Die Jüdische Autonome Oblast Birobidschan

Stalins Zion

An der chinesischen Grenze zwischen den Flüssen Bira und Bidschan entstand in den dreißiger Jahren ein jüdischer Staat auf sowjetischem Staatsgebiet. Die Regierung war überzeugt, dass nur der Sozialismus »die jüdische Frage« lösen könne und rief am 7.  Mai 1934 die Jüdische Autonome Oblast aus. Die Bewohner von Birobidschan sollten durch Arbeit in der Landwirtschaft zu guten Proletariern werden.

Während sich 1931 im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina die jüdische Untergrundgruppe Irgun formierte, um mit Waffengewalt einen jüdischen Staat zu erkämpfen, träumte der jüdische Kommunist Otto Heller in Deutschland von einem ganz anderen Zion: »Der Palästinatraum«, schrieb er, »wird längst schon zur Historie gehören, wenn in Birobidschan Automobile, Eisenbahn, Dampfer fahren, die Schlote gewaltiger Fabriken rauchen und die Kinder einer freien jüdischen Arbeiter- und Bauerngeneration in blühenden Gärten herumspringen werden.« So prophezeite er es in seinem Buch »Der Untergang des Judentums. Die Judenfrage, ihre Kritik, ihre Lösung durch den Sozialismus«. Die Geschichte verlief bekanntlich anders; das ominöse »Birobidschan«, von dem Heller träumte, ist jedoch tatsächlich Realität geworden, als ein von Stalin geplantes »rotes Palästina« in der russischen Taiga, ein jüdisches Gebiet, in dem es allerdings keine blühenden Gärten und keine Sicherheit gab, sondern zum Teil katastrophale Bedingungen herrschten.
Die »Lösung der Judenfrage« sollte durch die Assimilation in der sozialistischen Landwirtschaft vorangetrieben werden. Bis die Religionen irgendwann endgültig überwunden wären, da träumten Heller und Stalin den gleichen Traum, benötigte das Judentum einen eigenen Staat oder zumindest etwas Ähnliches. So wurde am 7. Mai 1934 ein »rotes Zion« auf dem Gebiet und unter Kontrolle der Sowjetunion gegründet. »Birobidschan betrachten wir als einen jüdischen nationalen Staat«, erklärte der damalige sowjetische Staatspräsident Michail Kalinin 1934, also 14 Jahre vor der Gründung des Staates Israels. Birobidschan kann man kaum als »Staat« bezeichnen, vielmehr handelt es sich um eine Autonome Provinz, dennoch ist es höchst bemerkenswert, dass dieses seltsame Gebilde an der sibirisch-chinesischen Grenze, mit Jiddisch als Amts- und Geschäftssprache, jüdischen Schulen, Theatern und Zeitungen bis heute existiert. Die, laut offizieller Bezeichnung, »Jüdische Autonome Oblast« mit dem in der Stadt Birobidschan angesiedelten Verwaltungszentrum verfügt über ein Gebiet, das fast doppelt so groß ist wie das heutige israelische Staatsgebiet. Allerdings leben dort kaum mehr Juden, wer konnte, übersiedelte spätestens ab 1989 nach Israel. Auch zuvor verschlug es nur wenige der über zweieinhalb Millionen sowjetischen Juden in die 5 000 Kilometer östlich von Moskau gelegene Region, die ungünstige infrastrukturelle und klimatische Bedingungen bietet. Juri Larin, ein jüdischer Volkswirtschaftler, berichtete nach einem Besuch in Birobidschan vom ewig gefrorenen Unterboden, von Sumpfgebieten und der ständigen Insektenplage, es gebe Überschwemmungen und langandauernde Fröste von minus 40 Grad. Auch kulturell sei die Region isoliert. Die sojwetische Propaganda zeichnete dagegen das Bild einer aufblühenden Provinzlandschaft. In dem Klezmer-Lied »Dos Lid fun Birobidshan« heißt es: »Durch dichte Wälder/fährt fröhlich eine Bahn./Neue Juden kommen/nach Birobidschan./Und auf frischen Feldern/Stroh für ein neues Dach:/Nie zuvor haben Juden/so sehr gelacht.«
Dieses Bemühen, ein positives Bild der Jüdischen Autonomen Oblast zu zeichnen, scheint Stalins judenfeindliche Politik gegenüber den »wurzellosen Kosmopoliten« zunächst zu widersprechen. »Korenizacija« (Einwurzelung) aber ist das Prinzip der sowjetischen Nationalitätenpolitik jener Jahre. Es ging dabei um die »Heranbildung eines einheimischen Proletariats, Rekrutierung und Einbindung von Nicht-Russen in den Staats- und Propagandaapparat«, schreibt die Historikerin Antje Kuchenbecker in ihrem 2000 im Metropol-Verlag erschienenen Buch »Zionismus ohne Zion«: »Im Falle der jüdischen ›korenizacija‹ ging es um den Aufbau einer sowjet-jüdischen ›Er­satz‹-Kultur auf Basis des Jiddischen.« Ein jüdischer Staat sollte zur Proletarisierung des Judentums beitragen und die Volkskultur stärken, insbesondere die jiddische Sprache, die in Abgrenzung zum Hebräischen, als Sprache des Klassenfeindes, gefördert wurde.
