Die Talking Heads im Kino: 30 Jahre »Stop Making Sense«

Anzugträger, die zu Psycho­killern werden

Als »Stop Making Sense« im April 1984 in die Kinos kam, hielt es die Zuschauer nicht auf den Sitzen. Der Film markierte den künstlerischen Höhepunkt der Talking Heads. Ihre Inszenierung von Avantgarde-Pop ist auch 30 Jahre später noch mitreißend.

Etwas stimmt hier nicht während der ersten Minuten des Konzerts. Der hellgraue Anzug des alterslos wirkenden Mannes, der nervös auf die Bühne geschlichen kommt, sitzt zu leger. Vermutlich ist er einfach zu hager für gängige Konfektionsgrößen. Oder der Schnitt entspricht der damaligen Mode, schließlich schreiben wir das Jahr 1984. Nein, es ist etwas anderes, das irritiert: Was soll das für ein Rockkonzert sein, bei dem der Sänger aussieht wie sein eigener Steuerberater? Und was hat der große Kassettenrekorder in seiner Hand zu suchen? Er drückt die Play-Taste, ein Beat setzt ein. Die Gitarre wird angeschlagen, er singt dazu. Schwer zu sagen, wie oft er es zuvor getan hat. Der Beat stottert und treibt den Musiker in eckigen, spastisch anmutenden Bewegungen über eine viel zu hell erleuchtete Bühne. Seine Augen sind aufgerissen, starren ins Leere. Das bleiche Gesicht ähnelt einer Maske.
David Byrne ist damals 31 Jahre alt. In den ersten Minuten des Konzerts könnte man ihn genauso für Mitte 50 halten. Rebellion, Jugendlichkeit und die Lust am Leben sind hier ebenso wenig zu spüren wie bei Auftritten der Band Devo, deren Mitglieder in Arbeitskleidung auf die Bühne stiegen. Auf der Bühne stand ein Durchschnittsbürger, ein Steuerberater, dem auf seinem Heimweg aus der Kanzlei plötzlich einfällt, dass er ja doch noch jemanden umbringen könnte. Ein American Psycho, oder eben, gemäß dem Titel des Eröffnungssongs, ein »Psycho Killer«. »I’m tense and nervous and I can’t relax« singt der Normalo und fügt hinzu: »I hate people when they are not polite«. Im weiteren Verlauf des Konzerts wird er sich als »ordinary guy« bezeichnen, zu dessen Durchschnittlichkeit auch zählt, Häuser niederzubrennen. Byrne wollte keinen weiteren Rockstar inszenieren. Ihm ging es um die Parodie des Jedermann – der Kerl auf der Bühne war so austauschbar wie sein Anzug.
Als »Stop Making Sense« im Dezember 1983 an vier Abenden im Pantages Theater in Hollywood aufgezeichnet wurde, hatten Talking Heads den Zenit ihrer steilen Karriere bereits erreicht. David Byrne, ein College-Dropout, war längst zu einem festen Bestandteil der New Yorker Kunstszene zwischen Jim Jarmusch, Robert Wilson und Laurie Anderson geworden. Er war prominent und galt als intellektuell. Dass sein Gesangstil nicht im herkömmlichen Sinne als virtuos bezeichnet werden konnte, fügte sich nur in die konzeptuelle Arbeitsweise der Band. Byrne auf die Frage, wie er als mittelmäßiger Sänger zurechtkomme: »Je besser die Stimme eines Sängers, desto unglaubwürdiger seine Aussage. Ich profitiere von meinen Schwächen.« Die Antwort gab er sich übrigens selbst in einem kurzen Film, »David Byrne interviewt sich selbst«. Neben der Musik standen Fragen der Inszenierung von Anfang an im Mittelpunkt von Talking Heads.
