Gedenken an den Genozid an den Armeniern in der Türkei

Beiläufiges Beileid

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğany hat sein Bedauern über das Leid der Armenier im Ersten Weltkrieg geäußert. Den Überlebenden reicht das nicht. Denn die Gewalt reicht bis in die Gegenwart.

Ani Balıkçı laufen die Tränen über das Gesicht, als sie den Trauergästen die Hand drückt. Es herrscht dichtes Gedränge auf dem armenischen Friedhof in Istanbul am Grab ihres Sohnes. Obwohl der 25jährige Sevag Şahin Balıkçı am 24. April 2011, also bereits vor drei Jahren, gestorben ist, ist die Trauergemeind noch immer sichtlich bewegt.
Der armenische Rekrut Sevag Şahın Balıkçı, der einen türkischen Pass besaß, war zur Ableistung des Militärdienstes in das ostanatolische Batman geschickt worden. 23 Tage vor seiner Entlassung aus dem Militärdienst wurde er von einem Kameraden erschossen. Es war der 24. April, an dem die Armenier des Genozids von 1915 gedenken. Die Tötung sei ein Versehen gewesen, behaupteten die Kommandanten gegenüber der Familie. Die beiden jungen Männer hätten herumgealbert, sich über den Jahrestag lustig gemacht und dann habe sich ein Schuss gelöst. Ein Unfall, sahen die trauernden Eltern ein.
Sevags Verlobte dagegen zweifelte an der offiziellen Darstellung. Zu oft hatte sie den jungen Rekruten am Telefon über das Mobbing seiner Kameraden klagen hören. Nachforschungen ergaben schließlich, dass der Rekrut, der geschossen hatte, ein bekennender Ultranationist mit Symphatien für die türkische Kontraguerilla ist. Mörder wie Abdullah Çatlı, der als Ultranationalist vom türkischen Staat in den Achtzigern beauftragt wurde, in Europa Jagd auf Mitglieder der armenischen Untergrundorganisation Asala zu machen, gehören zu den Vorbildern von Kıvanç Ağaoğlu. Wenig glaubhaft erschien, dass der armenische Rekrut ausgerechnet mit diesem Mann Witze über das Trauma des Genozids gerissen haben soll. Ani Balıkçı, die Mutter des Opfers, engagierte sich deshalb zusammen mit Rakel Dink, der Witwe des 2007 von einem ultranationalistischjen Jugendlichen in Istanbul auf offener Strasse erschossenen armenischen Journalisten Hrant Dink, in einer Gruppe, die Gerechtigkeit für Sevag Şahın Balıkçı forderte. Im vergangenen Jahr wurde der Mörder ihres Sohnes zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
Der ehemalige armenische Außenminister Raffi Hovannissian ist zum 99. Jahrestag des Genozids zu einer Trauerfeier nach Istanbul gekommen. Er zeigte sich wenig beeindruckt von der Rede des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die von türkischen Medien als »historisch« bejubelt wurde. Erdoğan hatte das den Armeniern zugefügte Leid bedauert und zur gemeinsamen Trauer aufgerufen. Allerdings nannte Erdoğan die armenischen Christen lediglich als eine unter vielen Opfergruppen. Es lasse sich nicht abstreiten, so Erdoğan, dass die »letzten Jahre des Osmanischen Reiches« für die Bevölkerung, »gleich welcher Religion oder ethnischen Herkunft sie angehörten, für Türken, Kurden, Araber, Armenier und Millionen weiterer osmanischer Bürger eine schwierige Zeit voller Schmerz waren«. »Das ist die typische revisionistische Haltung der Türkei«, befand Raffi Hovannissian gegenüber der Jungle World. »Die eigenen Verluste werden dramatisiert, die Opfer zu Mittätern an angeblichen Greueln gegen die muslimische Bevölkerung gemacht. Dann wird stets angeboten, irgendwelche Archive in der Türkei zu öffnen, die allerdings genauso manipuliert wurden wie die Geschichtsschreibung der Türkei.« Für Hovannissian ist die Debatte längst keine historische mehr, sondern eine politische. »Das ist so wie die Debatte über den Holocaust. Die Realität der Völkermorde ist längst Teil der Weltgeschichte und hinreichend mit Dokumenten aus amerikanischen, britischen und deutschen Archiven belegt. Es kann jetzt nur noch darum gehen, über die politischen Konsequenzen zu verhandeln.«
Raffi Hovannissian ist der Enkel von Überlebenden des Genozids. Sein Vater Richard wurde 1932 in Kalifornien geboren. Sein Großvater Gaspar Gavroian kam 1901 in dem ostanatolischen Dorf Bazmashen (heute Saricabük in der Provinz Elazığ in der Türkei) zur Welt. Seine Großmutter Siroon Nalbandian ist ebenfalls Überlebende. Eine türkische Familie hatte ihre armenischen Nachbarn versteckt. Als junge Erwachsene wanderte das Paar 1920 in die Vereinigten Staaten aus. Richard Hovanissian wurde Historiker und Experte für die Geschichte Armeniens und des Mittleren Ostens. Nach der Gründung der Republik Armenien wanderte der damals 31jährige Raffi Hovannissian aus. Er wurde 1992 der erster Außenminister Armeniens und ist Parteiführer der »Partei des Erbes«. Er gilt als harter Verhandlungspartner in der Frage nach Entschädigung. »Natürlich erwarten wir Entschädigungen«, sagt er und blickt demonstrativ auf das Denkmal des 1915 ermordeten Dichters Daniel Varoujan. Der Schriftsteller wurde zusammen mit 200 armenischen Intellektuellen am 24. April 1915 im damaligen Konstantinopel verhaftet. Auf dem Weg in das Gefangenenlager Çankırı wurde der damals 31jährige zusammen mit vier Mitgefangenen bestialisch ermordet. Ein Augenzeuge berichtete später, dass osmanische Offiziere fünf Polizisten aufgefordert hätten, die Männer in den Wald zu bringen. Dort mussten sie sich ausziehen, wurden an Bäume gefesselt und mit Messern zu Tode gequält.