Der Versuch, die jüdische Bevölkerung in bestimmten Regionen anzusiedeln, war nicht neu. Schon 1791 schränkte Katharina II. nach der Eroberung großer Teile Polens und dem damit verbundenen Anwachsen der jüdischen Bevölkerung im Russischen Reich deren Bewegungsfreiheit ein. Über 90 Prozent der mehr als fünf Millionen Juden wurden in einen sogenannten Ansiedlungsrayon verbannt, ein 15 Provinzen umfassendes Gebiet von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Neben der Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Juden wurde auch ihr Zugang zu höheren Schulen begrenzt, viele Berufe blieben ihnen verwehrt, nur wenige durften Land besitzen. Hinzu kam der sich in Pogromen entladende Antisemitismus der Bevölkerung, oftmals toleriert, wenn nicht gar gefördert, von der Staatsführung. Zwischen 1880 und 1914 verließen daher über zwei Millionen Juden das Russische Reich Richtung Westen. Zionisten wie Leon Pinsker blieben und versuchten, die Ursache des Hasses zu ergründen. Resigniert formulierte er: »Die Judophobie ist eine Psychose. Als Psychose ist sie hereditär, und als eine seit 2000 Jahren vererbte Krankheit ist sie unheilbar.« Einzig ein jüdischer Staat erscheint ihm als sichere Zuflucht vor dem Antisemitismus.
Auch wenn der Antisemitismus nach der Revolution von 1917 fortdauerte – bis 1921 fanden über 1 200 Pogrome statt, bei denen 60 000 Juden starben –, kehrte in den jüdischen Gemeinden der postrevolutionären Sowjetunion ein wenig Ruhe ein: Die Juden besaßen plötzlich die gleichen bürgerlichen Rechte wie der Rest der Bevölkerung und erhielten eigene Schulen und Verwaltungen. Ein Ende der sozialen und wirtschaftlichen Diskriminierung schien greifbar. Robert Weinberg schreibt in seinem 2003 im Verlag Neue Kritik erschienenen Buch »Birobidschan – Stalins vergessenes Zion«: »Die Bolschewiki engagierten sich für die Rechte der nationalen und ethnoreligiösen Minderheiten, und die Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre war vergleichsweise liberal: Alle nationalen und ethnischen Kulturen wurden toleriert, Religionsausübung allerdings wurde bekämpft.« Auf der einen Seite stand also die Unterdrückung der jüdischen Religion und die Bekämpfung des Zionismus als bürgerlicher Nationalismus, auf der anderen Seite wurde der Aufbau staatlicher jüdischer Einrichtungen und verschiedener Projekte ­betrieben, um Juden als Landwirte zu »verwurzeln«. Arno Lustiger nennt dies einen »innersowjetischen Pseudozionismus«, der pragmatische Hauptgrund der Bemühungen sei nicht die jüdische Selbstbestimmung, sondern das Ziel gewesen, all jene verarmten Juden zu versorgen, die spätestens 1917 ihre Existenzgrundlage verloren hatten.
