Die Wahlen in Ungarn

Viktor Orbáns Freiheitskampf

Bei den ungarischen Parlamentswahlen am Sonntag gewann die rechtskonservative Regierungspartei Fidesz erneut mit deutlichem Abstand, trotz ihrer katastrophalen Wirtschaftsbilanz und ihres fragwürdigen Demokratieverständnisses.

Kurz nach 21 Uhr am Sonntagabend standen viele Ungarinnen und Ungarn, vor allem in Budapest und in anderen Großstädten, noch immer Schlange vor den Wahllokalen. Doch in der Zentrale der rechtskonservativen Regierungspartei Fidesz war die Freude bereits groß. »Die Zukunft gehört den starken Nationen und wir haben in den letzten Jahren immer wieder und auch heute Abend gezeigt, dass Ungarn dazu gehört«, ruft Ministerpräsident Viktor Orbán ins Mikrophon. Tausende Anhänger applaudieren, rufen immer wieder »Viktor«, die ungarische Nationalhymne ertönt von der Bühne, die ganze Versammlung singt mit.
Die Parlamentswahlen am Sonntag brachten Fidesz wahrscheinlich eine Zweidrittelmehrheit der Sitze in der ungarischen Nationalversammlung, ähnlich wie vor vier Jahren. Das linksliberale Oppositionsbündnis »Regierungswechsel« bereitete seine Anhänger auf eine Niederlage vor. »Alles deutet darauf hin, dass es besser als letztes Mal sein wird. Für einen Regierungswechsel wird es trotzdem nicht reichen«, sagte der Oppositionsvertreter und frühere Ministerpräsident Gordon Bajnai, nachdem klar geworden war, dass sein Lager nur 26 Prozent der Stimmen bekommen hat. »Diese Wahl kann nicht als fair bezeichnet werden«, fügte er hinzu. Die Parlamentsmehrheit von Fidesz hat nämlich eine Reform des Wahlrechts durchgesetzt, die einen Sieg der Opposition deutlich erschwert. So wurden die Wahlbezirke neu eingeteilt, die Bedingungen für die Veröffentlichung von Wahlwerbung restriktiver gestaltet und die Regeln der Sitzverteilung im Parlament so geändert, dass große Parteien wie Fidesz einen noch größeren Vorteil genießen als zuvor. Dies erklärt, warum die Regierungspartei mit 45 Prozent der Stimmen fast 67 Prozent der Sitze gewinnen konnte.
Zusätzlich hat die Regierung Orbáns in den vergangenen vier Jahren rund 200 000 ethnischen Ungarn aus Nachbarländern wie Rumänien, Serbien, der Slowakei und der Ukraine die ungarische Staatsangehörigkeit und damit auch das Wahlrecht verliehen. Diese stimmten Umfragen zufolge überwiegend für Fidesz. Dagegen wurde die Wahlbeteiligung ausgewanderter Ungarn, die meist die linksliberale Opposition unterstützen, erschwert. So blieb ihnen etwa das Recht auf Briefwahl verwehrt.