Angefangen hatte es 1975, auf typische New-Wave-, oder besser: No-Wave-Manier, wir befinden uns ja in New York. Kunststudenten gründeten eine Band, die Kunst und Musik nicht voneinander trennen will. Rechtzeitig zu ihrem ersten Konzert im legendären The Kitchen nannten sich ihre Mitglieder »eine Gruppe von Performance-Künstlern, deren Medium Rock’n’ Roll, die entsprechende Organisation als Band und deren visuelle Präsentation ist. Musik und Texte sind innerhalb der kommerziellen Zugänglichkeit des Rock-’n’-Roll-Sounds und zeitgemäßer Sprache angelegt. Sänger Byrne ist auf Chris Frantz und Tina Weymouth angewiesen, um der antiindividuellen Haltung der Band gerecht zu werden.« Nüchterner ließ sich nicht ausdrücken, dass der Musikzirkus mit seinen Mythen selbst zum Gegenstand der Kritik wurde.
Talking Heads standen in ihren Anfangstagen in Alltagsklamotten auf der Bühne. Als hätten sie geahnt, dass Malcom McLarens Anti-Ästhetik, die sich wenige Monate zuvor in Form der Sex Pistols materialisiert hatte, rasch der Kommerzialisierung anheimfallen würde. Während einige Bands also rebellierten, andere sich auf die Suche nach dem wahren Rock machten, schloss David Byrne sich weg. Mit Ideen von Sol LeWitt und Büchern von Norbert Wiener. Dass er früher oder später auf Brian Eno treffen sollte, verwundert nicht.
Eno, der Erfinder der ambient music, war an Rock – den großen Gesten, Emotionen und Frontsäuen – nicht interessiert. Der Verzicht auf eine klar fokussierte Soundästhetik schlug sich auch in seiner Zusammenarbeit mit Talking Heads nieder. Eno und Byrne arbeiteten mit found vocals, mit Material aus dem US-amerikanischen Radio, Aufnahmen libanesischer und arabischer Sänger. Byrne wurde auf diesem Wege, ganz im Sinne der Abkehr vom Rock, als emotionale Identifikationsfigur demontiert. Die konzeptuelle Zusammenarbeit zwischen Eno und Talking Heads gipfelte in dem Album »Remain in Light«, das 1982 veröffentlicht wurde und westliche Popgeschichte genauso wie Einflüsse afrikanischer Musik verarbeitete – was der Band später einige Kritik einbringen sollte.
Der Öffentlichkeit gegenüber machten Talking Heads aus ihrem intellektuellen Anspruch keinen Hehl. Wer ein Interview führen wollte, hatte sich vorzubereiten. Eno und Byrne hatten eine Bibliographie zusammengestellt, die den interessierten Journalisten zugänglich gemacht wurde. Die Buchempfehlungen hatten mit Popmusik natürlich nichts zu tun, das wäre zu einfach gewesen. Es waren Bücher von Musikwissenschaftlern über die Bedeutung von Musik in afrikanischen Kulturen, Werke von Architekten und Kunsthistorikern, die den Vertretern der Presse dabei behilflich sein sollten, ihre Interviews mit relevanten Themen anzureichern.
So mancher Konzertbesucher dürfte sich über die zur Schau gestellte Körperlichkeit der vorgeblichen Bücherwürmer gewundert haben. Auch oder vor allem die, die während der Dreharbeiten von »Stop Making Sense« nicht dabei gewesen sind. Es ist wahr, der Film dokumentiert die Euphorie und Spielfreude der Band auf großartige Weise – dass es die Zuschauer im Kinosaal häufig nicht auf den Sitzen hielt, ist nachvollziehbar. Talking Heads zeigen sich auf der Bühne, als hätten sie ihre Karriere lang auf diese Show hingearbeitet, die Choreographie und Improvisation, konzeptionelle Strenge und Ausgelassenheit miteinander verband.