Auf der Halbinsel Krim lebten zu dieser Zeit etwa 40 000 Juden und für kurze Zeit schien diese Region dafür bestimmt zu sein, den »jüdischen neuen Menschen« hervorzubringen, die »Luftmenschen« in Arbeiter und Bauern zu verwandeln. Die Regierung gründete 1924 das Staatliche Komitee zur Landansiedelung werktätiger Juden (Komerd), schenkte jüdischen Siedlern auf der Krim 342 000 Hektar Land, führte Jiddisch als Amts- und Geschäftssprache ein und stellte Fördergelder zum Aufbau von landwirtschaftlichen Betrieben bereit. Als es jedoch zu Ausschreitungen gegen die jüdischen Bewohner der Krim durch die übrige Bevölkerung kam, schwenkte die Regierung um: Nach und nach wurden die Fördergelder gestrichen und 1932 die jüdische Ansiedelung auf der Krim unterbunden.
Denn seit 1928 stand ein neues Siedlungsgebiet im Mittelpunkt: die Region um Birobidschan. Das 1859 annektierte, nur dünn besiedelte Gebiet an der chinesischen Grenze versprach, wie Arno Lustiger schreibt, drei Probleme gleichzeitig zu lösen: »Eine Grenzregion wurde besser gesichert, und dem Streben vieler Juden nach einem ›eigenen‹ Territorium konnte begegnet werden, ohne in Konflikte mit einer bereits ansässigen Bevölkerung zu geraten. Und nicht zuletzt würde ein Scheitern des Projekts endgültig als Argument dienen können, alle Kolonisationspläne – etwa für die Krim – zurückzuweisen.«
So begann in den späten zwanziger Jahren eine Kampagne, um die Juden nach Birobidschan zu locken: »Errichtet ein sozialistisches Birobidschan« und »Festigt die großen Errungenschaften der Leninschen Nationalitätenpolitik« verkündeten Plakate in der gesamten Sowjetunion, Spielfilme wie der Propagandastreifen »Glückssucher« kündeten vom neuen jüdischen Paradies und ein auf den Namen »Birobidshanez« getauftes Flugzeug legte in zwei Wochen 5 000 Kilometer zurück und verteilte Flugblätter über dem ganzen Land. Die Regierung vergab günstige Kredite, kam für die Reisekosten der Siedler auf und sorgte sogar für die Verpflegung auf der Reise. »Allerdings«, so Robert Weinberg, »bereiteten die Behörden die neuen Siedler kaum auf die Strapazen vor, die sie in der unbekannten und unwirtlichen Region erwarteten. Auch sorgten sie weder für menschenwürdige Unterkünfte noch für Lebensmittel, medizinische Versorgung und angemessene Arbeitsbedingungen.« So brach von den rund 50 000 Juden, die in den ersten zehn Jahren nach Birobidschan kamen, etwa die Hälfte den Aufenthalt wieder ab. Tragisch vor allem für kommunistische Juden aus den USA, Argentinien und einigen sogar aus Palästina, von denen bis Mitte der Dreißiger über 1 000 in die Sowjetunion aufgebrochen waren, um den Aufbau eines sozialistischen jüdischen Staates zu unterstützen. Sie wurden Zeuge der schizophrenen Politik Stalins zur »Lösung der Judenfrage«, die den ersten Niedergang der Region einläutete. »Gegen Ende der dreißiger Jahre galt Stalins Hauptinteresse dem russischen Patriotismus; Maßnahmen, die den kulturellen Ausdruck der einzelnen nationalen und ethnoreligiösen Minoritäten befördern sollten, blieben auf der Strecke«, so Weinberg.
Exemplarisch zeigt sich diese Entwicklung an der Lebensgeschichte von Josef Liberberg, dem Vorsitzenden des Jüdischen Autonomen Gebiets. Der Geschichtsprofessor, der sich vor allem mit jüdischer Arbeitergeschichte beschäftigte, förderte in Birobidschan den Aufbau von Schulen und kulturellen Einrichtungen. 1936 wurde er zusammen mit der gesamten Leitungsebene Birobidschans festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, sämtliche jüdischen Kultureinrichtungen in das Autonome Gebiet holen zu wollen, um dort ein zweites Palästina zu errichten – wenige Jahre zuvor war genau das noch der offizielle Plan für diese Region. Zusammen mit 45 weiteren Mitgliedern der jüdischen Verwaltung wurde Liberberg 1937 hingerichtet. Im gleichen Jahr wurden in Birobidschan zwei russische Bauarbeiter, die Juden verbal beleidigt hatten, zu zwei Jahren Haft verurteilt. Absurde wie auch tragische Verhältnisse: Während die Verwaltung Birobidschans den mörderischen Launen und den Plänen Stalins für das russische Judentum ausgeliefert war, wurden in der Region die vermutlich weltweit schärfsten Gesetze gegen Antisemitismus gesetzlich festgeschrieben und umgesetzt.
