Der 20. Todestag von Kurt Cobain

Der missverstandene Antiheld

Am 5. April jährt sich Kurt Cobains Todestag zum 20. Mal. Die Popgeschichtsschreibung hat seine Biographie erfolgreich dem Kanon integriert.

Eigentlich ist die Geschichte des Grun­ge die Geschichte eines einzigen, immer größer werdenden Missverständnisses. Oder noch besser: von gleich zwei Missverständnissen, von denen sich nicht einmal genau sagen lässt, welches eigentlich das größere ist. Das eine der beiden liegt bereits im Begriff Grunge und darin, wofür er verwendet wird.
Spätestens nach dem Durchbruch von Kurt Cobains Band Nirvana mit ihrem Multi-Platin-Album »Nevermind« Anfang 1992 wurde Grunge zu einem Etikett. Bezeichnete der Begriff ursprünglich den klar umrissenen Sound einer Reihe von Bands aus der Gegend um Seattle, wurde »Grunge« nun auf so ziemlich alles geklebt, was auch nur halbwegs nach alternativer Rockmusik klang. Einige dieser Bands stammten wenigstens aus Seattle oder standen den Protagonisten nahe. Andere Bands wie Stone Temple Pilots aus San Diego oder Smashing Pumpkins aus Chicago hatten weder personell noch musikalisch irgendeine Verbindung zur Szene in und um Seattle. Von all den Creeds und Nickelbacks, die im Laufe der Jahre auf scheußliche Weise versucht haben, Pearl Jam zu kopieren, wollen wir lieber gar nicht reden.
Das zweite Missverständnis ist komplexer und geht weit über die zweifelhafte Verwendung eines Begriffs hinaus. Es hängt damit zusammen, dass Grunge und vor allem Nirvana überhaupt dermaßen erfolg- und einflussreich wurden. Im Grunde hatten Cobain und seine Kollegen Krist Novoselić (Bass) und Dave Grohl (Schlagzeug) fast alles richtig gemacht. Sie hatten sich offen gegen Sexismus und Homophobie ausgesprochen, Benefizkonzerte etwa für das Recht auf Abtreibung gespielt und immer wieder ihren Abscheu vor dem Mainstream geäußert. Dass der sie trotzdem binnen kürzester Zeit aufsog, Nirvana plötzlich massenhaft Hörer begeisterte, deren politische Überzeugungen mit denen der Band in keiner Weise in Einklang zu bringen waren, ist eines der größten Husarenstücke in der Geschichte der Popkultur. Falls es überhaupt etwas Vergleichbares gibt, dann vielleicht die antifeministische Umdeutung von Riot Grrrl in Girl Power, die in etwa zur gleichen Zeit stattfand.
Überhaupt waren Riot Grrrl und Grunge gar nicht so verschieden. Nicht nur lagen ihre Zen­tren Olympia und Seattle keine 100 Kilometer voneinander entfernt. Mit den Plattenlabels K-Records und Dischord teilten sich beide Szenen auch ihre Referenzen. Der Legende zufolge war es sogar Kathleen Hanna von Bikini Kill, das Aushängeschild des Riot Grrrl, die den Songtitel von Nirvanas Überhit »Smells Like Teen Spirit« beigesteuert haben soll. Zumindest Cobain und Nirvana standen der feministischen Szene im pazifischen Nordwesten sehr nahe. Kaum verwunderlich also, dass die vor ihrer Bühne aufgeführten Männlichkeitsrituale bei der Band auf Ablehnung stießen.
Auch zu Dischord und der politisierten Musikszene von Washington, D.C., hatten Nirvana durch Dave Grohl, der dort zuvor in der bekannten Band Scream gespielt hatte, eine direkte Verbindung. Noch wichtiger war allerdings, dass dessen frühere Band Mission Impossible zu denjenigen rund um Rites of Spring und Embrace gehörte, die im »Revolution Summer« 1985 dem Machismo der Hardcore-Szene eine Absage erteilt hatten und damit das in Gang setzten, was später Emocore oder schlicht Emo genannt wurde. Noch so ein Missverständnis, mal ganz nebenbei erwähnt.