Byrne hatte 1983 schon mit Robert Wilson zusammengearbeitet und war auf die Idee gekommen, einige Methoden des experimentellen Theaters zu übernehmen und jeden Song als kleines Schauspiel zu inszenieren. Ein Budget von 1,2 Millionen Dollar stand zur Verfügung. JoAnne Akalaitis, eine Vertreterin des New Yorker Avantgarde-Theaters Mabou Mines, wurde zu den Proben eingeladen und um ihre Einschätzung gebeten. Jonathan Demme, der viel später mit »Das Schweigen der Lämmer« internationale Anerkennung erfahren sollte, wurde als Regisseur engagiert.
Die Idee des Films war einfach und spiegelte Byrnes Interesse für mediale Repräsentationen der Realität wider: »Stop Making Sense« sollte der Film werden, der als Konzert funktioniert – und umgekehrt. Auf Ablenkungen und dramaturgische Effekte wurde weitestgehend verzichtet: keine Interviews mit Musikern und Roadies, keine Kameraschwenks über das tanzende Publikum. Die Bühne ist entsprechend spärlich eingerichtet, so dass noch die kleinste Veränderung bedeutungsvoll erscheint. Aus heutiger Sicht kann der Einsatz der minimalen Mittel als spöttischer Kommentar zu Megainszenierungen gesehen werden: Lady Gaga wechselt Garderobe und Kulisse zigmal pro Konzert? David Byrne setzt eine Brille auf. Das Feuilleton muss in beiden Fällen den Bleistift spitzen.
Byrne zufolge erzählt der Film von einem Mann, »der sich von seinen Dämonen befreit und schließlich Heilung in seinem Big Suit erfährt. In diesem Haus in Form eines Business-Anzugs kann er aus sich herausgehen.« Der Big Suit dürfte inzwischen in etwa so berühmt sein wie Madonnas kegelförmiges Gaultier-Oberteil. Aber wieso musste es ein Anzug sein, der seinem Träger so groteske Proportionen verlieh? Byrne wollte möglichst zweidimensional erscheinen, buchstäblich verflacht. »Mein Kopf sollte kleiner werden, dazu musste sich mein Körper vergrößern. Denn Musik ist etwas sehr Körperliches, sie erreicht den Körper oft vor dem Kopf«, sagte Byrne, wieder zu sich selbst. Eine Antwort, deren kokette Schlichtheit man nach Jahrzehnten Pop-Diskurs erst einmal verdauen muss. Ob sich die Musiker im Laufe des Films als Figuren entwickeln, wie ursprünglich beabsichtigt, sei dahingestellt. »Stop Making Sense« gewann 1984 als beste Dokumentation den Preis der America National Society of Film Critics, für den Rolling Stone wurde er »der beste Konzertfilm aller Zeiten«.
In puncto Konzerten schienen Talking Heads mit »Stop Making Sense« alles gesagt zu haben. Schon bald entschied sich die Band, keine weiteren Auftritte zu spielen. Ein Angebot über 15 Millionen Dollar für eine Tour schlug Byrne aus. Er wollte sich lieber mit seiner ­Solokarriere beschäftigen, die bis heute andauert. Die Band löste sich daraufhin auf.
Im Unterschied zu vielen anderen leben die Talking Heads heute nicht in der x-ten Reinkarnation fort. Was ihre Außergewöhnlichkeit unterstreichen mag, aber auch dazu führt, dass sich mittlerweile eine Staubschicht über die Band gelegt hat. Wenn nicht jemand wie der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Lethem ein Buch über Talking Heads schreibt oder David Byrne Abhandlungen über Musik und Artikel im Guardian veröffentlicht, wird kaum mehr an die Band, ihre Lebendigkeit und ihren Ideenreichtum erinnert. Angesichts der Gedanken- und Konzeptlosigkeit der meisten Live-Performances heutzutage eine echte Tragödie.

Stop Making Sense. Regie: Jonathan Demme. Zuerst im April 1984 in den USA angelaufen, ist der Film nun auf Blue-Ray in Deutschland erhältlich.