Erstaunlicherweise blieb der Status der Region als Jüdisches Autonomes Gebiet weiterhin erhalten und nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Zahl der jüdischen Bewohner zu, erreichte 1948 ihren Höchstwert von 48 000.Viele heimatlos gewordene sowjetische Juden waren darunter, aber auch etwa 100 jüdische Waisenkinder aus den USA, die durch ein amerikanisches Solidaritätskomitees für Birobidschan in die Region gebracht wurden. Der Ehrenvorsitzende des Komitees war kein Geringerer als Albert Einstein – nicht die letzte Obskurität in der seltsamen Geschichte der Oblast. Die sowjetische Führung zeigte wiederum Interesse, der Region neuen Aufschwung zu ermöglichen und ließ sogar den Bau einer Synagoge zu – die allerdings zehn Jahre später einem Brand in einer nahegelegenen Fabrik zum Opfer fiel. Jüdische Theater wurden gegründet, es entstand ein Museum für jüdische Geschichte, jiddische literarische Zirkel gründeten sich. Diese Entwicklung endete 1948 abrupt, als Stalin seine antisemitische Kampagne gegen »wurzellose Kosmopoliten« ausrief. Jüdische Intellektuelle und Journalisten auch in Birobidschan wurden verhaftet, Jiddisch-Unterricht wurde verboten, Theater, Museen und Kinos wurden geschlossen, die 30 000 Bände umfassende Judaica-Sammlung der Bibliothek verbrannt, der Kontakt mit Juden aus anderen Ländern wurde unterbunden. Dafür wurde versucht, nicht-jüdische Siedler in die Region zu locken. Von dieser Entwicklung erholte sich die Region auch nach Stalins Tod 1953 nicht mehr. 1959 waren weniger als neun Prozent der Bevölkerung Juden, zaghafte kulturelle Aktivitäten gab es erst wieder ab Mitte der Sechziger. 1984 wurde dann zum 50. Jubiläum der Jüdischen Autonomen Oblast eine neue Synagoge erbaut, die sich die Gemeinde allerdings mit den ­Adventisten vom Siebenten Tag teilen musste. Erst 2004 erhielt Birobidschan wieder eine ­eigene Synagoge – die erste in der Geschichte der Sowjetunion, die mit Hilfe staatlicher Mittel finanziert wurde.
Nach 1989 versuchte die jüdische Verwaltung, das kulturelle Leben wieder stärker zu fördern, auch um den Autonomiestatus in der Umbruchzeit nicht zu gefährden. Jiddisch wurde wieder als Wahlfach an Schulen angeboten, es entstanden jüdische Sportvereine, Sommercamps für ausländische Juden und eine zionistische Jugendgruppe. All das änderte jedoch nichts daran, dass die Möglichkeit, nach Israel oder Westeuropa auszureisen, von den meisten Birobidschaner Juden genutzt wurde. 2012 waren nur noch 1 600 der insgesamt 175 000 Einwohner jüdisch. 2007 machte die jüdische Gemeinde Birobidschans 2007 auf sich aufmerksam, als sie verkündete, den weltweut größten Chanukka-Leuchter erbaut zu haben. Der Rekord wurde, alles andere wäre in der tragischen Geschichte Birobodschans verwunderlich, nicht anerkannt.
Die verbliebenen Juden hoffen trotz solcher Rückschläge den Status als Autonomes Verwaltungsgebiet behalten zu können. Seit einigen Jahren wird staatlicherseits diskutiert, die Oblast in die Verwaltungsregion Chabarowsk einzugliedern. Das wäre das Ende eines von vornherein zum Scheitern verurteilten Experiments, in dem sich auch die gesamte Tragik des russischen Judentums spiegelt.

Karl Schlögel/Karl-Konrad Tschaepe (Hg.): Die Russische Revolution und das Schicksal der russischen Juden. Matthes & Seitz, Berlin 2014, 640 S., 49,90 Euro