Es gab jedoch auch andere Einflüsse bei Nirvana und im Grunge allgemein, die das Treiben in Seattle deutlich von dem in Olympia unterschieden. Diese Einflüsse liegen allerdings vorwiegend im musikalischen Bereich, bei Black Sabbath und dem Spätwerk von Black Flag. Die düstere Schwere beider Bands hinterließ unverkennbare Spuren im Klangbild dessen, was zumindest rund um das Jahr 1990 Grunge bedeutete. Aber auch der Einfluss von Dead Moon wird oft unterschätzt, wahrscheinlich weil die Bandmitglieder als entschiedene Verfechter des DIY-Gedankens für die Geschichtsschreibung der von den Anzeigen der großen Labels abhängigen Musikmagazine kein wirkliches Thema sein konnten.
Es wird noch immer viel darüber spekuliert, ob Cobain an all dem Ruhm und der medialen Aufmerksamkeit zerbrochen ist. Auch der Regisseur Gus Van Sant vertritt in seinem biographischen Film »Last Days« 2005 mehr oder weniger diese These. Sie ist ja auch naheliegend. Wenn jemand wie Cobain, der nach allem, was wir über ihn wissen, vor allem ein Nerd war, der sich für nur wenig so sehr interessierte wie für abseitige Musik, herausgerissen wird aus seinem Umfeld, in dem dieses Nerddasein verstanden wird, in dem die Menschen wissen, wer Daniel Johnston und Leadbelly sind, und nachvollziehen können, warum er mit seiner Band Songs der Indiepop-Bands The Pastels und The Vaselines covert – wenn ein solcher Kauz also plötzlich mit massivem Unverständnis konfrontiert wird, muss beinahe zwangsläufig eine Leere entstehen, die mit anderem, mit Alkohol etwa oder mit Heroin, gefüllt werden muss.
Gleichzeitig aber wird uns genau diese Geschichte seit 20 Jahren vorgesetzt – sie lässt sich nach wie vor gut verkaufen. Das Album »MTV Unplugged in New York«, das knapp sieben Monate nach Cobains Tod erschien und mit seinen Verbeugungen vor David Bowie, Meat Puppets und abermals The Vaselines musikalisch kaum etwas für das durchschnittliche Rockpublikum war, schoss sofort an die Spitze der Charts und verkaufte alleine in den USA fast zwei Millionen Einheiten mehr als Nirvanas letztes Studioalbum »In Utero«. Selbst das vollkommen überflüssige Live-Album »From the Muddy Banks of Wishkah«, das pünktlich zum Weihnachtsgeschäft 1996 erschien, verkaufte sich noch über eine Million Mal und wurde mit einer Platin-Schallplatte ausgezeichnet.
Auch abseits von Tonträgern eignet sich die Marke Nirvana noch immer gut zum Geldverdienen. T-Shirts mit dem allseits bekannten Smiley-Motiv wird es wohl auch in 20 Jahren noch in jedem einschlägigen Versandhandel geben, die Band und ihre Musik tauchen auf so gut wie jeder Liste der wichtigsten Platten, Songs oder wasauchimmer auf und im Videospiel »Guitar Hero 5« steht Cobain sogar als spielbarer Charakter zur Wahl. Wäre all das auch geschehen, wenn Cobain sich nicht vor zwei Jahrzehnten mit einer Schrotflinte den Kopf weggeschossen hätte? Der Hype um Grunge war ja eigentlich schon vorbei damals im April 1994, und »In Utero« verkaufte sich nicht einmal halb so gut wie der Vorgänger »Nevermind«. Vielleicht war es wirklich besser, auszubrennen, als zu verblassen, wie Cobain in seinem Abschiedsbrief, Neil Young zitierend, schrieb.
Ökonomisch und aus der Perspektive von Cobains Ehefrau Courtney Love betrachtet stimmt es in jedem Fall. Die wird sicher auch wieder den einen oder anderen Dollar mehr auf ihrem Konto haben, falls tatsächlich irgendwann in diesem Jahr Brett Morgans Dokumentation über das Leben ihres ehemaligen Gatten erscheint. Viel Erhellendes ist dabei nicht zu erwarten. Eher die immer gleichen Mythen und Missverständnisse. Die Popkultur braucht ihre Helden, selbst wenn es nur Antihelden sind. Und Cobains Scheitern an der Welt und sich selbst ist zumindest in der medial aufbereiteten Form, die wir kennen, von derart epischen Ausmaßen, dass er wohl noch auf Jahre hinweg als Archetyp des Antihelden fungieren wird. Cobain selbst mag ausgebrannt sein, aber er eignet sich offenbar noch immer hervorragend als Material für das eine oder andere Strohfeuer.