Auf dem dritten Platz landete die rechtsextreme Partei Jobbik, die mit ihrer autoritären, rassistischen, antisemitischen und homophoben Rhetorik offenbar eine große und treue Stammwählerschaft für sich gewonnen hat. Mit 20 Prozent der Stimmen bekommt Jobbik rund zwölf Prozent der Parlamentssitze und erreicht damit ein leicht besseres Ergebnis als noch vor vier Jahren, als sie mit 16,67 Prozent zum ersten Mal ins Parlament einzog. »Das Ergebnis zeigt, dass Jobbik kein Zufall in der ungarischen Politik, keine Erscheinung einer einmaligen schlechten Laune bei den Wählern ist. Die Dauerpopularität des Rechtsextremismus deutet vielmehr darauf hin, dass ein wichtiger Teil der Gesellschaft ein Gefühl der Ungerechtigkeit spürt«, glaubt der Budapester Soziologe János Ladányi.
Der grünen Partei LMP gelang es, mit sechs Prozent der Stimmen als viertstärkste Kraft erneut ins Parlament einzuziehen. Im Wahlkampf hatte sie ihre Unabhängigkeit von den beiden großen politischen Lagern betont und sich geweigert, sich dem Linksbündnis zu schließen. Die Wahlbetei­ligung lag mit rund 58 Prozent unter der von 2010 (64 Prozent). Studien zufolge war es vor allem das linksliberale Oppositionsbündnis, das seine traditionelle Wählerschaft weniger mobilisieren konnte als zuvor. Grund dafür könnten die Steuerhinterziehungs- und Korruptionsskandale sein, die das linke Lager in den vergangenen Wochen plagten. Zwar gilt die Clique rund um Orbán der überwiegenden Mehrheit der ungarischen und internationalen Beobachter keinesfalls als anständiger denn ihr Gegner. In Felcsút, dem Heimatdorf des Ministerpräsidenten, sind dessen Frau Anikó Lévai, dessen Vater Gyözö Orbán und mehrere Familienfreunde zu Großgrundbesitzern geworden, die ihre Geschäfte gerne auch aus EU-Geldern finanzieren. Doch die meisten Medien berichten selten oder nie über die Affären der Fidesz-Kammarille.
Auch die wirtschaftliche Bilanz der vergangenen vier Jahre fällt katastrophal aus. Zwar steckte das Land bereits seit 2006 in einer tiefen Krise. Aber die Einführung einer flat tax von 16 Prozent auf alle Einkommen führte nicht, wie von Orbán versprochen, zu Wachstum, sondern benachteiligte die vielen Geringverdiener, deren Steuerbelastung früher geringer war. Die hohe Verschuldung der ungarischen Haushalte infolge der 2009 geplatzten Immobilienblase bleibt ein großes Problem, das die Regierung erst nach der Wahl anpacken will. Der von westeuropäischen Instituten dominierte Bankensektor hatte jahrelang Hypothekenkredite in Euro oder Schweizer Franken vergeben, ohne die Bonität der Kunden ernsthaft zu prüfen. Wegen des Kursverfalls des Forint schoss dann die Zahl der Insolvenzen in die Höhe, während der Immobilienmarkt kollabierte und die Banken auf Wohnungen und Häusern sitzenblieben, die mittlerweile weniger wert sind als die Kredite.

Orbáns wichtigstes Wahlkampfthema, der »Freiheitskampf der ungarischen Nation«, schließt zwar den »Kampf gegen die Multis und Banken« samt seinen antisemitischen Implikationen ein. Doch die Einführung einer Sondersteuer für Banken, die bisher einzige konkrete Maßnahme, hat das Problem nur komplizierter gemacht. Auch bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit war Fidesz nur formell erfolgreich: Rund 200 000 Menschen verschwanden aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik, weil sie in ein umstrittenes staatliches Beschäftigungsprogramm gemeinschaftlicher Arbeit gezwungen wurden und dadurch nicht mehr als Langzeitarbeitslose gelten. Das Programm wurde von vielen Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften heftig kritisiert, weil die Regierung den Teilnehmern nicht einmal den Mindestlohn (rund 320 Euro) zahlt, den »Arbeitsunwilligen« aber mit der Streichung sämtlicher Sozialleistungen droht.
Dennoch bleibt Orbán bei der angeschlagenen Mittelschicht populär, nicht zuletzt weil er mit einem weiteren Lieblingsthema, dem »Kampf um die Nebenkosten«, Erfolg hat. Die Kosten für die Strom-, Wasser- und Gasversorgung, die die meisten ungarischen Haushalte schwer belasten, wurden nämlich per Gesetz bereits um 20 Prozent gesenkt. Weitere »Befreiungsschläge« und sogar die Verstaatlichung der privaten Versorger sind im Gespräch und werden wahrscheinlich nach den Wahlen zumindest teilweise verwirklicht. Laura Szajter findet das gut. Die Ungarischlehrerin aus Budapest ist deshalb auch mehrmals auf die Fidesz-Wahlveranstaltungen gegangen. »Die Linksliberalen und die Multis haben dieses Land in den Ruin getrieben«, sagt sie. »Aber wenn wir einig sind, können wir uns durchsetzen, unsere Interessen verteidigen und unseren eigenen ungarischen Weg gehen. Und nicht den, den uns die Weltfinanz aufzwingt.«
Zwar distanziert sich Orbán offiziell vom Antisemitismus, doch sieht er die »moralische und kulturelle Reform« der ungarischen Gesellschaft als eine der zentralen Aufgaben seiner Regierung. In der Praxis orientierte sich die Kultur- und Sozialpolitik der vergangenen vier Jahre am Leitbild harmonischer, christlicher, kleinbürgerlicher Familien, die für ihr eigenes Wohl und ihr Vaterland arbeiten. Diese Vorstellung, zusammen mit einem Grundmisstrauen gegenüber Vielfalt und Kosmopolitismus, bestimmte die Personalpolitik in staatlichen Kultureinrichtungen wie den meisten Theatern, Museen und Universitäten. Zudem bemühen sich die Fidesz-Vertreter, ihre Version der ungarischen Geschichte als allgemeingültig zu etablieren.