Es sind diese Taten, die in der offiziellen Geschichtsschreibung der Türkei weiterhin geleugnet werden. Die Armenier werden als Kollaborateure der Feinde des Osmanischen Reiches diffamiert, ihre Ermordung und Verschleppung wird als Reaktion auf vorausgegangene armenische Massaker an Muslimen verharmlost. Tatsächlich waren die Armenier die Opfer eines aufkeimenden irrationalen Hasses im niedergehenden Osmanischen Reich. Bis zum 19. Jahrhundert bildeten sie im multiethnischen Gesellschaftsgefüge eine Volksgruppe unter vielen. Sie stellten als christliche Minderheit zwar Untertanen zweiter Klasse dar, waren aber keiner besonderen Verfolgung ausgesetzt. Dies änderte sich jedoch unter dem Eindruck der Modernisierung und des aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert. Der anti­osmanische Nationalismus auf dem Balkan, das Wegbrechen des Großteils der europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches und der koloniale Zugriff europäischer Mächte auf das osmanische Territorium drängten die Armenier plötzlich in die Rolle von Kollaborateuren.
Zudem hatten es einige Armenier durch ihre Handelsbeziehungen zu Europa oder in Berufen wie Bankier und Architekt zu Wohlstand gebracht. Die Stereotype, mit denen Armenier im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts belegt wurden, ähnelten jenen, die in Europa über die jüdische Bevölkerung verbreitet waren. Da sich viele armenische Intellektuelle, die zwar wohlhabende Bürger, aber rechtlich Staatbürger zweiter Klasse waren, für eine Modernisierung des Staates und die Gleichheit all seiner Bürger einsetzten, galten sie aus Sicht der konservativen osmanischen Führung als mit dem Virus des Liberalismus infiziert. Als Antwort auf die politische Marginalisierung bildeten sich in der armenischen Bevölkerung sozialrevolutionäre und kommunistische Gruppen wie die Hintschaq-Bewegung. Diese wurden als Agenten des Sozialismus angesehen.
Die türkische Kriegsbegeisterung des seit 1908 an der Macht befindlichen nationalistischen »Komitees für Einheit und Fortschritt« der Jungtürken machte den Weg zu einer genozidalen »Lösung« der »armenischen Frage« frei. Mit der Begründung, die Einheit des Reiches sei durch die armenische Nationalbewegung bedroht, der eine Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner Russland unterstellt wurde, begannen erste Deportationen aus den Grenzregionen im Osten. Am 24. April 1915 kam es zu den Verhaftungen armenischer Intellektueller in Istanbul. Die meisten wurden wie Daniel Varoujan ermordet. Am 27. Mai gab der osmanische Innenminister Talaat Pascha schließlich den offiziellen Befehl zur Deportation der Armenier. Im Laufe des Juni, Juli und August wurden insgesamt rund 1,5 Millionen Armenier und einige Hunderttausend ebenfalls christliche Syrer aus Ostanatolien nach Syrien und in den Irak getrieben, wo viele verdursteten oder von osmanischen Truppen massakriert wurden. Die Vertreibung wird in der türkischen Geschichtsschreibung zynisch als Maßnahme zum Schutz vor inneren Feinden dargestellt.
Die grauenhaften Fotos, die der Sanitätsoffizier Armin T. Wegener 1916 in Anatolien machte, strafen die Darstellung der Lüge. 1915 kam er mit einer deutschen Sanitätsexpedition in das Osmanische Reich. 1916 war Wegner als Sanitätsoffizier unter Feldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz in Ostanatolien tätig. Verdurstende Frauen und Kinder, ausgemergelte Leichen und Haufen von abgeschlagenen Köpfen belegen das Grauen des Völkermordes. Die Fotografenfamilie Dildilian gelangte 1918 in Merzifon in den Besitz von belichteten Glassplatten, die deutsche Soldaten in ihrem Geschäft abgegeben hatten, um Abzüge machen zu lassen. Die Fotografien zeigen deutsche und osmanische Soldaten, die fröhlich auf einem Massengrab sitzen. Überall liegen menschliche Schädel herum. Armin T. Wegener musste die Platten heimlich aus dem Osmanischen Reich schaffen. Seine Hoffnung, die kaiserliche Diplomatie würde Einfluss auf die Verbündeten am Bosporus nehmen, wurde ebenso enttäuscht wie die Erwartung, dass sich die Siegermächte nach Kriegsende für die armenische Bevölkerung einsetzen würden.
Der Führer der Jungtürken, Talat Pascha, der den Befehl zur Verhaftung und Deportation der Armenier 1915 erteilt hatte, erhielt in Deutschland Exil. Ein Überlebender spürte ihn in Berlin auf und erschoss ihn. Seine sterblichen Überreste wurden am 25. Februar 1943 unter militärischen Ehrenbezeugungen von Berlin nach Istanbul überführt und dort am Abide-i-Hürriyet, dem Denkmal der jungtürkischen Revolution, beigesetzt.
Sein Grab liegt ganz in der Nähe des armenischen Friedhofs, auf dem der vor drei Jahren getötete Sevag Şahin Balıkçı begraben liegt und ein Mahnmal an den ermordeten Dichter Daniel Varoujan erinnert.