht nur die nach Ungarn flüchtenden Juden wurden in diesem »christlichen Blatt« verspottet, Anfang Januar 1942 etwa wurde ein großer Bericht über das Warschauer Ghetto veröffentlicht, in dem angeblich »45 000 Söhne Israels lernen zu arbeiten«, zu einer Zeit, als die ungarische Soldateska in der heutigen Vojvodina mordete und plünderte. Heute betont auch Orbán beharrlich, dass der ungarische Staat »auf Arbeit« beruhen müsse.

Am 22. Mai 2012 beantwortete Staatssekretär Bence Rétvári im Namen der Regierung eine Anfrage des Jobbik-Anführers Gábor Vona, der eine Rehabilitierung von Horthy wünschte. Rétvári trat für den guten Ruf des Reichverwesers ein und log, Horthy habe die Juden vor der deutschen Besatzung und vor Pogromen geschützt. Im Januar 1942 veranstalteten ungarisches Militär und Gendarmerie in und um Novi Sad einen Massenmord, dem insgesamt 3 808 Menschen zum Opfer fielen, darunter 1 068 Juden.
Im Jahr 2011 stand der 1914 geborene Sándor Képiró, ein ehemaliger Hauptmann der Gendarmerie, vor einem Budapester Gericht. Er wurde beschuldigt, 1942 an den Verbrechen in Novi Sad beteiligt gewesen zu sein. Beim Prozess sagte Sándor Szakály, ein Militärhistoriker und Bewunderer der königlichen Gendarmerie, als Experte der Verteidigung aus. Képiró wurde vom Budapester Gericht freigesprochen. Eben jener Experte, Sándor Szakály, wurde Ende 2013 der breiten Öffentlichkeit bekannt, als er zum Chef des neuen historischen Instituts »Veritas« ernannt wurde. Schon im Januar zeigte er, wes Geistes Kind er ist, und nannte den Beginn des ungarischen Holocausts eine »fremdenpolizeiliche Maßnahme«. Die Tatsache, dass der Fidesz-Günstling Szakály erneut Täter entlastete, führte Anfang des Jahres zu einem Sturm der Empörung unter seriösen Historikern. Die Dachorganisation der jüdischen Gemeinden, Mazsihisz, forderte von der Regierung Szakálys Ablösung.
Orbáns Politik, ein Holocaust-Gedenkjahr zu gestalten, ohne dies mit den jüdischen Gemeinden zu koordinieren, zeigt, dass es der ungarischen Regierung lediglich darum geht, im Ausland einen guten Eindruck zu erwecken. Mazsihisz fasste am 9. Februar den Beschluss, unter diesen Umständen nicht an den Veranstaltungen der Regierung teilzunehmen. Unter Druck gesetzt, richtete die Organisation schon am 10. Februar einen untertänigen Brief mit »konstruktiven Vorschlägen« an Orbán. Die Regierung setzte den Brief sofort auf ihre Homepage und ihre Propagandisten verbuchten das als einen Erfolg.
»Ich wundere mich noch immer, obwohl ich nicht seit gestern den Beruf ausübe, von wo sie den Mut nehmen, das zu sagen, ja zu erwarten, was wir denken sollten, wie wir uns zu erinnern haben, welche Ziele wir uns setzen sollen, was wir tun und nicht tun sollen«, sagte Orbán am 16. Februar, ohne Mazsihisz zu erwähnen. In seiner Antwort an den Dachverband behauptete er, seine Regierung tue alles in ihrer Macht stehende, um den Antisemitismus einzudämmen.
Staatssekretär János Lázár sagte bei einer Fidesz-Veranstaltung, das »Ultimatum der Mazsihisz« hätte »die Gesellschaft gespalten«. Er unterstellte damit, die jüdische Vertretung wäre verantwortlich, sollte das Gedenkjahr zum Flop für die Regierung werden. Mazsihisz bringe damit einen »negativen Effekt« in die »jahrhundertelange erfolgreiche ungarisch-jüdische Koexistenz im Karpatenbecken« ein.
Schon am nächsten Tag bestritt der Mazsihisz-Vorsitzende András Heisler, ein Ultimatum gestellt zu haben, und hob hervor, sollte die Regierung nicht den Bitten seiner und anderer jüdischen Organisationen entgegenkommen, würden die Juden den staatlichen Holocaust-Gedenkfeiern fern bleiben.